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Einzelinteresse und Gesamtinteresse
Teil I von:
Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften.
Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse Teil I, 1976
Vorbemerkung:
Der folgende Text enthält den ersten, philosophischen Teil meiner
Dissertation
aus dem Jahr 1976 mit dem Titel
"Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften. Tauschprinzip -
Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse."
Teil I ist dort betitelt: "Allgemeine Grundlagen einer normativen Methodologie".
Im
Klett-Cotta-Verlag erschien 1979 eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieser Arbeit unter
dem geänderten Titel:
"Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse. Zur Methodologie
normativer Ökonomie und Politik".
Dieses Buch ist als PDF-Datei hier verfügbar.
Diejenigen Paragraphen, die in der Buchfassung nicht enthalten sind, sind im
folgenden Inhaltsverzeichnis mit einem grünen Sternchen(*)
gekennzeichnet.
In dem vorliegenden Text geht es um die Möglichkeit, auf Fragen nach dem, was
sein soll, allgemeingültige Antworten zu geben.
Dazu muss ein Kriterium bestimmt
werden, anhand dessen man über die Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen entscheiden
kann analog zum Wahrheitskriterium für empirische bzw. positive Aussagen.
Das in diesem ersten Teil begründete Kriterium wird im Folgenden dann angelegt
an:
Einstimmigkeits-Regeln und
Status-quo-Klauseln ** (68 K) (Teil II, Kapitel 12)
Das Modell der Marktwirtschaft. Darstellung und Kritik *** (239 K)
(Teil II, Kapitel 13-17) und
Das Mehrheitsprinzip *** (349 K)
(Teil III, Kapitel 17-24).
Die Fußnoten wurden in den Text eingearbeitet. Sie sind in eckige Klammern
gesetzt und außerdem an der Kursivschrift zu
erkennen. Die ursprünglichen Seitenzahlen wurden in geschweifte Klammern
gesetzt und in den Fließtext eingearbeitet.
Zur Literaturliste am Ende von
Teil III
***************************************************************************
Eberhard Wesche (1976):
"Zur Methodologie der normativen
Sozialwissenschaften.
Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse."
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung Seite 1
Teil I: ALLGEMEINE GRUNDLAGEN EINER NORMATIVEN METHODOLOGIE
1. Kapitel
Die Notwendigkeit normativer Wissenschaft
§ 1 Die Präzisierung der Fragestellung Seite 9
§ 2 Die Relevanz der Fragestellung
12
§ 3 Mögliche Einwände gegen den Versuch normativer
Wissenschaft
1.
Der positivistische Einwand 13
2.
Der subjektivistische Einwand 18
3.
Der deterministische Einwand 20*
4.
Der "realistische" Einwand 22*
2. Kapitel
Der Streit um Normen und ihre Gültigkeit
§ 4 Normen und Werturteile als Willensinhalte 25
§ 5 Normen als Entscheidungen in Interessenkonflikten 34*
§ 6. Geltungsformen von Normen 37*
1. Die Existenz einer Norm 37
2. Die Gültigkeit einer Norm 38
3. Universale Gültigkeit und partikulare
Rationalität von Normen 43
3. Kapitel
Das Intersubjektivitätsgebot der normativen
Methodologie
§ 7 Das Intersubjektivitätsgebot 47
§ 8 Die Begründung des Intersubjektivitätsgebots 50*
§ 9 Beweggründe und Vernunftgründe
52
§ 10 Möglichkeiten des Dialogs jenseits der Argumentation
56*
§ 11 Das HOBBESsche "Friedensgebot" 58*
§ 12 Die monologische Auffassung von
Gültigkeit 60
§ 13 De Berufung auf
den Willen überindividueller Subjekte 62
§ 14 Pauschale
Unmündigkeitserklärung und totaler Ideologieverdacht
63
§ 15 Unzulässige
Personalisierung der Auseinandersetzung 64
§ 16 Das Sanktionsverbot 66
§ 17 Das Begründungsgebot 68*
§ 18 Das Gebot des Bemühens um
wechselseitige Verständlichkeit 70*
§ 19 Das Überredungsverbot 73
§ 20 Das Gebot der
Öffentlichkeit 75*
§ 21 Die institutionelle
Organisation von Argumentationen 78*
§ 22 Das Intersubjektivitätsgebot für alle eingebrachten
Argumente 80*
§ 23 Unzulässige empirische Argumente 82*
§ 24 Unzulässige logische Schlüsse 85*
1.
Der naturalistische Fehlschluss 86*
2.
Der normative Essentialismus und die
Verwirklichung des Wesens 87*
3.
Der normative Historizismus und die
historische Notwendigkeit 91*
4. Kapitel
Weitere Gesichtspunkte für die Auswahl von Normen
§ 25 Die Unzulässigkeit
widersprüchlicher Normen 94*
§ 26 Die Notwendigkeit
präziser und eindeutiger Normen 96*
§ 27 Die Notwendigkeit
gehaltvoller Normen 98*
§ 28 "Sollen" setzt "Können" voraus 101*
5. Kapitel
Eigeninteresse und Verallgemeinerbarkeit als Kriterien der Gültigkeit
§ 29 Konsensfähigkeit von Normen
und Übereinstimmung der Eigeninteressen 104
1. Die These
vom Eigeninteresse aller an einer normativen Regelung 106
2.
Vertragstheorie und Übereinstimmung der Eigeninteressen 108
3. Vertraglicher
Konsens und Sanktionsverbot 111
§ 30 Konsensfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit von
Normen 115
1.
KANTs "Kategorischer Imperativ"
115
2. Fehlende
Anwendbarkeit sich selbst aufhebender Normen 119
3. Die "Goldene Regel" 121
6. Kapitel
Das Solidaritätsprinzip
§ 31 Das Solidaritätsprinzip
123
§ 32 Erläuterungen zum
Solidaritätsprinzip
125
§ 33
Kein unmittelbares Kriterium des Handelns 130
§ 34
Solidaritätsgebot und das Gebot der Personunabhängigkeit 132
§ 35
Solidaritätsgebot und HAREs Prinzip der "Universalisierbarkeit" 134*
7. Kapitel
Die Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem
Gesamtinteresse
§ 36 Allgemeines zur Nutzenbestimmung 140
1. Erläuterung der Nutzenterminologie 140
2. Anwendbarkeit und Akzeptierbarkeit des Nutzenmaßstabs 144a
§ 37 Kritik einer Beschränkung auf eine nur
ordinale
Nutzenmessung 145
1. Die Bestimmung der individuellen Nutzen durch Wahlhandlungen 145
2. Die Mängel ordinaler Nutzenmessung 147
3. ARROWs "Allgemeines Möglichkeits-Theorem"
155
§ 38 Formale Aspekte der kardinalen Nutzenmessung 165
1. Nutzenmessung auf einer Intervall-Skala
165
2. Die Wahl des Nullpunktes der Nutzenskala
170
3. Die Bestimmung der
Nutzeneinheit 172
4. Der Gesamtnutzen als Summe
der individuellen Nutzen
173
§ 39 Der interpersonale Nutzenvergleich 175
1." Sich-Hineinversetzen in die Lage des andern"
175
2. Interpersonaler Nutzenvergleich und Introspektion
187
3. Möglichkeiten einer weiteren Konkretisierung der Nutzenmessung
190
8. Kapitel
Verfahren einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung
und ihre Kritik
§ 40 Präferenzschwellen als interpersonal vergleichbare
Nutzeneinheiten 199*
§ 41
Der spieltheoretische Nutzenbegriff 201*
§ 42
Die Wahl der Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen
bei teilweiser Vergleichbarkeit d. Nutzenmaße
206*
§ 43
Gesamtnutzen und Auslosung der
sozialen Positionen: HARSANYIs Konstruktion "ethischer Präferenzen"
208
§ 44
Nutzenmessung durch geopferte Gütermengen 213*
§ 45
Nutzenmessung durch geopferte Geldmengen 221*
§ 46 Geopferte Zeit als Nutzenmaßstab 227*
1.
Wartezeit als Nutzenmaßstab 228*
2.
Arbeitsbereitschaft als Nutzenmaß 232*
3.
ZINNs Begründung für die Zeit als Nutzenmaß 235*
9. Kapitel
Einwände und Ergänzungen zum Prinzip des maximalen Gesamtnutzens
§ 47
Zum logischen Status von Nutzenbestimmungen
239
§ 48
Die Abhängigkeit der Interessen von
sozialen Bedingungen
241
§ 49
Gibt es unzulässige individuelle
Interessen? 245
§ 50 Harmonisierung der Interessen durch
Erziehung und Institutionen 248*
§ 51
Die Maximierung des Gesamtnutzens und austeilende Gerechtigkeit .......................................................... 251
§ 52
Der Übergang zu individualistischen Entscheidungs-Systemen 263
§ 53 Sanktionsfreiheit als
Qualifikationsbedingung der Interessenäußerung 267
§ 54 Informiertheit als
Qualifikationsbedingung der Interessenäußerung 270
§ 55
Fiktion und Wirklichkeit des Willens in
psychologischen Theorien
274*
1. Die Entscheidung in der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie 275*
2. Die Entscheidung in lernpsychologisch orientierten Theorien 277*
§ 56
Psychischer Konflikt und qualifizierte
Interessenartikulation 280*
1. Hemmung
280
2. Verführung und Sucht 282
§ 57
Der qualifizierte Wille als Kriterium
des Eigeninteresses 283
§ 58
Qualifizierte Interessenartikulation in individualistischen Systemen
285*
§ 59
Unterscheidung zwischen Korrektur und Änderung des
Willens 287*
§ 60 Unaufrichtigkeit bei der individuellen
Interessenäußerung 289*
1.
Eigeninteresse als Motiv zur unaufrichtigen
Interessenäußerung 290*
2.
Die Überprüfung der Aufrichtigkeit von
Interessenäußerungen 291*
§ 61
Prinzipielles Fehlen eines qualifizierten Willens
296*
§ 62 Die Rekonstruktion des
Interesses durch eine Bedürfnistheorie 297*
1.
Die intuitive Rekonstruktion fremder
Interessen 297*
2.
Die Betroffenheit des Individuums von
Entscheidungen 298*
3.
Kenntnisse der menschlichen
Bedürfnisstruktur 301*
4. Das Problem der Gewichtung verschiedener Bedürfnisse
304*
5.
Die Annahme einer Hierarchie der
Bedürfnisse 305*
6.
Methodologische Probleme der
Bedürfnistheorie 306*
11. Kapitel
Verfahren zur Vereinfachung der Interessenermittlung
§ 63
Die Notwendigkeit vereinfachter
Interessenermittlung 313*
§ 64
Die Abgrenzung dezentralisierter Entscheidungsbereiche
315*
§ 65
Die Beschränkung auf den Kreis der Betroffenen 316*
§ 66 Die Einschaltung von Beratern 319*
§ 67
Die Ernennung von Interessenvertretern 321*
§ 68
Die Aufstellung genereller Normen 322*
***
Zum Literatur-Verzeichnis (am Ende von Teil III: Das Mehrheitsprinzip)
Textanfang
{-1-}
Die Geschichte der Sozialwissenschaften ist begleitet von
ständigen Auseinandersetzungen um die Aufgaben sozialwissenschaftlicher
Erkenntnis und um die geeigneten Methoden zur Lösung dieser Aufgaben. Dabei hat
in diesen Auseinandersetzungen das Modell der erfolgreicheren
Naturwissenschaften eine besondere Anziehungskraft ausgeübt. Dies hat im Laufe
dieses Jahrhunderts zu einer immer stärkeren Durchsetzung des
erfahrungswissenschaftlichen Wissenschaftsprogramms auch in den
Sozialwissenschaften geführt. Den als positive Wissenschaften verstandenen
Sozialwissenschaften wurde als Aufgabe gestellt, das, was ist, zu beschreiben
und im realen Geschehen Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, mit
deren Hilfe die Ursachen sozialer Erscheinungen erkannt sowie zukünftige
Wirkungen vorhergesagt werden können.
Die Durchführung dieses Wissenschaftsprogramms führte zu
energischen Bemühungen, alle darüber hinausgehenden Fragestellungen - vor allem
solche normativer Art - aus den positiv verstandenen Sozialwissenschaften
auszuscheiden: die Sozialwissenschaften sollten "werturteilsfrei" sein, sie
sollten keine Handlungsanleitungen geben, sondern sie sollten die empirische
Informationsgrundlage des Handelns verbessern.
Wie immer man die Ergebnisse der streng
erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Sozialwissenschaften auch beurteilen mag,
so bleibt doch als Problem, was mit den normativen Fragestellungen wird, nachdem
sich die Wissenschaft - zumindest in ihrer erfahrungswissenschaftlichen Form -
als unzuständig für deren Beantwortung erklärt hat. Denn die überspitzt
positivistische {-2-} Position, dass Fragen nach dem, was sein soll, "sinnlos"
sind und dass Werturteile nur ideologische Pseudo-Aussagen darstellen, wird
heute kaum noch jemand aufrechterhalten wollen, vor allem, seit klargestellt
ist, dass das erfahrungswissenschaftliche Programm selber als System
methodologischer Regeln normativen Charakter besitzt.
Die vorliegende Arbeit macht nun den Versuch, die
normativen Fragestellungen in den Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis
zurückzuholen und konstruktive Ansätze zum Aufbau einer Methodologie normativer
Wissenschaften zu entwickeln, ohne jedoch hinter den erreichten Diskussionsstand
der modernen Wissenschaftstheorie zurückzufallen. Die Arbeit versucht
nachzuweisen, dass und in welcher Weise über die Antworten auf normative Fragen "wissenschaftlich" diskutiert werden kann.
Dabei konnte auf wichtigen
Vorarbeiten zu einer "nach-positivistischen" praktischen Philosophie aufgebaut
werden. Auch historische Versuche zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Ethik
erwiesen sich - nach entsprechenden Modifikationen - als brauchbar im Rahmen
einer Lehre von den Methoden zur allgemeingültigen Beantwortung normativer
Fragen.
Um mögliche Missverständnisse auszuschließen, soll hier von
vornherein betont werden, dass es nicht darum geht, eine falsche Alternative
zwischen positiver Sozialwissenschaft oder normativer Sozialwissenschaft zu
propagieren. Es soll auch für die normativen Fragestellungen kein höherer Rang
als für empirische Forschungen beansprucht werden. Sowohl die Fragen nach dem,
was ist, also auch die Fragen nach dem, was sein soll, haben ihren Sinn und ihre
Berechtigung. Sie stehen zueinander nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz,
sondern der wechselseitigen Ergänzung. {-3-}
Beide Frageebenen sind vielfältig miteinander verzahnt und
setzen sich gegenseitig voraus, wie im Verlauf der Arbeit noch deutlich werden
wird. Wenn sich z. B. normative Fragen um das Problem drehen, welche
Entscheidungen angesichts mehrerer Alternativen getroffen werden sollen, so
bedarf es der empirischen Wissenschaften, um den Bereich des Möglichen
abzustecken und über die Wirkungen und Nebenwirkungen der einzelnen Alternativen
zu informieren.
Die Konstruktion einer Scheinalternative zwischen
empirischen und normativen "Ansätzen" in den Sozialwissenschaften kann deshalb
einem Erkenntnisfortschritt auf beiden Fragebereichen nur hinderlich sein.
Anstatt sich gegenseitig die Berechtigung der jeweiligen Fragestellung zu
bestreiten, sollte sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung darauf
konzentrieren, wie die gestellten Fragen allgemeingültig beantwortet werden
können.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine
methodologische Arbeit. Sie will nicht die Frage beantworten, durch welche
inhaltlichen Normen ein bestimmter Bereich menschlichen Handelns geregelt werden
soll, sondern sie will die Methode klären, mit deren Hilfe sich geeignete
Normen für verschiedenste Bereiche bestimmen lassen. Der Aufbau einer derartigen
Methodologie erfolgt dabei in mehreren Schritten.
Nach einer Vorklärung der normativen Problemstellung werden
in einem ersten Schritt die allgemeinen Bedingungen jeder wissenschaftlichen
Argumentation entwickelt, die auch für die Beantwortung normativer Fragen
maßgebend sind.
Diese allgemeinen Voraussetzungen der Argumentation sind
allerdings als Gültigkeitskriterium für Normen {-4-} noch nicht hinreichend.
Deshalb wird in einem nächsten Schritt versucht, ein Gültigkeitskriterium für
Normen zu finden, entsprechend dem erfahrungsbezogenen Wahrheitskriterium in den
empirischen Wissenschaften. In diesem Zusammenhang wird die Diskussion darüber
aufgenommen, wie sich so etwas wie ein 'Gemeinwohl' bzw. ein Gesamtinteresse
bestimmen lässt und wie sich dies zu den Interessen der Individuen verhält. Eine
Berücksichtigung der individuellen Interessen setzt allerdings voraus, dass die
individuellen Interessen intersubjektiv bestimmt und gewichtet werden können.
Mit diesem Problem, das in der Ökonomie als Problem der
Messbarkeit und interpersonalen Vergleichbarkeit des Nutzens bekannt ist,
befasst sich der Rest des ersten, allgemeinen Teils. Dabei wird dem Problem der
möglicherweise mangelhaften Erkenntnis der eigenen Interessen durch die
Individuen besonderer Raum gewidmet, weil dies für alle kollektiven
Entscheidungs-Systeme von grundlegender Bedeutung ist, in denen die Bestimmung
der individuellen Interessen den jeweiligen Individuen selber überlassen bleibt.
Anhand der im ersten Teil gewonnenen normativen Kriterien
werden im Folgenden dann das Tauschprinzip und das Mehrheitsprinzip als zwei
wichtige Grundformen kollektiver Entscheidungsfindung bzw. Normsetzung
analysiert und beurteilt.
Der zweite Teil behandelt das Tauschprinzip, das auf
den Institutionen des Privateigentums und der Vertragsfreiheit aufbaut. Dabei
wird von der Frage ausgegangen, inwiefern ein derartiges
Eigentum-Vertrags-System als eine Art Einstimmigkeitsregel interpretiert werden
kann. Weiterhin werden die Probleme der interessemäßigen Abgrenzbarkeit der
Eigentumsbereiche und der ungleichen Verhandlungsmacht analysiert. In diesem
Zusammenhang erfolgt eine Auseinandersetzung {-5-} mit der paretianischen
Wohlfahrtsökonomie sowie dem Modell einer privatkapitalistischen Marktwirtschaft
unter Bedingungen vollkommener Konkurrenz.
Der dritte Teil behandelt das Mehrheitsprinzip als
Verfahren der kollektiven Normsetzung, wobei besonderes Gewicht auf die
Auswirkungen von Koalitionsbildung und strategischem Abstimmungsverhalten gelegt
wird. Im Mittelpunkt der normativen Beurteilung steht hier das Problem des
Schutzes einer stark betroffenen Minderheit vor den Beschlüssen der Mehrheit.
Sowohl Tauschprinzip als auch Mehrheitsprinzip werden dabei daraufhin
untersucht, inwiefern sie geeignete Verfahren zur Annäherung an das im ersten
Teil näher bestimmte Gesamtinteresse darstellen.
Wie aus der Skizzierung des Gedankenganges ersichtlich ist,
wird in der Arbeit der Versuch gemacht, nicht bei den erkenntnistheoretischen
Grundlagenproblemen einer normativen Wissenschaft stehen zu bleiben, sondern
vorzudringen bis zu den zentralen normativen Fragen nach der Gestaltung der
gesellschaftlichen Ordnung. Denn nur wenn aus den methodischen Überlegungen
letztlich Kriterien für die Beantwortung derjenigen normativen Fragen gewonnen
werden können, in denen sich die wichtigen sozialen Konflikte der Zeit
ausdrücken, wird der Bereich der Unverbindlichkeit verlassen.
Dabei kann mit dieser Arbeit jedoch nur eine gewisse
Annäherung an dieses Ziel erreicht werden, da solche grundlegenden Überlegungen
notwendigerweise auf einem sehr abstrakten Niveau verlaufen müssen. Diskutiert
werden hier noch nicht die konkreten Institutionen-Systeme bestimmter
Gesellschaften und die in ihnen ablaufenden Prozesse der Normsetzung, sondern es
geht {-6-} hier noch um kollektive Entscheidungsregeln bzw. um diesen Regeln
entsprechende hochgradig abstrakte Modelle kollektiver Entscheidungsfindung,
wobei von der Beschaffenheit der zu normierenden sozialen Bereiche und von der
Beschaffenheit der Individuen weitgehend abgesehen wird.
Da das Schwergewicht auf der Anerkennbarkeit der
kollektiven Entscheidungen liegt, werden Fragen der Kontrolle und Durchsetzung
dieser Entscheidungen überwiegend ausgespart. Hierzu gehören z. B. Fragen der
moralischen Erziehung, der Motivierung durch Belohnungs- und Bestrafungssysteme
sowie Probleme der Normanwendung und -auslegung bei Normübertretungen.
Keine Berücksichtigung kann im Rahmen dieser Arbeit das für
industrielle Gesellschaften äußerst wichtige Phänomen hierarchisch
strukturierter Großorganisationen und bürokratischer Apparate finden. Insofern
diese sowohl für die Informationsgewinnung und Entscheidungsvorbereitung als
auch für die Anwendung und Kontrolle getroffener Entscheidungen erforderlich
sind und dabei zwangsläufig ein Eigenleben entwickeln, ergeben sich daraus auch
für die normative Gestaltung der Entscheidungsprozesse Konsequenzen, die jedoch
erst im Zusammenhang von detaillierten institutionellen Analysen von
Gesamtsystemen sichtbar gemacht werden können. Eine weitere institutionelle
Konkretisierung von Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung
einschließlich ihrer Durchsetzung muss deshalb späteren Arbeiten vorbehalten
bleiben.
Um die grundlegenden Argumentationslinien und die
normativen Kernstrukturen übersichtlich herauszuarbeiten, ist ein relativ hoher
Abstraktionsgrad und eine entsprechende Beschränkung der Fragestellung
unumgänglich.{-7-} Auch historische Bezüge werden in dieser Arbeit ausgeblendet,
es sei denn, aus ihnen ergeben sich für die Beantwortung der Fragestellung hier
und heute noch relevante Argumente. Überhaupt ist es das Kriterium für die
Aufnahme oder Ausscheidung bestimmter angrenzender Fragestellungen und Aspekte,
ob ihre Einbeziehung die Beantwortung der gestellten Frage verändert oder
nicht.{-8-}
Teil I
Allgemeine Grundlagen einer normativen Methodologie {-9-}
1. Kapitel
Die Notwendigkeit normativer Wissenschaft
§ l Die Präzisierung der Fragestellung
Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf die Frage, welche
sozialen Normen existieren sollen und welche nicht. Dies kann auch als die Frage
nach der Gültigkeit bestimmter Normen bezeichnet werden. Dabei soll es hier
nicht so sehr um die Gültigkeit einzelner inhaltlicher Normen gehen, sondern um
die Methode, mit der über die Gültigkeit von Normen generell zu befinden
ist.
Diese Arbeit stellt sich damit
die Frage nach der Möglichkeit und den methodischen Grundlagen normativer
Erkenntnis und Wissenschaft. Unter "normativ" sollen hier solche Theorien
verstanden werden, die direkt oder indirekt eine Normierung menschlichen
Verhaltens, also Verhaltensvorschriften ausdrücken [[1] Nicht gemeint
sind also empirische Theorien, die die Beschreibung und Erklärung
existierender Normen zum Gegenstand haben.]
Der Begriff "Wissenschaft"
erscheint hier angebracht, insofern es sich um Theorien handelt, die mit dem
Anspruch auf allgemeine Gültigkeit auftreten und diesen Anspruch auch
argumentativ zu begründen versuchen.
"Normative Wissenschaft" wäre u. a. zu unterscheiden von
1. empirischer Wissenschaft (Erfahrungswissenschaft), deren Ziel die Information über die Beschaffenheit der Realität ist sowie,
2. analytischer Wissenschaft, deren Ziel logischer Natur ist, oder.{-10-}
3. hermeneutischer Wissenschaft, deren Ziel die Interpretation von
Texten und sinnhaltigen Zeichen ist.
Jede Art von Wissenschaft beantwortet unterschiedliche
Arten von Fragen und bedarf deshalb einer eigenen Methodologie. Zusammen
genommen bilden die verschiedenen Methodologien die Erkenntnistheorie.
Allerdings darf diese erkenntnistheoretisch notwendige begriffliche
Unterscheidung der Wissenschaftsarten nicht als Aufforderung zu ihrer faktischen
Trennung missverstanden werden, denn die verschiedenen Ebenen der
Erkenntnis stehen in einer engen Wechselbeziehung untereinander. [[2] Leider
hat sich bisher noch keine einheitliche erkenntnistheoretische Terminologie
herausgebildet. So wird der hier als "normative Methodologie" bezeichnete
Erkenntnisbereich u. a. auch "praktische Philosophie" (KANT, LORENZEN), "Legitimationslogik" (HABERMAS) oder "Wertphilosophie" (SCHELER) genannt. Der
kaum zu vermeidenden Gefahr rein sprachlicher Missverständnisse muss deshalb im
Folgenden häufig durch Definition der benutzten Termini begegnet werden.]
Theorien mit verhaltensnormierendem Gehalt gibt es
innerhalb der verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen. Als wichtigste
wären zu nennen:
Ethik bzw. Moralphilosophie,
Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie,
Politische Wissenschaft,
Ökonomie und
Pädagogik.
Alle diese Wissenschaften enthalten handlungsanleitende
normative Theorien und es stellt sich damit {-11-} die Frage nach ihrer "Wissenschaftlichkeit" im Sinne einer
allgemeingültigen Begründbarkeit solcher normativen Theorien. [[3]
Handlungsanleitungen werden zwar auch von den anwendungsorientierten "technischen" Wissenschaften gegeben, jedoch handelt es sich dabei nur um eine
Mittelbestimmung bei vorgegebenen
Zwecken, so dass sie hier nicht als "normative Wissenschaften" bezeichnet werden.]
Diese Fragestellung fällt in das Gebiet einer normativen
Methodologie, worunter die Lehre von den Methoden zur Beantwortung
normativer Fragen verstanden werden soll. Diese normative Methodologie ist von
den inhaltlichen normativen Theorien zu bestimmten Bereichen zu unterscheiden
(analog zur Unterscheidung zwischen der allgemeinen Methodologie der
Erfahrungswissenschaften und den auf verschiedene Gegenstände bezogenen
empirischen Theorien). Die normative Methodologie hat vor allem die Aufgabe, Gültigkeitskriterien und Argumentationsregeln für normative Theorien zu
entwickeln. [[4] Neben der Bestimmung von Gültigkeitskriterien zur kritischen
Überprüfung normativer Theorien wäre noch die Entwicklung einer normativen Heuristik als Aufgabe einer normativen Methodologie zu nennen. Unter "Heuristik" wären Methoden zur Gewinnung neuer normativer Theorien zu verstehen,
die für bestimmte Problemlösungen geeignet sind. Ein großes heuristisches
Potential liegt z. B. in der Erforschung historischer oder gegenwärtig
existierender Normensysteme sowie in der Etymologie normativer Begriffe und der
Analyse normativer Sprachelemente.]{-12-}
§ 2 Die Relevanz der Fragestellung
Die Relevanz einer Beschäftigung mit der Methodologie
normativer Wissenschaften ergibt sich schon daraus, dass ständig normative
Behauptungen aufgestellt werden, sei es bei moralischen, rechtlichen,
politischen, ökonomischen oder pädagogischen Fragen. Es werden individuelle
Verhaltensweisen kritisiert oder gerechtfertigt, es werden soziale Ordnungen
angegriffen oder verteidigt, es werden politische Forderungen aufgestellt oder
abgelehnt, Werturteile über Personen und soziale Tatbestände gefällt usw..
Normativ gemeinte Begriffe wie "Gerechtigkeit", "Freiheit", "Emanzipation", "Gemeinwohl", "Fortschritt", "Demokratie", "Wohlfahrt", "Klassenherrschaft", "Ausbeutung" etc. spielen in sozialwissenschaftlichen und politischen
Diskussionen eine zentrale Rolle.
Diese normativen Argumentationen sind Ausdruck der
Tatsache, dass Gesellschaften kollektive Normensysteme darstellen, die
Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen und - wenn nötig - auch mittels Sanktionen
durchsetzen. Die jeweilige Art der moralischen, politischen und ökonomischen
Normensysteme hat dabei für alle Individuen die größte Bedeutung. Denn die
Beschaffenheit dieser Normensysteme legt fest, was Individuen dürfen oder nicht
dürfen, wofür sie belohnt oder bestraft werden, was ihnen gehört und was ihnen
nicht gehört, was ihre Rechte und was ihre Pflichten sind.{-13-}
§ 3 Mögliche Einwände gegen den Versuch normativer Wissenschaft
1. Der positivistische Einwand
Unter dem Einfluss verschiedener philosophischer Strömungen
war es - vor allem im deutschen Sprachgebiet - wissenschaftlich eher suspekt,
sich mit der Aufstellung und Begründung normativer Theorien zu befassen. Vor
allem diejenigen, denen es um eine wissenschaftlich strenge Beweisführung ging,
sahen dies meist als unvereinbar mit einer normativen Theoriebildung an - und
das Übergewicht von methodisch völlig unreflektierten oder abwegigen Arbeiten
auf ethischem oder politischem Gebiet schien ihnen darin Recht zu geben.
Diese Einstellung entstand vor allem durch die
erkenntnistheoretisch außerordentlich einflussreiche Strömung des Positivismus. Darunter sollen hier all jene philosophischen Richtungen
zusammengefasst werden, die in der Erforschung der positiven, d. h. gegebenen
Realität die einzig zulässige Aufgabe wissenschaftlicher Erkenntnis sehen.[[5]
LORENZEN bezeichnet diese Position auch als "Szientismus". S. LORENZEN 1969.]
Die sonstigen wissenschaftstheoretischen Leistungen des Positivismus - z. B. bei
der Kritik an "übernatürlichen" Spekulationen oder bei der Entwicklung einer
erfahrungswissenschaftlichen Methodologie der Natur- und Sozialwissenschaften -
stehen hier nicht zur Diskussion. [[6] S. hierzu etwa KOLAKOWSKI 1971.]{-14-}
Hier geht es allein um die Frage, ob die positivistische Ablehnung normativer
Wissenschaft zu Recht besteht oder nicht.
Der Kern der positivistischen Argumentation ist dabei
folgender: Zum einen wird festgestellt, dass nur Aussagen positiver bzw.
faktischer Art (deskriptive Aussagen, empirische Gesetzesaussagen, "Ist-Sätze" )
an der Erfahrung überprüfbar sind. Zum andern gilt, dass mit Hilfe logischer
Deduktion nur die Implikationen der Prämissen erschlossen werden können, dass
also damit nur tautologische Bedeutungsumformungen möglich sind, aber keine
völlig neuen Bedeutungselemente abgeleitet werden können. Aus beidem ergibt
sich, dass es unmöglich ist, aus ausschließlich empirischen Prämissen
irgendwelche Normen logisch-deduktiv abzuleiten, die ja ein ganz anders
geartetes Bedeutungselement darstellen. Damit ist jeder deduktive Schluss vom "Sein" auf das "Sollen" als logisch fehlerhaft nachgewiesen. [[7] Diese
logische Problematik wurde bereits von HUME präzise analysiert. S. HUME 1969, S.
521. Dies Prinzip wird deshalb auch als "HUMES Gesetz" bezeichnet.]
Bis hierher scheint der Argumentationsgang akzeptabel zu
sein und sogar von grundlegender Bedeutung für jede normative Methodologie. [[8]
S. § 24 über logisch unzulässige Argumentationen.] Die positivistische
Position wird jedoch in dem Augenblick unhaltbar, wo sie darüber hinaus
behauptet, dass damit überhaupt jede normative Wissenschaft unmöglich
geworden ist. Denn aus dem Tatbestand, dass sich Normen im Gegensatz zu
empirischen Aussagen mit den Mitteln von Erfahrung und Logik allein nicht
begründen lassen, folgt keineswegs logisch, dass es nicht andere Kriterien ihrer
Gültigkeit geben kann. {-15-}
Dieser unzulässige Übergang der Positivisten von der
richtigen Feststellung, dass Normen nicht unmittelbar an ihrer Übereinstimmung
mit der erfahrbaren Wirklichkeit überprüft werden können, zu dem unzulässigen
Schluss, dass Normen überhaupt nicht richtig oder falsch bzw. gültig oder
ungültig sein können, zeigt sich z. B. an der Argumentation von Herbert A.
SIMON, der schreibt: "Um zu bestimmen, ob eine Aussage korrekt ist, muss sie
unmittelbar mit der Erfahrung - mit den Fakten - verglichen werden, oder sie
muss durch logisches Argumentieren zu anderen Aussagen führen, die mit der
Erfahrung verglichen werden können. Aber faktische Aussagen können durch
keinerlei Argumentationsprozess aus ethischen Aussagen abgeleitet werden, noch
können ethische Aussagen unmittelbar mit den Fakten verglichen werden - denn sie
behaupten eher ein Soll als ein Faktum. Daher gibt es keinen Weg, auf dem die
Korrektheit ethischer Aussagen empirisch oder rational getestet werden kann. Aus
dieser Sicht bedeutet dies, dass, wenn ein Satz ausdrückt, dass ein bestimmter
Zustand der Dinge sein soll oder dass er vorzuziehen oder wünschenswert ist,
dass dann der Satz eine imperative Funktion erfüllt und weder wahr noch falsch,
korrekt noch inkorrekt ist. Da Entscheidungen Wertungen dieser Art einschließen,
können auch sie nicht objektiv als korrekt oder inkorrekt beschrieben
werden'.[[9] SIMON 1965, S. 46. (Übersetzung aller fremdsprachigen Zitate
durch den Verfasser.)]{-16-}
SIMON hat Recht, wenn er feststellt, dass Normen nicht
allein empirisch-deduktiv begründet werden können. Wer dies verneint, würde
einen unhaltbaren "vorpositivistischen" Standpunkt einnehmen.
Dies hat auch HABERMAS gesehen, wenn er schreibt: "Heute
muss die Konvergenz von Vernunft und Entscheidung, die die große Philosophie
noch unmittelbar dachte, auf der Stufe der positiven Wissenschaften und das
heißt: durch die auf der Ebene technologischer Rationalität notwendig und zu
recht gezogene Trennung, durch die Diremption von Vernunft und Entscheidung
hindurch wiedergewonnen und reflektiert behauptet werden." [[10] HABERMAS
1971, S. 33.]
Allerdings ist die vernünftige Begründung von Behauptungen
nicht nur logisch-empirisch möglich, wie SIMON meint. Demgegenüber ist
festzustellen, dass ein rein "deduktionstechnisches Verständnis von
Begründung dem vernünftigen argumentativen (oder diskursiven) Sinn
von Begründung nicht gerecht wird." [[11] KAMBARTEL 1974a, S.16 f. Wie ein
solches nichtdeduktives Begründungsverfahren aussehen kann, wird unten anhand
des Intersubjektivitätsgebots ausgeführt.]
In ähnlicher Weise reserviert Max WEBER den Begriff "Wissenschaft" für die Erfahrungswissenschaft, während die Geltung von obersten
Werten für ihn allein eine Sache des Glaubens ist. "Eine empirische Wissenschaft
vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann
und - unter Umständen - was er will. Nur unter der Voraussetzung des
Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu
vertreten. Aber: die Geltung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des
Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung
des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber {-17-} nicht
Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft ... "
WEBER ist der Auffassung, "dass … die höchsten Ideale, die
uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich
auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren." Folgerichtig
fordert er vom Wissenschaftler, "jederzeit deutlich zu machen, dass und wo der
denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen, wo die
Argumente sich an den Verstand und wo sie sich an das Gefühl wenden." [[12]
WEBER 1904, S. 6, 7 u. 11f.]
Die positivistische Annahme unbegründbarer Werturteile
schleicht sich vor allem dadurch ein, dass der Positivismus Begriffe wie "Wissenschaft", "Theorie", "Erkenntnis" von vornherein so
definiert, dass
sie nur auf erfahrungswissenschaftliche Fragestellungen angewandt werden können.
Solche sprachlichen Festsetzungen mögen zum Zwecke
begrifflicher Klarheit gelegentlich nützlich sein. Damit ist jedoch die
eigentliche Frage nach den möglichen Gültigkeitskriterien von normativen
Theorien noch in keiner Weise beantwortet. Oft lässt sich diese Beschlagnahme
zentraler Termini der philosophischen Tradition für die Erfahrungswissenschaft
nicht mit dem Argument der nötigen begrifflichen Eindeutigkeit begründen,
sondern scheint eher dazu zu dienen, andere philosophische Positionen "sprachlos" zu machen.
Deshalb werden hier die Termini "Erkenntnis", "Wissenschaft" und "Theorie" weiterhin auf alle Verfahren angewandt, bei denen
es um die systematische {-18} Beantwortung sinnvoller Fragen geht. Zur
Unterscheidung der verschiedenen Erkenntnisebenen reichen die Adjektive "normative", "empirische", "analytische" oder "hermeneutische" Wissenschaften
völlig aus. Die Termini "Aussagen" und "Wahrheit" werden im Folgenden jedoch nur
auf empirische Theorien bezogen; die analogen Termini für normative Theorien
wären "Norm" und "Gültigkeit".
2. Der
subjektivistische Einwand
Die positivistische Position ergänzt und verbindet sich
häufig mit dem normativen Subjektivismus bzw. Relativismus. Hierunter sollen
solche Positionen verstanden werden, die Normen bzw. Werturteile nur als
subjektive Willens- und Gefühlsäußerungen ansehen und ihnen deshalb jeden
Anspruch auf Allgemeingültigkeit absprechen.
Eine solche subjektivistische und "emotive" Auffassung
ethischer Urteile hat z. B. AYER, wenn er ausführt: "Ein anderer mag mit mir
nicht übereinstimmen, was die Unrechtmäßigkeit des Stehlens betrifft, in dem
Sinne, dass er bezüglich des Stehlens nicht in der gleichen Weise empfindet wie
ich, und er kann mit mir über meine moralischen Gefühle streiten. Er kann mich
aber, genau genommen, nicht widerlegen. Denn wenn ich sage, eine bestimmte
Handlungsweise sei recht oder unrecht, so mache ich damit keine
Tatsachenaussage, nicht einmal eine Aussage über meinen eigenen Geisteszustand.
Ich drücke nur gewisse moralische Empfindungen aus; und der Betreffende, der mir
widerspricht, drückt nur seine moralischen Empfindungen aus. So liegt einfach
kein Sinn in der Frage, wer von uns im Recht ist; denn keiner behauptet eine
echte Proposition. [[13] AYER 1970, S. 142. S. auch die späteren Ausführungen
bei AYER 1954.{-19-]
Einen subjektivistischen Standpunkt vertritt auch GEIGER,
der Werturteile mit Ideologien gleichsetzt, wenn er schreibt: "Die Theorie - und
nur die Theorie - intendiert jene als Richtigkeit bezeichnete, besondere
Art der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit . .. Im Falle des Werturteils ..
hat die Aussage überhaupt keinen anderen Inhalt als eben den der Objektivierung
und Theoretisierung des Gefühlsverhältnisses. Das Werturteil ist somit reine
Ideologie ohne allen echt-theoretischen Gehalt." [[14] GEIGER 1949, S. 230 u.
232]
An der subjektivistischen Deutung von Normen ist richtig,
dass jede Norm, die ein Individuum aufstellt, immer auch seine individuelle
normative Position darstellt und insofern "subjektiv" ist. Daraus lässt sich
jedoch nicht folgern, dass diese Norm nicht gleichzeitig allgemeine Gültigkeit
beanspruchen kann. Denn auch wenn in der Erfahrungswissenschaft ein
Wissenschaftler eine Hypothese behauptet, so ist sie zwar immer auch seine
individuelle Meinung und insofern "subjektiv". Daraus würde jedoch niemand den
Schluss ziehen, dass dieser Hypothese deshalb keine allgemeine Wahrheit zukommen
könne.
Auch die Tatsache, dass Normen auf subjektiven
Willensregungen bzw. Präferenzen beruhen, ist noch kein Argument gegen die
Möglichkeit von Gültigkeitskriterien. Denn auch die empirischen Aussagen beruhen
auf subjektiven Wahrnehmungen, aufgrund derer erst eine {-20-} intersubjektiv
gültige Erfahrung herzustellen ist. [[15] Vgl. hierzu die Diskussion der
Basissatz-Problematik bei POPPER 1969, S. 95ff. S. zum Problem des normativen
Subjektivismus bzw. Relativismus auch die Arbeiten in BIRNBACHER / HOERSTER
1976,S.214ff.]
3. Der
deterministische Einwand
Eine andere Position, von der her das Unternehmen einer
normativen Wissenschaft sinnlos erscheint, ist die Position des Determinismus.
Hierunter soll die Auffassung verstanden werden, die von einer Determiniertheit
des Geschichtsverlaufs, der sozialen Abläufe bzw. des individuellen Handelns
ausgeht. Danach geschieht alles gemäß kausalgesetzmäßiger Notwendigkeit, so dass
für eine normative Gestaltung der Wirklichkeit gar keine Möglichkeit besteht.
Statt normativer Theoriebildung wird die Erforschung der tatsächlichen
Gesetzmäßigkeiten gefordert, nach denen die historischen und sozialen Prozesse
ablaufen, und aus denen sich das Ziel der menschlichen Geschichte ergibt.
[[16]
Bestimmte Formulierungen bei MARX und ENGELS lassen eine solche deterministische
Interpretation zu, wenn sich auch andere Aspekte finden. So schreiben sie: "Der
Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein
Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen
Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt."
MARX/ENGELS 1845/46, S.35.
Auf jeden Fall hat die Vorstellung, dass es eine
gesetzmäßige historische Entwicklung gibt, die zugleich "Fortschritt" in dem
Sinne ist, dass das Seinsollende mit dem gesetzmäßig Werdenden zusammenfällt,
mit dazu beigetragen, dass es innerhalb der marxistischen Theorie kaum Versuche
gibt, die Frage nach den Kriterien der Gültigkeit von Normen systematisch zu
bearbeiten. Auch WELLMER sieht als eine mögliche Konsequenz der MARXschen
Geschichtskonstruktion die "Verschleierung der Differenz zwischen der
unvermeidlichen und der praktisch notwendigen Transformation der
kapitalistischen Gesellschaft." S. WELLMER 1969, S. 77.]{-21-}
Der Determinismus versucht die normative Fragestellung,
nämlich wie gehandelt werden soll, dadurch zu eliminieren, dass er die
Existenz verschiedener Möglichkeiten des Handelns verneint. Jeder handelt
so, wie er es aufgrund der bestehenden Verhältnisse und Gesetzmäßigkeiten muss, so dass die Aufstellung von Normen, wie er handeln
sollte,
genau genommen illusorisch ist.
Ohne dass hier auf die recht schwierigen
erkenntnistheoretischen Probleme eingegangen werden soll, die mit einer Kritik
des Determinismus verbunden sind, kann doch anhand eines einfachen Beispiels die
Unbrauchbarkeit der deterministischen Position veranschaulicht werden. Selbst
bei einem so banalen Problem wie dem, ob ich spazierengehen soll oder lieber zu
Hause bleiben soll, hilft mir die deterministische Auffassung, dass mein Handeln
kausalgesetzlich determiniert ist, für mein Entscheidungsproblem überhaupt
nichts. Ich kann die normative Frage: "Was soll ich tun?" nicht durch die
empirisch-prognostische Frage: "Was werde ich tun?" ersetzen. [[17] S. Dazu auch die Beiträge zum Problem der Willensfreiheit in BIRNBACHER/HOERSTER
1976, S. 305 ff.]{-22-}
Wenn man genauer hinsieht, ist deshalb die Aufhebung der
Entscheidungsproblematik durch die Erkenntnis der tatsächlichen Entwicklung nur
ein Schein. Das Entscheidungsproblem und damit die normative Problematik ist für
die Menschen nicht eliminierbar, solange es für sie verschiedene Möglichkeiten
des Handelns gibt. [[18] Diese Kritik bedeutet jedoch nicht, dass deshalb das
idealistische Gegenstück zum Determinismus richtiger ist, der eine "Freiheit des
Willens" von allen empirischen Faktoren und Einflüssen behauptet. S. auch §
24/3. über 'Historische Notwendigkeit'.]
4. Der "realistische" Einwand
Der Versuch einer normativen Theoriebildung setzt sich nur
zu leicht dem Vorwurf des "hilflosen Idealismus" aus: Solch ein Versuch sei
vielleicht gut gemeint, aber er sei "realitätsfremd" und gegenüber den
wirklichen Kräften und Tendenzen ohnmächtig und deshalb sinnlos. Normative
Vorstellungen seien auf die wirklichen Entwicklungen ohne entscheidenden
Einfluss.
Diese Kritik mag gegenüber solchen normativen Positionen
gerechtfertigt sein, die ohne empirische Analyse der durch die realen
Verhältnisse und ihre Entwicklungstendenzen gegebenen Möglichkeiten und ohne
Bezug zur menschlichen Motivationsstruktur irgendwelche Normensysteme
postulieren oder im schlechten Sinne 'utopische' Gesellschaftsordnungen
entwerfen.[[19] Insofern ist ENGELS' Kritik am älteren Sozialismus
berechtigt, dessen Auffassung er folgendermaßen charakterisiert: "Der
Sozialismus ist der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit,
und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern.
... Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische
Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch
nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie einfach nur als schlecht verwerfen.
ENGELS 1878, S. 18 u. 26.]
Der hier unternommene Versuch einer normativen
Methodologie versteht sich jedoch in keiner Weise als alternativ zur
erfahrungswissenschaftlichen Erforschung der Gesellschaft und {-23-} ihrer
Entwicklungsmöglichkeiten, und er beansprucht auch keinen höheren "philosophischen" Rang als etwa Versuche zur Erklärung und Prognose der
Wirklichkeit. Stattdessen wird das Verhältnis zwischen normativer und
empirischer Wissenschaft als eine notwendige Ergänzung und arbeitsteilige
Kooperation aufgefasst.
Vor allem wird das Motivations- und Realisierungsproblem
von Normen hier als ein integraler Bestandteil der normativen Theorie selber
betrachtet. Normen fordern zu bestimmten Handlungen in Entscheidungssituationen
auf, aber sinnvoll entscheiden kann man nur zwischen realen Möglichkeiten. Die
erfahrungswissenschaftlich informierte Analyse der realen Möglichkeiten
ist deshalb ein notwendiger Bestandteil jeder normativen Theorie. [[20] Zur
Bedeutung der Kategorie der "objektiven Möglichkeit" s. z. B. NEGT 1971, S. 85
f.]
Außerdem stellen normative Zielvorstellungen, die von
Menschen geteilt werden, selber einen nicht zu unterschätzenden realen Einfluss
dar. Ihre breite Vermittlung wiederum hängt u. a. auch von der Klarheit und
Begründbarkeit dieser Zielvorstellungen ab, wozu eine normative Methodologie
einen Beitrag leisten kann.[[21] Ähnlich argumentiert SEN 1970, S. 192.]
Abschließend sei noch bemerkt, dass man die verschiedenen
anti-normativen Positionen nur wirklich ernst nehmen könnte, wenn deren
Vertreter sich selber jeder politisch-normativen Wertung und Forderung enthalten
würden. Dass diese Enthaltsamkeit aber nirgends anzu- {-24-} treffen ist -
und auch ohne eine Selbstaufgabe oder zynische Anpassung an die bestehenden
Verhältnisse überhaupt nicht gelingen kann - erscheint als hinreichende
Rechtfertigung für den Versuch, sich erkenntnistheoretisch mit der Möglichkeit
intersubjektiv gültiger normativer Argumentation zu befassen.{-25-}
2. Kapitel
Der Streit um Normen und
ihre Gültigkeit
§ 4 Normen und Werturteile als Willensinhalte
Wie oben bereits kurz ausgeführt wurde, sollen unter
"Normen"
solche Sätze verstanden werden, die eine Verhaltensvorschrift beinhalten, also
menschliches Handeln normieren. Normen drücken also ein "Sollen" aus:
bestimmte Handlungen von Individuen sollen sein oder sollen nicht sein.
Gewöhnlich treten Normen in der Form von Geboten, Verboten oder Erlaubnissen auf
bzw. in daraus ableitbaren Formen wie Rechten, Pflichten, Ansprüchen oder
Normsetzungsbefugnissen. [[1] S. Dazu z. B. KUTSCHERA 1973, S. 11, 35 u. 37
] Ein derartiges Gebot ist in allgemeiner Form z. B. die Norm: "Individuum A soll jetzt Handlung x
tun!" Normen geben also keine Be - schreibung davon, wie die Realität
beschaffen ist, sondern sie enthalten eine Vor - schrift, wie die
Realität sein soll. Ihre Funktion ist präskriptiv und nicht deskriptiv.
Eine ausführliche Definition des Begriffs "Norm" gibt
EICHHORN: Danach sind Normen "die Ausführung (oder Unterlassung) von
menschlichen Handlungen betreffende gedankliche Festsetzungen, die mit dem
Anspruch auf soziale Verbindlichkeit auftreten und dazu dienen, menschliches
Handeln zu regeln, zu lenken, ihm eine bestimmte Richtung zu geben, es zu
koordinieren, die also darauf abzielen, eine bestimmte soziale Ordnung zu
realisieren; Normen treffen Entscheidungen für eine oder mehrere Handlungen
(oder Handlungsweisen) aus einem Feld möglicher Handlungen (oder
Handlungsweisen) und legen diese Entscheidung mit einem {-26-} bestimmten
Grad von sozialer Verbindlichkeit fest." [[2] EICHHORN 1971, S. 793]
Danach sind also alle politischen, ökonomischen,
rechtlichen oder moralischen Ordnungen, wie z. B. das parlamentarische
System, die Eigentumsordnung, das Familienrecht oder die Sexualmoral, normative
Gebilde und lassen sich als ein System von Normen darstellen. Jede Kritik oder
Rechtfertigung dieser Ordnungen setzt deshalb eine Methode zur Kritik oder
Rechtfertigung von Normen voraus, auch wenn dies nicht immer bewusst ist.
Die sprachliche Normierung menschlichen Verhaltens kann
nicht nur dadurch erreicht werden, dass unmittelbar bestimmte Handlungen geboten
oder verboten werden. Handlungen können auch indirekt normiert werden, indem man
die Herstellung bestimmter Zustände fordert. Wenn ein Hausbesitzer zum
Maler sagt: "Diese Wand soll rot werden!", so ergibt sich daraus für den Maler
indirekt ein bestimmtes Verhalten. Insofern können Normen auch in Bezug
auf Zustände oder Ereignisse formuliert werden und nicht nur unmittelbar auf
Handlungen. Allerdings ist bei derartigen Formulierungen der Adressatenkreis
nicht genau bestimmt und die Art und Weise, wie der geforderte Zustand
realisiert wird, bleibt bei solchen Normen unbestimmt. Normverletzungen sind
insofern schwieriger zu bestimmen.
Zwischen Normen als den Formulierungen dessen, was sein
soll, und Willensäußerungen besteht ein enger {-27-} Zusammenhang. Man könnte
vereinfacht sagen: "Sollen" kommt von "Wollen", denn ohne dass es so
etwas wie wollende Subjekte gibt, könnte es auch keine Normen geben. Als
Vorschriften darüber, wie die Welt sein soll, drücken sie ein wollendes
Verhältnis zur Welt aus, während empirische Aussagen ein konstatierendes
Verhältnis zur Welt ausdrücken als Beschreibungen dessen, was ist.
Der enge Zusammenhang zwischen "Wollen" und "Sollen" wird
deutlich, wenn man sich einmal klarmacht, wie ein Individuum überhaupt seinen
Willen sprachlich ausdrücken kann. Angenommen Individuum B will, dass Individuum
A schweigt. B kann dann z. B. sagen: "Ich will, dass A jetzt schweigt!" Es
handelt sich dabei um den individuellen Willen von B, was durch die Benutzung
des Personalpronomens "ich" ausgedrückt wird. Wenn man jedoch einmal vom Träger des Willens absieht und nur nach dem
Inhalt des Willens fragt,
so kann dieser Willensinhalt auch durch die Norm ausgedrückt werden: "A soll
jetzt schweigen!" Normen drücken aus, was gewollt wird, unabhängig
davon, wer dies will.[[3] Allerdings kann der Träger des Willens
hinzugefügt werden, wie im folgenden Beispiel: "Betreten des Grundstücks
verboten! Der Eigentümer." ]
Dieser Zusammenhang zwischen Willensinhalt und Norm wird
auch im alltäglichen Sprachgebrauch sichtbar, wenn etwa im Zusammenhang mit den
staatlichen Gesetzen vom "Willen des Gesetzgebers" die Rede ist oder wenn die
Vorschriften eines Testaments als "letzter Wille" eines Menschen bezeichnet
werden. {-28-}
Normen, die nicht den Willensinhalt irgendeines Subjektes,
sei es eines einzelnen Individuums oder sei es einer Gruppe von Individuen
wiedergeben, sind gegenstandslos. Sie sind eine bloße Ansammlung von Worten und
verlieren damit jeden Aufforderungscharakter. Wenn jemand sagt: "Du sollst
schweigen und zugleich will niemand, dass du schweigst", so hat er offenbar
nicht verstanden, was die Worte "sollen" und "wollen" gewöhnlich bedeuten. Wenn
also eine Auseinandersetzung um alternative Normen geführt wird, so bedeutet
dies immer einen Konflikt zwischen verschiedenen Willen bzw. Interessen, denen
nicht gemeinsam entsprochen werden kann. Wird dann eine Entscheidung in diesem
Streit getroffen, so hat sich damit ein bestimmter Wille durchgesetzt.
Während Normen bereits eine Entscheidung in Bezug auf einen
Bereich möglicher Handlungen oder Zustände treffen, vergleichen Werturteile
die möglichen Handlungen oder Zustände eines Bereichs nur auf ihre
Vorzugswürdigkeit bzw. ihren Wert. "Man muss Werte und Wertträger (Wertvolles)
streng auseinander halten. Was wertvoll ist, hat Wert, ist aber kein Wert,
sondern ein Wertträger, ein Gut.
Ein Wertträger ist dasjenige, dem Wert zugeschrieben wird.
.. Wie den Werten Unwerte, so stehen den Gütern Übel gegenüber." [[4]
KRAFT 1951, S.10f.] Werturteile schreiben also bestimmten Objekten, Ereignissen
oder Handlungen einen bestimmten Wert zu. Dabei werden Wertprädikate benutzt wie "gut", "schlecht", "wertvoller", "am besten" usw. {-29-}
Dabei müssen zwei Arten von Werten auseinander gehalten
werden. Einmal die subjektiven oder individuellen Werte, die Objekte für
einzelne Individuen oder Teilgruppen haben können. Wenn jemand z. B. sagt: "Dies
Foto ist mir sehr wertvoll", so drückt er einen solchen individuellen Wert des
Fotos aus. Für ein anderes Individuum kann dasselbe Foto dagegen völlig wertlos
sein, ohne dass sich daraus ein Widerspruch ergibt. Für individuelle Werte wird
in dieser Arbeit auch der Ausdruck "individueller Nutzen" verwendet in Anlehnung
an die ökonomische Terminologie.[[5] S. Dazu u. § 36.]
Zum andern kann man Urteile über objektive oder allgemeine
Werte abgeben, indem man z. B. sagt: "Die Partei x ist die beste". Dabei geht es
um den Wert, den diese Partei für die Gesamtheit der Individuen hat. In dieser Arbeit wird für den allgemeinen Wert einer Sache auch
der Ausdruck "Gesamtnutzen" verwendet. [[6] S. Dazu u. § 38/4.]
Die Auszeichnung, wie sie in den Werturteilen ausgesagt
wird, stellt keine individuelle sondern eine unpersönliche dar. So wenig wie ein
Wertbegriff schließt ein Werturteil eine Beziehung auf eine bestimmte Person ein
- sobald es nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Person eingeschränkt wird.
Diese Unpersönlichkeit wird dadurch ermöglicht, dass die Auszeichnung in den
Wertbegriffen von der subjektiven Erfahrung abstraktiv gelöst und zum frei
verfügbaren Prädikat wird." [[7] KRAFT 1951, S. 183.] {30}
Im Unterschied zu Normen treten Werturteile wie "x ist gut"
grammatisch im Indikativ auf und nicht im Imperativ. Trotzdem ist "gut" keine
empirische Eigenschaft des Gegenstandes x, und ein solches Werturteil ist
deshalb auch keine empirische Aussage wie z. B. "x ist rot". Wenn z. B.
Individuum A im Sinne eines unpersönlichen Werturteils von einer Regierung sagt,
sie mache eine "gute Politik", und Individuum B bestreitet dies, so können sie
sich über die faktische Beschaffenheit dieser Politik völlig einig sein und
trotzdem dieselbe Politik unterschiedlich bewerten. Ein Konsens über Fakten
impliziert also noch keinen Konsens in Bezug auf den Standard der Bewertung.
Der Wertbegriff "gut" unterscheidet sich dadurch von einem
rein faktischen Begriff wie "rot", dass er einen präskriptiven bzw. empfehlenden
Gehalt hat. Allerdings ist der Übergang zwischen wertenden und beschreibenden
Begriffen fließend, denn Wertbegriffe können auch einen sachlichen Gehalt haben,
so wie umgekehrt deskriptive Begriffe auch einen wertenden Aspekt haben können.
So hat das Werturteil: "Dies ist ein guter Bindfaden" bei Voraussetzung eines
normalen Bewertungsstandards für Bindfäden auch die faktische Bedeutung, dass
der betreffende Bindfaden haltbar ist.[[8] S. Dazu z. B. HARE 1964, S. 79ff.] "Sie (die Wertbegriffe, E. W.) enthalten zwei Komponenten: eine rein sachliche,
neutrale Komponente und die auszeichnende, die den eigentlichen Wertcharakter
ausmacht".[[9] KRAFT 1951, S. 17f.]{-31-}
HARE führt den präskriptiven Charakter von Werturteilen
noch näher aus: "Ich habe gesagt, dass es die primäre Funktion des Wortes 'gut'
ist, zu empfehlen. Wenn wir irgendetwas empfehlen oder tadeln, so geschieht es
immer, um zumindest indirekt Entscheidungen zu leiten ... Wir haben nur
Standards für eine bestimmte Art von Gegenständen, wir sprechen nur von den
Vorzügen eines Exemplars gegenüber einem andern, wir benutzen nur Wertbegriffe
bei ihnen, wenn bekanntermaßen Gelegenheiten existieren oder denkbar sind, in
welchen wir oder jemand anders zwischen Exemplaren wählen müsste." [[10] HARE
1964, S. 127 u. 128 ]
Dieser entscheidungsleitende bzw. handlungsanleitende
Charakter von Werturteilen wird z. B. deutlich, wenn man auf die Frage: "In
welches Restaurant sollen wir gehen?" die Antwort erhält: "Restaurant x ist das
beste". Dies Werturteil ist praktisch gleichbedeutend mit der direkten
Empfehlung: "Ihr solltet in das Restaurant x gehen!" KRAFT führt zum
entscheidungsleitenden Charakter unpersönlicher Werturteile aus: "Wenn man das,
was ein Werturteil meint, umschreibend auseinanderlegt, so kann das nur in der
Weise geschehen, dass man es durch eine Forderung, ein Sollen wiedergibt. Ein
Werturteil ist somit keine Tatsachenaussage, keine beschreibende Darstellung,
sondern etwas ganz anderes: die Anweisung einer Stellungnahme zu einem
Gegenstand, und zwar allgemein und anonym, nicht von einer bestimmten Person für
bestimmte Personen." [[11] KRAFT 1951, S. 199] {-32-}
Insofern Wertungen Entscheidungen leiten sollen, so müssen
sie auch immer relativ zu bestimmten Entscheidungssituationen formuliert sein.
Eine Entscheidung lässt sich dabei durch die vorhandenen
Entscheidungsmöglichkeiten (Alternativen) und durch das Entscheidungssubjekt
charakterisieren, auf das sich die Werte beziehen. Ein Gegenstand mag für ein
Individuum einen Wert haben, und für ein anderes nicht; und er mag in der einen
Situation wertvoll sein und in der anderen nicht.
Trotz ihrer grammatischen Form als Indikative erfüllen also
auch Werturteile eine präskriptive Funktion, ähnlich wie Normen. Im Unterschied
zu Normen, die Handlungen nur in gebotene, verbotene oder erlaubte klassifizieren,
können Wertungen sehr viel differenziertere Vergleiche zwischen Handlungen
ausdrücken. "Ein klassifikatorischer Wertbegriff liegt vor, wenn wir die
Gegenstände einer Menge in wertvolle und wertlose einteilen. Ein komparativer
Wertbegriff liegt vor, wenn wir die Gegenstände ihrem Wert nach vergleichen und
von zwei Gegenständen a und b sagen können, a sei wertvoller als b, oder a sei
ebenso wertvoll wie b. Ein metrischer Wertbegriff liegt endlich vor, wenn
wir den Gegenständen eine Zahl zuordnen können, die ihren Wert angibt': [[12]
KUTSCHERA 1973, S. 85. S. a. Die Abschnitte zu ordinaler und kardinaler
Nutzenmessung §37und §38.]{-33-}
Normen und Werturteile erfüllen bei der Handlungsanleitung
unterschiedliche Funktionen. Normen stellen eine endgültige Entscheidung für
bestimmte Handlungen dar, während sich Wertungen gewissermaßen im Vorfeld der
Entscheidung abspielen. Werte können ja auch einzelnen Aspekten und Folgen von
Handlungen beigemessen werden, die dann zu einem einzigen Wertausdruck für eine
Alternative zusammengefasst werden müssen. Werte repräsentieren gewissermaßen
ein potentielles Entscheidungsverhalten. Aus einer vollständigen
Bewertung einer Entscheidungssituation resultiert dann eine Norm und die
Bestimmung der Handlung, die sein soll. Werte sind dabei etwas "zu
realisierendes" oder genauer: etwas "zu maximierendes", denn einem Objekt mit
einem größeren Wert ist immer der Vorrang zu geben, so dass die Alternative mit
dem höchsten Wert auch immer diejenige ist, für die man sich entscheiden soll.
Wenn man zu jemandem sagt: "Es ist das beste für dich, wenn
du dich schlafen legst", so ist dieser Zusammenhang zwischen der
höchstbewerteten Alternative und der Alternative, die sein soll, völlig klar.
Man könnte stattdessen auch sagen: "Du solltest dich in deinem eigenen Interesse
schlafen legen!". Wenn jemand sagen würde: "Handlung x ist die beste, aber tue
sie nicht!", so hat er offensichtlich die entscheidungsleitende Funktion
komparativer Werturteile nicht verstanden.
Aufgrund ihres präskriptiven Charakters beziehen sich
Werturteile ähnlich wie Normen immer auf einen Willensinhalt, sei es der Wille
bestimmter Individuen oder sei es ein "allgemeiner Wille" im Sinne eines Willens
der Gesamtheit aller Individuen. Wenn jemand in einer {-34-} Situation, wo keine
andern Individuen mit ihren Interessen zu berücksichtigen sind, sagt: "Alternative x ist die beste für mich, aber ich will sie nicht", so ist das
widersinnig. Oder mit RUSSELL gesprochen: "Es ist wohl klar, dass wir nie auf
die Gegenüberstellung von gut und schlecht gekommen wären, wenn wir keine
Wünsche hätten. … Wenn es uns gleichgültig wäre, was uns geschieht, würden wir
nicht an den Dualismus von gut und schlecht, recht und unrecht, lobenswert und
tadelnswert glauben. [[13] RUSSELL 1956, S. 57.
§ 5 Normen als Entscheidungen in Interessenkonflikten
Wie oben ausgeführt wurde, geben Normen einen
handlungsverbindlichen Willensinhalt in unpersönlicher Form wieder. Eine
Auseinandersetzung um alternative Normen ist also immer ein Streit um die
Durchsetzung unvereinbarer Willensinhalte. Normen, hinter denen überhaupt kein
Wille steht, sind damit für das Problem einer Bestimmung gültiger Normen
irrelevant, denn um derartige Normen kann man sich nicht sinnvoll streiten, da niemand
sie vertritt.
Ebenfalls irrelevant sind Normen, die nicht wenigstens mit
dem Handeln oder Wollen eines einzigen Individuums tatsächlich oder potentiell
kollidieren. Wenn sich sowieso jeder in der durch die Norm vorgeschriebenen
Weise verhält, so ist eine Normierung überflüssig. Normen sind als
Entscheidung in Willens- bzw. Interessenkonflikten nur dann notwendig, wenn
mindestens ein Individuum etwas tut oder möglicherweise tun könnte, was
mindestens ein anderes Individuum nicht will.
Auch KAMBARTEL sieht in {-35-} der
Interessenkollision den Kern des moralischen Problems. "Eine Interessenkollision
sei definitionsgemäß genau dann gegeben, wenn für die in einem
Handlungszusammenhang stehenden Personen oder Gruppen keine Handlungsweisen
verfügbar sind, die es ihnen gestatten, alle ihre Interessen zu verfolgen, und
zwar deswegen nicht, weil die Einlösung bestimmter Interessen stets, d. h. welche
Handlungsweise man auch vorsieht, das Zurückstellen anderer Interessen
bedeutet." [[14] KAMBARTEL 1974c, S. 65 ] Auch SCHWEMMER ist der
Ansicht, "dass eine Ethik ... nur für die Wertungen ein Begründungsprinzip
aufzustellen hat, die konfliktfördernd oder -hindernd, d. h. konfliktrelevant
sind". [[15] SCHWEMMER 1973, S. 78.]
Dabei müssen diejenigen Individuen, die für eine Norm
eintreten und diejenigen, die tatsächlich oder potentiell entgegen dieser Norm
handeln, nicht zwei personell verschiedene Gruppen darstellen. Es ist vor allem
bei generellen Normen auch möglich, dass sich Individuen in beiden Gruppen
gleichzeitig befinden, ja sogar, dass sich alle Individuen in beiden
Gruppen der Befürworter als auch der potentiellen Verletzer der Norm
gleichzeitig befinden. Der normativ geregelte Konflikt hat dann nicht nur eine
interindividuelle sondern auch eine intraindividuelle Dimension.
Es lässt sich auch der Extremfall denken, wo es sich bei den Befürwortern und
den Übertretern der Norm um ein und dieselbe Person handelt. Z. B. kann sich
jemand die Norm {-36-} für das eigene Verhalten setzen, sich nicht zu betrinken,
obwohl - oder richtiger gerade weil - er es gelegentlich doch tut bzw.
möglicherweise tun würde. Es handelt sich dann um einen Konflikt zwischen
verschiedenen Willensregungen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in ein und
derselben Person auftreten.
Die Feststellung, dass Normen ohne einen zu regelnden
Konflikt irrelevant sind, bedeutet allerdings nicht, dass es sich immer um Interessenkonflikte im eigentlichen Sinne handeln muss, sondern es können
auch Konflikte sein, die allein aus einer mangelnden Koordinierung der
individuellen Handlungen entstehen. Dabei kann es den Individuen von ihrer
Interessenlage her völlig gleichgültig sein, auf welche Regelung man sich
einigt, aber irgendeine Regelung ist notwendig, damit man gegenseitig die
Handlungen aufeinander abstimmen kann. Beispiele für solche Koordinierungsregeln
sind etwa Verkehrsregeln wie "Wer von rechts kommt, hat Vorfahrt" oder "Es muss
rechts gefahren werden".
Auch viele Verabredungen haben rein koordinativen
Charakter, z. B. ob man sich um 7 Uhr oder um 8 Uhr zum Essen trifft. Selbst
wenn jedem der Beteiligten die möglichen alternativen Regelungen völlig
gleichgültig sind, so wird doch jeder ein Interesse an irgendeiner
Regelung haben, um das sonst für ihn unberechenbare Verhalten des andern
voraussehbar zu machen. Da man sich allerdings um den Inhalt reiner
Koordinierungsregeln nicht streiten kann. Da diese einem ja per Definition
gleichgültig sind, brauchen sie im Zusammenhang des {-37-} Gültigkeitsproblems
nicht weiter behandelt zu werden. [[16] Vgl. zur Koordinationsfunktion von
Normen LUHMANN 1969. Allerdings scheint LUHMANN nur diesen Aspekt des
Normenproblems zu sehen und den Aspekt des Interessenkonfliktes völlig zu
vernachlässigen.]
§ 6 Geltungsformen von Normen
1. Die Existenz einer Norm
Wie anfangs bereits ausgeführt, geht es in dieser Arbeit um
die Frage, mit welchen Methoden über den Anspruch auf Gültigkeit einer Norm
entschieden werden kann. Um nun präzise zu bestimmen, was unter der "Gültigkeit"
einer Norm verstanden werden soll, müssen vorweg einige begriffliche Klärungen
vorgenommen werden.
Von der "Existenz" einer Norm soll gesprochen werden, wenn
eine Norm tatsächlich wirksam ist, wenn sie also mit dem Anspruch auf Befolgung
tatsächlich vertreten wird. Dies setzt im Allgemeinen ihre Verkündung gegenüber
den Normadressaten und ihre Sanktionierung voraus. Wenn jemand einen
anderen überfällt und ruft: "Hände hoch oder ich schieße!", so handelt es sich
dabei um eine existierende Norm: sie wurde verkündet und mit einer
ausdrücklichen Sanktionsdrohung verbunden.[[17] Vgl. zur Definition der "Existenz" einer Norm WRIGHT 1963, S. 107 ff.]
Um über die Existenz einer bestimmten Norm zu entscheiden,
bedarf es einer empirischen Untersuchung der Realität. So informiert uns z. B.
Die empirische Ethnologie darüber, welche unterschiedlichen Normensysteme bei
verschiedenen Völkern existieren. [[18] Diese effektive Existenz einer Norm
muss von einer bloß "symbolischen Existenz" unterschieden werden. Wenn jemand
etwa im Rahmen einer theoretischen Untersuchung ein Beispiel für eine Norm
erfindet, so hat diese nur eine rein symbolische Existenz. Wenn im Folgenden von
der "Existenz" einer Norm die Rede ist, so handelt es sich dabei immer um die "effektive Existenz" einer gegenüber Normadressaten verkündeten und
sanktionierten Norm.] { -38-}
Eine existierende Norm stellt immer eine Gehorsamsforderung
dar, wobei mit der Gehorsamsforderung nicht notwendig der Anspruch verbunden
sein muss, dass diese auch argumentativ gerechtfertigt werden kann.
2. Die Gültigkeit einer Norm
Von der "Gültigkeit" einer Norm soll gesprochen
werden, wenn die Existenz dieser Norm gegenüber jedermann argumentativ
gerechtfertigt werden kann. Eine Entscheidung über die Gültigkeit einer
Norm beantwortet also die Frage, ob die Existenz dieser Norm gerechtfertigt ist
oder nicht bzw. ob eine Norm eingeführt oder abgeschafft werden soll oder
nicht.[[19] Analog dazu beantwortet eine Entscheidung über die Wahrheit einer empirischen Aussage die Frage, ob die Annahme dieser Aussage
gerechtfertigt ist oder nicht bzw. ob diese Annahme beibehalten werden soll oder
nicht.] Die Frage der Gültigkeit von Normen bezieht sich also auf
normsetzende Handlungen: man gelangt zur Forderung, gültige Normen einzuführen
oder beizubehalten bzw. ungültige Normen abzuschaffen oder nicht
einzuführen.{-39-}
KUTSCHERA spricht anstelle der "Gültigkeit" einer Norm von
der "absoluten Geltung" einer Norm. Im Unterschied zur "relativen Geltung" wird
hier nicht gefragt, "ob nach den heute gängigen Wertvorstellungen unserer
Gesellschaft eine demokratische Staatsauffassung besser ist als eine
oligarchische, sondern ob eine Demokratie an sich und von der Sache her besser
ist als Oligarchie. Solche absoluten Geltungsfragen spielen besonders in
der Ethik eine große Rolle. Dabei geht es also nicht um die relative Begründung
von Norm- oder Wertsätzen auf der Basis eines vorgegebenen Normen- oder
Wertsystems, sondern um die Begründung der Aussagen eines solchen Systems
selbst." [[20] KUTSCHERA 1973, S. 131 ]
Die einzelnen Elemente der hier gegebenen Definition von
Gültigkeit bedürfen noch einer näheren Erläuterung.
1.) Die Gültigkeit von Normen impliziert nicht bereits ihre unmittelbare Verbindlichkeit für das Handeln.
Es geht bei der Gültigkeit um die Rechtfertigung der
sozialen Existenz von Normen, nicht jedoch um die Rechtfertigung der
individuellen Befolgung von Normen. Dass man Normen für gültig halten
kann, ohne sie deshalb als verbindlich für das eigene Handeln ansehen zu müssen,
soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Man hält etwa die Norm für gültig,
dass sich die Kunden in einem Laden zur Abfertigung hinten anstellen sollen
(d. h. 'Die Reihenfolge der Abfertigung soll gleich der Reihenfolge der Ankunft
sein'.) Wenn diese Norm jedoch gar nicht effektiv existiert und niemand wartet,
bis er an der Reihe ist, so ist die Norm auch für mich nicht verbindlich
{-40-} und ich bin nicht verpflichtet, diese Norm individuell zu befolgen,
selbst wenn ich sie weiterhin für gültig halte und für ihre Einführung eintrete.
Gültige Normen werden demnach nur unter der Bedingungen für das Handeln
verbindlich, dass sie existieren, also effektiv angewendet werden.
2.) Umgekehrt kann auch eine Norm für das Handeln
verbindlich sein, ohne dass sie deshalb Gültigkeit besitzen muss.
Ich kann z. B. Die Norm für gültig halten, dass die
Mehrheit der Individuen auf bestimmten Bereichen das Recht hat, für alle
Individuen verbindliche Normen zu beschließen. Daraus folgt jedoch nicht, dass
ich deshalb jede einzelne Mehrheitsentscheidung für gültig halten muss.
Ich kann auch als Anhänger des Mehrheitsprinzips ohne weiteres gegen die Existenz und für die Revision einer bestimmten Mehrheitsentscheidung
eintreten, die ich für "falsch" halte. Allerdings besitzt diese
Mehrheitsentscheidung für mein Handeln Verbindlichkeit. Das
veranschaulicht, dass Verbindlichkeit nicht notwendigerweise Gültigkeit
einschließt.
3.) Die Frage nach der Gültigkeit einer Norm muss außerdem
von der Frage nach ihrer relativen Geltung unterschieden werden.
"Eine Frage nach der Geltung eines Gebots oder
Verbots oder nach dem Wert einer Sache bezieht sich oft explizit oder implizit
auf ein System von Normen oder Werten, deren Geltung vorausgesetzt und nicht
angezweifelt wird. Es ist dann die Frage, ob die problematische Norm oder der
problematische Wert aufgrund der Umstände in diesem System gilt oder
nicht. Solche Fragen bezeichnen wir als relative Geltungsfragen. Sie
lassen sich auf logische und empirische {-41-} Fragen zurückführen" [[21]
KUTSCHERA 1973, S. 130.] Eine Norm besitzt z. B. dann Geltung, wenn sie von
einer Instanz gesetzt wurde, die durch eine existierende Norm höherer Ordnung
zur Setzung dieser Norm befugt war.
Der Begriff der Geltung einer Norm
ist also immer relativ zu einem existierenden Normensystem und über die Geltung
einer Norm kann deshalb auch immer nur relativ zu dieser übergeordneten
Norm befunden werden. Dabei spielt die Frage, ob es sich dabei um ein gültiges
Normensystem handelt, keine Rolle. Entscheidend ist allein die effektive
Existenz eines solchen Normensystems. Selbst den Anweisungen eines
Gefängnisaufsehers in einem Konzentrationslager kommt Geltung zu, insofern er
durch das existierende faschistische Rechtssystem zur Erteilung solcher
Anweisungen befugt ist. Dabei spielt die Frage der Gültigkeit des übergeordneten
Rechtssystem keine Rolle. [[22] Zur Geltung von Normen s. WRIGHT 1963, S. 194
ff. sowie KELSEN 1970, S. 10ff. Allerdings stellen beide die Frage nach der
Gültigkeit von Normen nicht. Der englische Ausdruck für "Geltung" ist bei ihnen "validity".]
Mit der Frage nach der Geltung einer bestimmten Norm in
Bezug auf ein bestimmtes existierendes Normensystem sowie möglichen Verletzungen
geltender Rechtsnormen beschäftigt sich vor allem die Rechtswissenschaft. Dabei
müssen nur Fragen nach der Existenz und dem Gehalt von Normen beantwortet
werden, ohne dass die Frage nach ihrer Gültigkeit aufgeworfen wird.
{-42-}
4.) Die Gültigkeit einer Norm soll gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden können.
Mit 'Gültigkeit' ist also immer 'Allgemeingültigkeit'
gemeint, d. h. es wird ein allgemeiner Konsens beansprucht. Wenn folglich
jemand behauptet, dass eine Norm N1 gültig ist, so macht er damit nicht nur eine
Feststellung über sich und sein eigenes Interesse wie z. B. in dem Satz: "Die
Norm N1 entspricht meinem Eigeninteresse", sondern er behauptet, dass die
Rechtfertigung der Existenz dieser Norm für jedermann nachvollziehbar
ist.
Dies bedeutet, dass die Gültigkeit einer Norm nicht relativ
zu einzelnen Subjekten bestehen kann, sondern immer "intersubjektiv" besteht.
Zwar wird eine strittige Norm von einem Individuum für gültig und vom andern für
ungültig gehalten, aber eine Norm kann nach der obigen Definition von
Gültigkeit niemals zugleich für den einen gültig und für den andern ungültig sein. Insofern bedeutet die Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm N1
eine für alle Individuen gleiche Antwort auf die Frage: "Soll die Norm N1
existieren oder nicht?"
5.) Die Existenz einer gültigen Norm soll gegen über
jedermann argumentativ gerechtfertigt werden können.
Es muss also ein argumentativer Konsens herstellbar sein
und nicht ein Konsens, in den irgendeine Form von Zwang oder Sanktion eingeht.
Über die Gültigkeit einer Norm kann also nur argumentativ entschieden werden.
Unter "Argumenten" sollen dabei nur solche sprachlichen Mitteilungen
verstanden werden, deren Wirkung auf das Urteil eines Individuums die Anerkennung {-43-} dieser Mitteilung
als richtig durch das Individuum
voraussetzt. Damit sind andere Formen der Beeinflussung wie Sanktionsdrohung
oder Suggestion ausgeschlossen. Denn dies sind entweder keine sprachlichen
Mittel, wie z. B. Anwendung von Zwang, oder aber sie bewirken auch dann eine
Veränderung der Meinung des Individuums, wenn die Mitteilung vom Individuum
nicht als richtig akzeptiert worden ist. Die Drohung "... oder ich schieße!" ist
z. B. kein Argument, denn sie bewirkt die Anerkennung jedes beliebigen Befehls,
selbst wenn das Individuum den Befehl nicht als gültig akzeptiert. [[23] Zur
näheren Charakterisierung von Argumenten s. u. § 9.]
Es wird also hier nicht gefordert, dass die Norm tatsächlich gegenüber jedermann gerechtfertigt wird - was aus verschiedenen
Gründen unmöglich ist, sondern nur dass dies möglich sein muss. Die Norm
muss also nur Konsensfähig sein, ohne dass immer ein faktischer
Konsens existieren muss.
3. Universale Gültigkeit und partikulare Rationalität von
Normen
Eine gültige Norm muss gegenüber jedermann gerechtfertigt
werden können. Insofern könnte man auch genauer von einer universalen
Gültigkeit oder Allgemeingültigkeit von Normen sprechen. Nun gibt es jedoch auch
Normen, für die nur beansprucht wird, dass sie gegenüber bestimmten
Individuen gerechtfertigt werden können. Man kann dies als {-44-} eine partikulare Gültigkeit oder als
Rationalität dieser Normen bezogen
auf bestimmte Individuen bezeichnen. In der ethischen Literatur werden Normen
mit universalem Gültigkeitsanspruch auch als "moralische Normen" bezeichnet,
während man partikular gültige Normen als "Klugheitsregeln" bezeichnet. Der
partikulare Gültigkeitsanspruch solcher Normen kann sich dabei auf ein einziges
Individuum, eine Gruppe oder eine Organisation beziehen.
Wenn es sich um Normen partikularer Art, um "Klugheitsregeln" handelt, gehen die übrigen Individuen nicht als Subjekte in
die Überlegungen ein, denen gegenüber eine Rechtfertigung möglich sein muss,
sondern sie werden nur als vorhandene Umweltbedingungen berücksichtigt, ebenso
wie etwa Situationsbedingungen rein sachlicher Art. Beispiele für solche
Normensysteme partikularer Gültigkeit sind etwa betriebswirtschaftliche oder
militärische Strategien, bei denen die anderen Subjekte nur als ökonomische
Konkurrenten oder militärische Feinde einkalkuliert werden. [[24] Mit KANT
gesprochen werden sie nur als Mittel und nicht zugleich auch als Zwecke
angesehen. S. KANT 1967, S. 79.]
Die Probleme, die sich bei der Bestimmung rationaler Normen
ergeben, sind teilweise analog zu denen, die sich bei der Bestimmung gültiger
Normen ergeben. Insofern kann die formale Entscheidungstheorie, die
gewissermaßen die Methodologie zur Aufstellung von Klugheitsregeln ist, auch für
eine normative Methodologie nützliche Hinweise geben. [[25] So kann ein
Teilkollektiv z. B. aus Individuen mit unterschiedlichen Eigeninteressen
bestehen, und wenn sich das partikulare Kollektiv so sehr "universalisiert",
dass es alle Individuen umfasst, so fallen allgemeine "Gültigkeit" und
partikulare "Rationalität" von Normen zusammen.]{-45-}
Jedoch können Verfahren partikularer Rationalität keinen
Ersatz für universal gültige Normensysteme darstellen. Die Anwendung von
Rationalkriterien auf das Handeln verschiedener Entscheidungsträger führt
nämlich nicht notwendig zu miteinander vereinbaren Handlungsverläufen, sondern
u. U. zu offenen Konflikten. Damit würde sich jedoch das Problem universal
gültiger Normen des Handelns erneut stellen, sofern man eine Rechtfertigung des
eigenen Handelns und eine argumentative Entscheidung des Streits will.
Bereits von KANT ist klar erkannt worden, dass subjektive
Rationalität bzw. Das 'Prinzip der Selbstliebe' ungeeignet ist zur Bestimmung
universal gültiger Normen bzw. 'allgemeiner praktischer Gesetze', wie KANT es
formuliert. "Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der
Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdann sind es
aber bloß theoretische Prinzipien, (z. B. wie derjenige, der gerne Brot essen
möchte, sich eine Mühle auszudenken habe). Aber praktische Vorschriften, die
sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund
des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als
allgemein auf dieselben Gegenstände gerichtet angenommen werden kann, gegründet.
[[26] KANT 1966, S. 44f. Allerdings ist KANT nicht zuzustimmen, wenn er
daraus schließt, dass die Inhalte bzw. Die 'Materie' des Willens der Individuen
bei der Bestimmung gültiger Normen überhaupt keine Rolle spielen dürfen, sondern
nur "die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung". S. Dazu unten § 31 zum
Solidaritätsprinzip, das den allgemeinen Willen aus den individuellen Willen
hervorgehen lässt.]{-46-}
Allerdings können Normensysteme partikularer Rationalität
dann indirekt einen universal gültigen Charakter annehmen, wenn sie ihre Geltung
aus einem universal gültigen Normensystem beziehen. Dabei wird dem betreffenden
Handlungsträger durch übergeordnete Normen erlaubt, in einem bestimmten Bereich
nach seinen eigenen Klugheitserwägungen zu handeln. Für eine
betriebswirtschaftliche Entscheidungstheorie kann dieser universale Rahmen etwa
durch das existierende Eigentumsrecht gegeben sein, das dem Eigentümer -
innerhalb bestimmter Beschränkungen - erlaubt, mit seinem Eigentum nach eigenem
Interesse zu verfahren.
Die Problemstellung dieser Arbeit wird sich vor allem auf
das Problem der universalen Gültigkeit von Normen beziehen und Normen
partikularer Rationalität nur heranziehen, wenn diese hierfür von Bedeutung
sind. Wenn deshalb im Folgenden von "Gültigkeit" die Rede ist, so ist damit
immer die universale Gültigkeit bzw. Allgemeingültigkeit gemeint.{-47-}
3. Kapitel
Das
Intersubjektivitätsgebot der normativen Methodologie
§ 7 Das Intersubjektivitätsgebot
Wie lässt sich nun die Gültigkeit einer Norm begründen, wie lässt sich ihre
Existenz argumentativ gegenüber jedermann rechtfertigen? Das bloße faktische "Für-gültig-halten"
und die einfache Zustimmung zu einer Norm reichen offensichtlich nicht aus, denn
die Individuen können unterschiedlicher Meinung über die Gültigkeit einer Norm
sein. Diese Uneinigkeit ist ja der Grund dafür, dass das Gültigkeitsproblem
überhaupt aufgeworfen wird: Ausgangspunkt der Überlegungen ist gerade der
Streit um Normen.
Eine andere Möglichkeit zum Nachweis der Gültigkeit einer
Norm bestünde darin, dass man diese Norm logisch aus einer übergeordneten
gültigen Norm deduziert. Da man aber dann die Gültigkeit dieser normativen
Prämisse begründen müsste, wäre das Problem dadurch höchstens verschoben aber
nicht gelöst. Man stände dann vor dem Dilemma, entweder einen unendlichen
Regress vorzunehmen oder aber an einer bestimmten Stelle diesen Regress
abzubrechen und durch eine willkürliche Setzung bestimmte oberste Normen
einzuführen. [[1] Dies Argument wird z. B. bei ALBERT 1969, S. 13 angeführt.]
Wie lässt sich nun dies scheinbar aussichtslose Dilemma
auflösen? Lässt sich eine Norm finden, die jeder für gültig halten und als
verbindlich für sein Handeln anerkennen muss, der sich an der Argumentation über
{-48-} die Gültigkeit von Normen beteiligt? Falls eine solche Norm gefunden
werden kann, könnte sie als methodisches Kriterium dienen, um über die
Gültigkeit von Normen zu entscheiden.
Tatsächlich lässt sich eine solche oberste
methodische Norm bestimmen. Sie lässt sich sehr einfach in dem Satz: "Suche
nach gültigen Normen !" zusammenfassen. Diese Norm soll im Folgenden als
Intersubjektivitätsgebot der normativen Methodologie bezeichnet werden, da
es sich um das Gebot handelt, zu Normen zu gelangen, die auch andere
Subjekte aufgrund von Argumenten anerkennen können. Alle Normen bzw.
Rechtfertigungen von Normen, die mit dem Intersubjektivitätsgebot nicht
vereinbar sind, wären damit als ungültig erwiesen.
Ein ähnliches Kriterium, wie das Intersubjektivitätsgebot
ist bereits von verschiedenen Autoren formuliert worden. LORENZEN spricht z. B.
von der Forderung nach "Transzendierung der Subjektivität" bzw. Dem "Grundgesetz
der Transsubjektivität". [[2] "Um einen Terminus zu haben, der sich an die
philosophische Tradition anschließt, sei hier die - zunächst nur für die
Wahrheit von Aussagen - geforderte Überwindung der Subjektivität auch
'Transzendenz der Subjektivität', abkürzend 'Transsubjektivität' genannt... Mit
dem Terminus 'Transsubjektivität' wird nur das festgehalten, worauf sich jeder
'immer schon' eingelassen hat, wenn er sich z. B. überhaupt auf ernsthafte
Gespräche eingelassen hat - ja sogar 'immer schon', wenn er überhaupt zu reden
begonnen hat." LORENZEN 1974, S. 35f. ]
Es erscheint jedoch sinnvoll, von Intersubjektivität
zu sprechen, weil Transsubjektivität so verstanden werden könnte, als gäbe
es ein Gültigkeitskriterium "über" oder "jenseits" der Individuen. "Gültigkeit"
ist jedoch wie empirische "Wahrheit" eine Angelegenheit "zwischen" den
Individuen. Der Anspruch {-49-} auf Gültigkeit der vertretenen Normen ist ein
Anspruch eines Individuums gegenüber einem anderen, er konstituiert
gewissermaßen ein gesellschaftliches Verhältnis.
Außerdem soll die Verwandtschaft des normativen
Intersubjektivitätsgebots mit dem entsprechenden Intersubjektivitätsgebot der
empirischen Methodologie hervorgehoben werden. Wie im Folgenden noch deutlich
werden wird, verläuft die kritische Anwendung des normativen
Intersubjektivitätsgebots weitgehend analog zu der Kritik an
Immunisierungsstrategien in den Erfahrungswissenschaften.
HABERMAS formuliert ein ähnliches Kriterium wie das
Intersubjektivitätsgebot, wenn er als Ziel von praktischen Diskursen, die der
Rechtfertigung empfohlener Normen dienen, "eine rational motivierte Entscheidung
über die Anerkennung (oder Ablehnung) von diskursiv einlösbaren
Geltungsansprüchen" nennt. "Was die rational motivierte Anerkennung des
Geltungsanspruchs einer Handlungsnorm bedeutet, geht aus dem diskursiven
Verfahren der Motivierung hervor." Ein Diskurs ist dabei unter anderem dadurch
ausgezeichnet, "dass kein Zwang außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird:
dass infolgedessen alle Motive außer dem der kooperativen Wahrheitssuche
ausgeschlossen sind." [[3] HABERMAS 1973, S. 148 ]
Allerdings will HABERMAS die Bedingungen eines derartigen
Diskurses nicht als methodologische Kriterien normativer Erkenntnis verstanden
wissen, die ausdrücklich aufgestellt {-50-}werden müssen. Er sieht sie bereits
in der Umgangssprache verankert, die insofern eine Art transzendentale Basis der
Erkenntnis darstellt: "Eine kognitivistische Sprachethik bedarf keines Prinzips;
sie stützt sich allein auf Grundnormen der vernünftigen Rede, die wir, sofern
wir überhaupt Diskurse führen, immer schon supponieren müssen." [[4] HABERMAS
1973, S. 152. Zum Unterschied der Auffassungen LORENZENs und HABERMAS siehe
KAMBARTEL 1974c, S. 9ff.]
Das oben formulierte Intersubjektivitätsgebot
lässt sich in der Terminologie von HABERMAS als die Aufforderung formulieren,
normative Streitfragen diskursiv zu entscheiden. Wenn das
Intersubjektivitätsgebot von jedem Beteiligten verlangt, nach einem
argumentativen Konsens zu streben, so ist damit eine Abgrenzung zu einem bloß
erzwungenen Gehorsam vollzogen und "die entscheidende Differenz zwischen dem
Gehorsam gegenüber konkreten Befehlen und der Befolgung von intersubjektiv
anerkannten Normen " [[5] HABERMAS 1973, S. 143 ] benannt.
§ 8 Die Begründung des Intersubjektivitätsgebots
Wie lässt sich nun das Intersubjektivitätsgebot "Suche nach
gültigen Normen!" bzw. "Suche nach Normen, die argumentativ konsensfähig
sind!" als verbindlich für jedes Individuum nachweisen, das sich an der
Argumentation über die Gültigkeit von Normen beteiligt? Die Antwort lautet, dass
es sinnlos ist, mit jemandem über die Gültigkeit von Normen zu diskutieren, dem
es gar nicht um die Gültigkeit von Normen geht und der nicht zumindest für die
von ihm vertretenen Normen nicht nur Gehorsam, sondern auch intersubjektive
Gültigkeit beansprucht.
Wenn jemand für {-51-} seine Normen keine Gültigkeit
beansprucht, so braucht auch nicht dagegen argumentiert zu werden. Seine
Auffassungen können einem insoweit "gleichgültig" sein.[[6] In
ähnlicher Weise kann man auch nicht über Aussagen streiten, die nicht "Wahrheit"
beanspruchen. Wenn jemand sagt: "Für mich ist der Ball grün" so ist es sinnlos,
mit ihm darüber zu streiten. Etwas anderes ist es, wenn er allgemein sagt: "Der
Ball ist grün" und damit für mich die Aufforderung verbindet, diesen Satz zu
übernehmen].
Wenn er aber trotzdem seine Normen mir gegenüber durchsetzen will, so ist
das dann keine Frage von Argumenten mehr, sondern höchstens eine Frage der
Macht. Jemand, der für die von ihm vertretenen Normen keine Gültigkeit
beansprucht, sondern allein Gehorsam, hat damit sein Verhältnis zu den
Adressaten der Norm als ein reines Gewaltverhältnis definiert, gegen das man
sich mit andern Mitteln als Argumenten zur Wehr setzen muss.
Es ist also festzuhalten: Das Intersubjektivitätsgebot kann
zwar nicht als gültig für jedes Individuum nachgewiesen werden, aber es kann
gezeigt werden, dass eine normative Argumentation nur dann sinnvoll ist, wenn
alle Teilnehmer das Intersubjektivitätsgebot als für sich verbindlich
anerkennen. Wer jedoch gar nicht argumentieren will, kann auch nicht Quelle von
allgemeingültiger Kritik sein und braucht bei Erkenntnisproblemen nicht
berücksichtigt zu werden.[[7] Die Problemsituation ähnelt dem von POPPER
analysierten Dilemma, "Rationalität" zu rechtfertigen gegenüber einem
Irrationalisten. Vgl. POPPER 1966, Bd. II, S.228ff. Vgl. auch ALBERT 1969, S.13
. Allerdings unterscheidet sich der Lösungsweg: ALBERT meint, überhaupt auf das
Ziel der Rechtfertigung verzichten zu müssen, während hier die Position
vertreten wird, dass nur gegenüber demjenigen eine Rechtfertigung bzw.
Argumentation unmöglich aber auch unnötig ist, der das Intersubjektivitätsgebot
nicht anerkennt.] {-52-}
Ähnlich begründet APEL ein derartiges oberstes Prinzip: "Wer die m. E. durchaus sinnvolle Frage nach der Rechtfertigung des
Moralprinzips stellt, der nimmt ja schon an der Diskussion teil, und man kann
ihm 'einsichtig machen', was er 'immer schon als Grundprinzip akzeptiert hat und
dass er dies Prinzip als Bedingung der Möglichkeit und Gültigkeit der
Argumentation durch willentliche Bekräftigung akzeptieren soll. Wer dies
nicht einsieht bzw. nicht akzeptiert, der scheidet damit aus der Diskussion aus.
Wer aber nicht an der Diskussion teilnimmt, der kann überhaupt nicht die Frage
nach der Rechtfertigung ethischer Grundprinzipien stellen ..." [[8] APEL
1973, S. 420f.]
Damit ist ein für alle normativ Argumentierenden
verbindliches methodologisches Kriterium aufgestellt worden. Die Frage wird im
Folgenden sein, wie sich dies Kriterium - auch unter Zuhilfenahme weiterer
begründeter Annahmen - entfalten lässt und damit zu einer Überprüfung konkreter
Normen geeignet ist.
§ 9 Beweggründe und Vernunftgründe
Im Intersubjektivitätsgebot ist die Unterscheidung zwischen
bloßen Beweggründen (Motiven) und Vernunftgründen (Argumenten) enthalten, wobei
das Intersubjektivitätsgebot fordert, zur Herstellung eines Konsens bei der
Beantwortung der gestellten Fragen nur Vernunftgründe anzuwenden. Insofern wird
durch das Intersubjektivitätsgebot ein argumentativer Konsens
gefordert. Die Frage ist, was Vernunftgründe gegenüber bloßen Beweggründen
auszeichnet. {-53-}
Vorweg ist festzuhalten, dass auch Vernunftgründe
Beweggründe sein können, denn ich kann jemanden auch mit Vernunftgründen zur
Bejahung oder Verneinung einer Behauptung "bewegen". Voraussetzung dafür ist,
dass er überhaupt für Argumente zugänglich ist und bereits das Motiv hat,
dem Intersubjektivitätsgebot entsprechend zu verfahren. Sein Wille zur
Wahrheitssuche bzw. zur Gewinnung allgemeingültiger Erkenntnis muss also bereits
eine solche Stärke haben, dass er auch "eingefleischte" Ansichten und
Denkgewohnheiten aufgrund von Argumenten aufgeben kann. Ein Vernunftgrund nimmt
seine motivierende Kraft also aus dem übergeordneten Motiv, nach
allgemeingültiger Erkenntnis zu streben, auch wenn sie subjektiv unangenehm sein
mag.
Dies Motiv zur Vernunft kann keineswegs bei jedem
Individuum als in ausreichender Stärke vorhanden vorausgesetzt werden.
(Allerdings kann es von jedem gefordert werden, der für bestimmte Erkenntnisse
Allgemeingültigkeit behauptet oder bestreitet). Sein Aufbau in der Person ist
eher als Ergebnis einer kulturellen Anstrengung zu verstehen, die aufgrund von
Erziehung und Selbsterziehung eine 'intellektuelle Redlichkeit' erzeugt, die zur
jederzeitigen Korrektur argumentativ nicht haltbarer Auffassungen bereit ist.
Insofern der Wille zur Wahrheitssuche jedoch ungenügend entwickelt ist, sind
Argumentationen zum Scheitern verurteilt.[[9] Damit ist auch eine Grenze für
die praktische Wirksamkeit wissenschaftlicher Argumentation und damit auch für
eine Arbeit wie diese angezeigt. Es wird also keineswegs von einem naiven
Glauben an die Wirksamkeit vernünftiger Argumentation ausgegangen.] {-54-}
Was zeichnet nun Vernunftgründe gegenüber sonstigen
Beweggründen aus? Beide können Individuen zur Bejahung oder Verneinung einer
Behauptung motivieren. Aber warum ist z. B. Die Drohung, jemand werde seine
berufliche Stellung verlieren, wenn er nicht einer bestimmten Auffassung
zustimmt, zwar für das betreffende Individuum vielleicht ein Motiv, der
Auffassung zuzustimmen, jedoch kein Argument?
Eine Drohung oder eine andere Form der Gewaltanwendung kann
zwar ein Beweggrund aber kein Vernunftgrund sein, weil die dadurch erzeugt
Bejahung oder Verneinung einer Behauptung nicht dem eigenen Urteil des
betreffenden Individuums entspricht, sondern den Konsens mittels irgendeiner
Form von Gewalt herstellt. Ein Argument muss gewaltfrei intersubjektiv
nachvollziehbar sein und muss vom andern aus freiem Urteilsvermögen geteilt
werden können. Oder anders ausgedrückt: ein Vernunftgrund liegt im betreffenden
Individuum selber und beruht nicht auf der Einwirkung eines fremden Willens.
Das von fremdem Willen unabhängige Urteilsvermögen eines
Individuums drückt sich darin aus, dass Argumente nur unter der Bedingung
als Beweggrund wirken wollen, dass sie vom Individuum selbst anerkannt werden.
Nur wenn das Individuum gegenüber einem Einfluss auf seine Auffassungen
prinzipiell die Möglichkeit hat, 'nein' zu sagen und dadurch diesen Einfluss
aufzuheben, handelt es sich um ein Argument. Eine Drohung oder eine manipulative
Suggestion wirkt jedoch selbst dann als Beweggrund, wenn sie vom Individuum
nicht selber anerkannt werden. {-55-}
Dies kann noch einmal durch ein Beispiel aus der
empirischen Methodologie verdeutlicht werden. Zu den "schlagendsten" Argumenten
in Auseinandersetzungen um Behauptungen über die Beschaffenheit der Realität
gehört der Hinweis: "Überzeuge dich doch selbst mit deinen eigenen Augen von der
Richtigkeit meiner Behauptung!" Ein solches Argument enthält keinerlei Elemente
von Gewalt oder Zwang. Trotzdem führt es gewöhnlich zu einem Konsens aller
Beteiligten in empirischen Fragen, insofern die subjektiven Wahrnehmungen der
Individuen übereinstimmen. Dabei ist das kritische Urteilsvermögen der
Individuen nicht ausgeschaltet oder umgangen worden, sondern die Individuen
haben aufgrund ihres eigenen Sinneseindrucks das Argument akzeptiert. Die
Entscheidung darüber, ob sie der Behauptung zustimmen oder sie ablehnen, war
damit nicht vom Willen eines andern Individuums abhängig.
Wo dagegen das kritische Urteilsvermögen eines Individuums
durch Sanktionen oder Sanktionsdrohungen unterdrückt oder durch suggestive
Manipulation umgangen wird, wird das Individuum nicht mehr durch Vernunftgründe
zur Übereinstimmung bewegt. Ein derart erzielter Konsens kann deshalb nicht
als vernünftiger oder argumentativer Konsens gelten. [[10] Im gleichen Sinne
wird von KAMBARTEL die Bedingung der Zwanglosigkeit des erstrebten
Konsens betont. S. KAMBARTEL 1974c, S.66. HABERMAS fordert, "dass kein Zwang
außer dem des besseren Argumentes ausgeübt wird." S. HABERMAS 1973, S. 148.]{-56-}
§ 10 Möglichkeiten des Dialogs jenseits der Argumentation
Das Intersubjektivitätsgebot hat die Aufgabe, eine Grenze zu markieren, jenseits
derer eine Argumentation mit dem Ziel, die gestellten Fragen allgemeingültig zu
beantworten, sinnlos wird. Wenn eine der Parteien mit andern Mitteln als
gewaltfrei nachvollziehbaren Gründen die Zustimmung zu ihren eigenen oder die
Ablehnung fremder Behauptungen zu erreichen sucht, ist auch für die übrigen
Beteiligten eine Argumentation sinnlos geworden. Das bedeutet jedoch nicht, dass
damit auch jede andere Form des Dialogs sinnlos geworden ist.
Eine weiterhin mögliche Form des Dialogs ist das
überredende oder persuasive Gespräch. (S. dazu unten näher §19). Auch
wenn es dem andern offensichtlich nicht um die intersubjektiv nachvollziehbare
Begründung von Behauptungen geht, kann man weiterhin versuchen, eine
Berücksichtigung der eigenen Position zu erreichen, indem man "Gründe" nennt,
die man zwar selber nicht unbedingt für gültig hält, von denen man sich aber
eine geeignete Wirkung auf den andern verspricht. Ein Beispiel dafür wäre es,
wenn man gegenüber jemandem, der unkritisch einem bestimmten Glauben anhängt,
mit Zitaten aus dessen eigenen "heiligen Büchern" und Ansprüchen der von ihm
anerkannten Autoritäten operiert. [[11] Zur Kritik der Überredung s. u. §19.
]{-57-}
Neben dem überredenden Gespräch sind noch eine Reihe
anderer Formen des Dialogs jenseits der eigentlichen Argumentation möglich.
Erwähnt seien hier vor allem der pädagogische und der therapeutische Dialog, bei
dem es darum geht, bei einem Individuum erst die Fähigkeit zu bestimmten
argumentativen Auseinandersetzungen herzustellen; sei es durch den Abbau von
Vorurteilen und anderen emotional verankerten und argumentativ unbeeinflussbaren
Auffassungen, sei es durch die Vermittlung der erforderlichen sprachlichen und
intellektuellen Mittel für den Nachvollzug einer Argumentation oder sei es durch
den Abbau von Einstellungen wie Misstrauen, Angst, Aggression usw., die eine
aufrichtige und sachliche Argumentation stören oder gar verhindern.
In der Praxis können sich verschiedene Formen der
Kommunikation mischen, aber für die Zwecke einer Methodenlehre der Erkenntnis
ist es wichtig, die argumentative Auseinandersetzung, bei der es um die
Gewinnung allgemeingültiger Erkenntnis geht, begrifflich klar von andern Formen
des Dialogs zu unterscheiden.[[12] Vgl. zu den Unterschieden von Diskursen
mit dem alleinigen Motiv der Wahrheitssuche zu anderen Dialogformen auch die
Ausführungen von HABERMAS. "Ein gelingender therapeutischer 'Diskurs' hat erst
zum Ergebnis, was für den gewöhnlichen Diskurs von Anfang an gefordert werden
muss; die effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung von Dialogrollen,
überhaupt der Wahl und Ausübung von Sprechakten, muss zwischen den ungleich
ausgestatteten Partnern erst hergestellt werden." HABERMAS 1971, S. 29.]{-58-}
§ 11 Das Intersubjektivitätsgebot und das Hobbessche "Friedensgebot"
Das Intersubjektivitätsgebot hat auch eine gewisse
Verwandtschaft mit der von HOBBES formulierten 'allgemeinen Regel der Vernunft': "Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann
er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des
Krieges verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das
erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn
ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir
sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen."
[[13] HOBBES 1968, S. 190.]
Während HOBBES als oberstes Gebot formuliert: "Suche den
Frieden!" kann man das Intersubjektivitätsgebot formulieren als "Suche einen
argumentativen Konsens!", wobei der argumentative Konsens gerade dadurch
gekennzeichnet ist, dass er ohne gewaltsame Brechung oder Ausschaltung des
individuellen Willens zustande kommt, also gewaltfrei ist. Insofern entspricht
der argumentative Konsens einer "friedlichen" Einigung, die mehr ist als ein
bloßes Gleichgewicht der Gewalt. Auch HOBBES versteht unter 'Frieden' bzw. dem
Gegenbegriff 'Krieg' mehr als die Abwesenheit oder Anwesenheit von offenen
Gewaltanwendungen: "... so besteht das Wesen des Krieges nicht in tatsächlichen
Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen
Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere {-59-}
Zeit ist F r i e d e n. Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen,
in denen jeder eines andern Feind ist, auch für die Zeit zu, während der die
Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene
Stärke und Erfindungskraft bietet." [[14] HOBBES 1968, S .186]
HOBBES hat auch bereits gesehen, dass es jenseits eines "friedlichen" bzw. argumentativen Konsens keinerlei normative Argumente mehr
geben kann. Wer selber den Boden argumentativer Einigung verlassen hat und das
Intersubjektivitätsgebot nicht anerkennt, kann auch niemandem mehr Vorwürfe
machen bzw. ihn kritisieren, weil dies wiederum den Anspruch intersubjektiv
gültiger Argumente voraussetzt. Wer in den Worten von HOBBES gesprochen den
Frieden nicht sucht, sondern den Krieg erklärt, hat höchstens Gewaltmittel aber
keine Argumente mehr dagegen, dass auch der andere sich mit "allen zur Verfügung
stehenden Mitteln" verteidigt. HOBBES schreibt: "Eine weitere Folge des Krieges
eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von
Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo
keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine
Ungerechtigkeit. .. Sie (Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, E.W.) sind
Eigenschaften, die sich auf den in der Gesellschaft, nicht in der Einsamkeit
befindlichen Menschen beziehen." [[15] HOBBES 1968, S. 168.] {-60-}
Wenn keine Hoffnung auf eine "friedliche" bzw.
argumentative Einigung besteht, weil der andere nicht nach einem argumentativen
Konsens strebt, sondern Streit mit gewaltsamen Mitteln entscheiden will, so
ist die Ebene der Argumentation verlassen und "wir sind befugt, uns mit allen
zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen", wie HOBBES schreibt.
Allerdings soll über diesen Parallelen nicht vergessen
werden, dass HOBBES sein Vernunftgebot nicht aus den Bedingungen
intersubjektiver Argumentation entwickelt, sondern aus dem Eigeninteresse jedes
Individuums an der Erhaltung seines Lebens und an den Vorteilen gesicherten
Eigentums sowie den in der menschlichen Natur liegenden Konfliktursachen wie
Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht.[[16] Zu den Problemen einer solchen "egoistischen" Begründung von allgemeingültigen Normen s. u. § 29/1.]
§ 12 Das Intersubjektivitätsgebot und die monologische Auffassung von Gültigkeit
Nun könnte jemand die Position vertreten, dass es ihm zwar
um die allgemeine Gültigkeit von Normen gehe, dass diese Gültigkeit aber nicht
von der Anerkennbarkeit durch andere Individuen abhängig sei und dass es
insofern nicht um eine intersubjektive Gültigkeit gehe, sondern um eine "objektive" Gültigkeit. Entsprechend dieser Position existiert die Gültigkeit von
Behauptungen unabhängig davon, ob andere Individuen diese Gültigkeit
nachvollziehen können oder nicht.{-61-}
Eine solche "objektivistische" bzw. monologische Auffassung
von Gültigkeit (bzw. Wahrheit), die sich von der Anerkennbarkeit durch die
andern Subjekte völlig gelöst hat, erscheint jedoch argumentativ unhaltbar.
Mit einem Vertreter dieser monologischen Auffassung über
die Gültigkeit von Normen zu diskutieren, ist sinnlos. Ein Anspruch auf die
Gültigkeit einer Norm, der gegenüber einem Individuum erhoben wird, unabhängig
davon, ob dies Individuum die Rechtfertigung der Norm argumentativ
nachvollziehen kann oder nicht, ist ein verbal verschleiertes
Gewaltverhältnis.
Natürlich steht es jedermann frei, "Gültigkeit" (oder
Wahrheit) ohne Bezug auf die Anerkennbarkeit durch andere Subjekte rein
monologisch zu definieren, aber mit einer solchen Definition hat der Betreffende
zugleich jede dialogische Argumentation sinnlos gemacht. Man wird ihn bei seinem
Selbstgespräch über "Gültigkeit" sinnvoller Weise allein lassen.
Mit der Feststellung, dass eine bestimmte Position im
wahrsten Sinne des Wortes "indiskutabel" ist, ist die Aufgabe der theoretischen
Kritik jedoch erfüllt. Es reicht, wenn die objektivistische Position als die
verbale Verschleierung eines aktuellen oder potentiellen Gewaltverhältnisses
identifiziert ist. Die Bekämpfung von als solchen identifizierten
Gewaltverhältnissen ist keine Sache der besseren Argumente mehr, sondern bedarf
anderer Mittel. Argumentieren kann man nur gegen die Rechtfertigung von
Gewalt, aber nicht gegen Gewalt selber. {-62-}
§ 13 Das Intersubjektivitätsgebot und die Berufung auf den Willen überindividueller Subjekte
In ähnlicher Weise sind auch Positionen problematisch, die
das einzelne Individuum als Bezugspunkt von Gültigkeit bzw. Wahrheit ablehnen
und statt dessen nur bestimmten überindividuellen Wesenheiten wie dem Staat, dem
Volk, der Rasse, der Klasse, der Partei oder der Kirche einen Zugang zur
Wahrheit zuschreiben. Gegenüber den Entscheidungen dieser 'Supersubjekte' - oder
genauer: gegenüber den Entscheidungen derjenigen Individuen, die als Interpreten
dieser Supersubjekte auftreten - wird die Kritik einzelner Individuen zur
vernachlässigbaren Größe erklärt, wie das etwa in der nationalsozialistischen
Parole zum Ausdruck kommt: "Du bist nichts, dein Volk ist alles!"
BARKER macht diese Eliminierung des Individuums als Träger eines selbständigen
Denkens und Wollens am Beispiel der nationalsozialistischen Rassetheorie
deutlich: "Nach dieser Lehre wird das Individuum in der Gesamtheit seines Seins
durch seine Rasse gefärbt. Es ist bestimmt durch dies eine Faktum; in all seinem
Tun und Denken wird es auf den rassischen Mittelpunkt hingezogen. Es kann keine
verschiedenen Strömungen des sozialen Denkens geben, die sich in
unterschiedlichen Programmen und Parteien ausdrücken, die sich im Prozess von
Diskussion und Kompromiss begegnen: Es kann nur das Eine geben - das Volk, das
zugleich eine Rasse ist und das ein Volk aufgrund einer Rasse ist. Vor diesem
zentripetalen Impetus verschwinden alle Unterschiede." [[17] BARKER 1967, S.
380.]{-63-}
Man entledigt sich des Gebots zur Suche nach intersubjektiv
gültigen Normen und siedelt die Kriterien der Gültigkeit auf einer "höheren",
nicht jedermann im Prinzip zugänglichen Ebene an. Damit wird das Individuum als
Träger von Kritik eliminiert, es kann nicht mehr eigenständig argumentieren.
Damit ist jedoch das Intersubjektivitätsgebot verletzt und
eine Argumentation ist sinnlos geworden. Wenn die Gültigkeit von Normen auf
einer Ebene bestimmt wird, die dem Argumentationspartner unzugänglich ist, dann
handelt es sich um eine Pseudoargumentation, denn sie hebt die Bedingungen der
Argumentation selber auf, die u. a. darin bestehen, dass jeder den andern als
möglichen Träger richtiger Argumente anerkennt und dass sich jeder um die
gewaltfreie Nachvollziehbarkeit der eigenen Argumente durch den andern bemühen
muss.
§ 14 Intersubjektivitätsgebot, pauschale Unmündigkeitserklärung und totaler Ideologieverdacht
Gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen auch
Positionen, die ein pauschales Unmündigkeitspostulat oder einen pauschalen
Ideologievorwurf gegenüber bestimmten Individuen enthalten. Wenn etwa einem
Individuum aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Klasse,
Geschlecht etc. prinzipiell die Fähigkeit abgesprochen wird, Träger gültiger
Argumente zu sein, so ist damit die Bedingung der Argumentation aufgehoben. Denn
jedem kritischen Argument des derart für unmündig Erklärten kann
entgegengehalten werden, dass die Meinung eines Unmündigen nicht zähle, denn er
sei zum Erkennen der Wahrheit nicht fähig, er habe ein "falsches Bewusstsein"
usw. Mit Hilfe einer solchen pauschalen Unmündigkeitsbehauptung kann sich jemand
gegen jede Form von Kritik {-64-} seitens der Entmündigten immunisieren.
Damit werden jedoch die Bedingungen der Argumentation
aufgehoben, und da man sich des Anspruchs entledigt hat, die eigene Position
gegenüber jedermann rechtfertigen zu können, wird der Anspruch auf universale
Gültigkeit und Allgemeinverbindlichkeit gegenüber den Entmündigten zu einem
bloßen Gewaltverhältnis, das höchstens durch Pseudoargumente verbal verschleiert
wird.[[18] Zum Problem der Unmündigkeit von Individuen s. u.10. Kapitel.]
§ 15 Intersubjektivitätsgebot und unzulässige Personalisierung der Auseinandersetzung
Ein Verstoß gegen das Intersubjektivitätsgebot liegt immer
dann vor, wenn Argumente dadurch abgewehrt werden, dass auf die personelle
Herkunft der Argumente Bezug genommen wird, indem derjenige, der ein Argument
vorbringt, etwa als unglaubwürdig, interessegebunden, böswillig, unmündig etc.
dargestellt wird. Solche Personalisierungen der Argumentation durch die
Verlagerung der Diskussion von der Kritik der Argumente zu Behauptungen über den
Argumentationspartner kann höchstens einen Verdacht begründen, dass die
Argumente in bestimmter Weise fehlerhaft sind, damit kann jedoch keine
Widerlegung der Argumente und ihre Ablehnung begründet werden.
Dies ergibt sich
daraus, dass eine solche personalisierte Argumentation nicht für jedermann
nachvollziehbar die Argumente widerlegt. Wenn die gleichen {-65-}
Argumente nämlich von jemand anders vorgebracht werden, so kann u. U. Die
Personalisierung gegenüber diesem nicht angewandt werden. Personalisierte
Argumente können durch ihre notwendig beschränkte Anwendbarkeit auf bestimmte
Individuen keine generelle Ablehnung von Argumenten rechtfertigen.
Ein solcher Schluss von der Herkunft, der Genese
eines Arguments auf seine Gültigkeit ist auch deshalb prinzipiell
unmöglich, weil die Gültigkeit eines Arguments allein davon abhängt, ob es
gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann und Konsensfähig ist. Dies
lässt sich jedoch unabhängig davon feststellen, von wem dies Argument stammt.
Andernfalls könnte man z. B. Argumente anonymer Herkunft, z. B. aus Büchern mit
unbekanntem Verfasser, gar nicht auf ihre Gültigkeit überprüfen, was eine
geradezu komische Konsequenz für die wissenschaftliche Diskussion hätte.
Personalisierte Argumente kommen dabei nicht nur in
negativer Form, sondern auch in positiver Form vor. In diesem Fall gilt die
personelle Herkunft eines Arguments nun als eine Bestätigung dieses Arguments,
weil die betreffende Person als besonders glaubwürdig, gelehrt, "objektiv" etc.
in dieser Frage gilt. Die Feststellung einer besonderen Autorität des
Urhebers eines Arguments kann jedoch die Richtigkeit eines Arguments ebenfalls
nicht belegen, sondern aus den oben angegebenen Gründen höchstens die Vermutung
der Richtigkeit begründen. Auch Zitate von Autoritäten sind keine Beweise.
Argumente werden weder richtig noch falsch durch die Person desjenigen, der sie
vorbringt.
Ein in ähnlicher Weise unzulässiger Schluss von der Genese
{-66-} eines Arguments auf seine Gültigkeit wird dann vorgenommen, wenn von dem
Alter eines Arguments auf seine Gültigkeit geschlossen wird, etwa indem
man allein mit dem Hinweis auf den Zeitpunkt der Entstehung ein Argument als "veraltet" und "überholt" bezeichnet. Das Alter eines Arguments kann weder seine
Richtigkeit noch seine Falschheit erweisen. In ähnlicher Weise fordert auch
SCHWEMMER, "dass die Berufung auf irgendwelche Autoritäten oder Traditionen,
d. h. die Berufung auf die Behauptungen oder Vorschläge bestimmter Personen, die
nicht mehr kritisch - d. h. hier auf ihre Annehmbarkeit hin - hinterfragt werden
dürfen, nicht zugelassen werden soll." [[19] SCHWEMMER 1973, S. 75.]
§ 16 Intersubjektivitätsgebot und Sanktionsverbot
Das Intersubjektivitätsgebot fordert die Suche nach Normen,
deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden
kann. Daraus folgt, dass es verboten ist, die Zustimmung zu einer Norm durch
Sanktionen bzw. Sanktionsdrohungen zu erzwingen. Mit jemandem, der dies
Sanktionsverbot nicht anerkennt und die Position vertritt, dass eine Einigung
notfalls durch Zwang herzustellen sei, ist eine Diskussion sinnlos geworden. Er
hat damit sein Verhältnis zu den andern Individuen als ein Gewaltverhältnis
bestimmt, denn die Einigung über eine Norm ist für ihn keine Frage der
intersubjektiv nachvollziehbaren Argumente, sondern des gezielten Zwangs. [[20]
In ähnlicher Weise fordern HABERMAS und KAMBARTEL einen 'herrschaftsfreien
Diskurs' bzw. einen 'zwanglosen Dialog'. S. HABERMAS 1973, S.1 u.8 und KAMBARTEL
1974, S. 66ff. ]{-67-}
Es gilt in diesem Fall dasselbe wie beim
Intersubjektivitätsgebot selber: man kann zwar einem Individuum nicht zwingend
beweisen, dass die Zustimmung der andern nicht erzwungen werden darf,
aber diesem Individuum gegenüber ist bereits jeder Beweis und
Argumentationsversuch sinnlos und überflüssig geworden. Wenn jemand z. B. bei
einer Meinungsverschiedenheit seiner Auffassung durch die Androhung von Prügel
für den Andersdenkenden Nachdruck verleiht, so kann man höchstens noch
feststellen, dass "Prügel keine Argumente sind", aber damit ist klar, dass es
hier nicht um die besseren Argumente sondern um die stärkeren Fäuste geht.
Mit diesem Kriterium werden auch andere Formen der
nichtargumentativen Beeinflussung als unzulässig bestimmt, die ebenfalls mit
einer Ausschaltung oder Umgehung der Kritikfähigkeit des Adressaten
verbunden sind. Hierzu sind etwa Formen der Suggestion und des Appells an
unbewusste Motive zu rechnen. Gegenüber einer nicht-argumentativen Beeinflussung
ist es sinnlos, zu argumentieren. Dies kann man nur gegen andere Argumente.
Gegen solche Beeinflussungen muss man sich mit andern Mitteln wehren. {-68-}
§ 17 Intersubjektivitätsgebot und Begründungsgebot
Aus dem Intersubjektivitätsgebot lässt sich als weiteres
Gebot ableiten, dass jeder seine Zustimmung oder Ablehnung einer Norm mit
Argumenten zu begründen hat, falls diese strittig ist. Dies kann als "Begründungsgebot" bezeichnet werden. Besteht nämlich Uneinigkeit in der
Beurteilung der Gültigkeit einer Norm (und dies war ja der Ausgangspunkt der
gesamten Überlegungen), so steht Willensäußerung gegen Willensäußerung. Da es
jedoch entsprechend dem Intersubjektivitätsgebot die Aufgabe ist, nach allgemein
gültigen Normen zu suchen, so muss jede vorgebrachte Norm beanspruchen,
Gültigkeit zu besitzen. Dieser Anspruch kann jedoch nur dadurch eingelöst
werden, dass der Versuch einer argumentativen Rechtfertigung dieser Norm gemacht
wird. [[21] Dies entspricht dem "Gebot der Unvoreingenommenheit" bei KAMBARTEL. S. KAMBARTEL 1974c, S. 66ff.]
Dabei darf "Begründung" nicht nur logisch-deduktiv
verstanden werden, obwohl die Begründung einer Behauptung durch ihre logische
Ableitung aus anderen Behauptungen sicherlich eine sehr wichtige Rolle spielt,
denn mit Hilfe logischer Schlüsse lässt sich die Wahrheit bzw. Gültigkeit der
Prämissen auf die Konklusionen übertragen. Allerdings muss immer die Wahrheit
der Prämissen vorausgesetzt werden. Wenn man Begründung rein logisch versteht,
dann muss das von ALBERT analysierte Trilemma auftreten, weil man dann nur die
Wahl zwischen drei unakzeptablen Alternativen {-69-} hat: dem infiniten Regress
auf immer neue Prämissen; dem logischen Zirkel oder dem Abbruch des Verfahrens
an einem willkürlichen Punkt. [[22] S. ALBERT 1969, S. 13f. ALBERT zieht
daraus den Schluss, dass man das Postulat der Begründung überhaupt aufgeben
müsse und durch das methodologische Prinzip der kritischen Prüfung ersetzen
müsse. S. ALBERT 1969, S. 29ff.]
Wenn man jedoch nicht nur logisch-deduktive Formen der
Begründung akzeptiert, so ist es keineswegs als "Dogmatismus" aufzufassen, wenn
der Begründungsstrang an bestimmten Behauptungen endet, über die sich
außerlogisch ein intersubjektiver Konsens herstellen lässt. So lässt sich bei
empirischen Fragen gewöhnlich ein unmittelbarer Konsens über beobachtbare
Sachverhalte herstellen mit dem Hinweis: "Jeder kann sich mit eigenen Augen von
der Wahrheit meiner Behauptung überzeugen." Dabei handelt es sich auch
keineswegs notwendig um eine "Dogmatisierung intuitiver Einsichten und evidenter
Sinneswahrnehmungen" [[23] ALBERT 1969, S. 30] denn es bleibt weiterhin
problematisch, ob eine Sinneswahrnehmung eines bestimmten Individuums
intersubjektiv nachvollziehbar ist. [[24] Zu den Qualifikationsbedingungen
der individuellen Wahrnehmung s. u. § 32]
Damit die argumentative Rechtfertigung einer Norm
intersubjektiv nachvollziehbar und kontrollierbar bleibt, müssen sich die
Beteiligten an der Argumentation bemühen, diese Begründung möglichst explizit
zu geben. Darunter ist zu verstehen, "dass wir jede von uns aufgestellte
Behauptung, Aufforderung oder Norm in so kleinen Schritten aufstellen, dass
überall dort, wo eine {-70-} - nach eigenem Verständnis - neue geistige Leistung
(eine Verständnis- oder Erkenntnisleistung) zur Fortführung des jeweiligen
Gedankenganges benötigt wird, diese Leistung auch in einem eigenen Schritt
ausdrücklich gemacht und gefordert wird." [[25] SCHWEMMER 1973, S.75.]
Das Ziel ist dabei, den Fortgang der Argumentation so intersubjektiv
kontrollierbar wie möglich zu gestalten, indem jede dabei neu auftauchende
Behauptung in der Art ihrer Begründung transparent gemacht wird. Dies hat
dadurch zu geschehen, dass dargelegt wird, auf welche anderen Behauptungen und
auf welche logischen Schlussformen sich die neu entwickelte Behauptung stützt.
§ 18 Intersubjektivitätsgebot und das Gebot des Bemühens um wechselseitige Verständlichkeit
Die Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm bzw. ihrer
argumentativen Begründung setzt voraus, dass man überhaupt weiß, was mit dieser
Norm bzw. den Argumenten gemeint ist. Man muss sie also verstehen können. Wenn
sich Teilnehmer an einer Argumentation über die Allgemeingültigkeit von Normen
nicht um die Verständlichkeit ihrer Äußerungen bemühen, so verstoßen sie damit
folglich gegen das Intersubjektivitätsgebot.
Außerdem dürfen normative Theorien keine ungültigen
logischen Schlussfolgerungen enthalten. Solche Fehlschlüsse lassen sich jedoch
nur aufdecken, wenn die Theorie klar und verständlich formuliert ist. Eine
unklare und unverständliche Formulierung der Theorie stellt deshalb eine
unzulässige Immunisierung der Theorie dar.[[26] Vgl. zum Gebot der
Verständlichkeit NELSON 1974, S. 60 ff.] {-71-}
Gegen das Gebot der Verständlichkeit wird z. B. verstoßen:
- wenn die verwendeten Termini nicht hinreichend präzise
definiert werden oder ohne besondere Kennzeichnung mit wechselnden Bedeutungen
verwandt werden;
- wenn definitorische Festlegungen des Sprachgebrauchs
nicht als solche gekennzeichnet und von empirischen Aussagen und inhaltlichen
Normen unterscheidbar gemacht werden;
- wenn problematische Prämissen der Beweisführung
stillschweigend vorausgesetzt werden;
- wenn durch sprachliche Eigenheiten des Autors der Inhalt
des Gemeinten unklar oder unverständlich wird.
Eine "dunkle", schwer verständliche Ausdrucksweise mag für
ein lyrisches Gedicht sehr sinnvoll sein, in der Wissenschaft ist sie immer
problematisch. Sie ermöglicht einem Autor, Kritik mit dem Hinweis abzutun, er
sei falsch oder gar nicht verstanden worden. Andererseits fordert eine unklare
Ausdrucksweise geradezu dazu heraus, dass andere sich von dem Text ein eigenes
Zerrbild herstellen, um dann dies zu kritisieren. In beiden Fällen gelangt man
nicht zu intersubjektiv anerkennbaren Ergebnissen, sondern "redet aneinander
vorbei." [[27] Damit ist natürlich nichts gegen Theorien gesagt, deren
schwierige Verständlichkeit durch die Kompliziertheit des Gegenstandes bedingt
ist, den sie bearbeiten, und nicht durch die Ausdrucksform des betreffenden
Autors.]
Das Bemühen um eine klare und verständliche Ausdrucksweise
ist dabei nur die eine Seite des Verständigungsproblems. Intersubjektive
Verständigung kann auch {-72-} durch systematisches Nicht-Verstehen-Wollen
unmöglich gemacht werden, denn man kann bei jedem Wort fragen: "Was meinst du
damit?" und bei den Worten der gegebenen Erklärung wiederum fragen usw. bis ins
Unendliche.[[28] HABERMAS nannte dies einmal die Haltung des "Kannitverstan".]
Durch eine solche Argumentationsstrategie wird der andere gezwungen, entweder
endlose und damit ergebnislose Erklärungsversuche zu unternehmen oder aber die
Sprache des anderen anzunehmen.
Intersubjektiv anerkennbare Argumentation setzt
demgegenüber das Bemühen um eine gemeinsame Sprache voraus. Mit jemandem, der
sich nicht um eine gemeinsame Sprache bemüht, ist eine Argumentation sinnlos. Er
verfolgt notwendigerweise andere Ziele als die Suche nach intersubjektiv
gültigen Normen. Dieser Aspekt des Bemühens um Verstehen und Verstandenwerden
wird von SCHWEMMER betont, der fordert, "dass wir an keiner Stelle eines
Gedankengangs, der uns als Argument für Behauptungen einerseits, für
Aufforderungen oder Normen andererseits dienen soll, ein Wort gebrauchen, von
dessen gemeinsamer Verwendung wir uns nicht überzeugt haben." [[29] SCHWEMMER
1973, S. 75. Allerdings hat die Konstruktion einer geeigneten ethischen
Terminologie bei den an LORENZEN anknüpfenden Theoretikern gelegentlich etwas
unnötig Gekünsteltes an sich. S. z. B. LORENZEN 1970, S.25ff. Auch für HABERMAS
stellt der Anspruch auf die "Verständlichkeit der Äußerung" einen Teil des "Hintergrundkonsens" dar, auf dem funktionierende Sprachspiele beruhen. S.
HABERMAS/LUHMANN 1971, S.1]
Eine schwer verständliche Ausdrucksweise kann auch zu einer
unnötigen Exklusivität der Theorie führen, wenn sie ähnlich wie eine esoterische
Geheimsprache nur den "Eingeweihten" zugänglich ist. Damit werden {-73-}
andere Individuen als potentielle Kritiker von vornherein ausgeschlossen und man
diskutiert "unter sich" innerhalb einer wissenschaftlichen "Schule". In dem
Maße, wie dadurch eine Beschränkung der Öffentlichkeit und Zugänglichkeit der
Diskussion eintritt, wird jedoch ein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit
zweifelhaft. [[30] Zur Funktion der Öffentlichkeit von Argumentation bei der
Überprüfung der Gültigkeit von Normen s. u. § 2o. Nicht selten führen schwer
verständliche Theorien auch zu Interpretationsmonopolen einiger theoretischer "Autoritäten", die in kaum kontrollierbarer Weise die "richtige" Auslegung der
Theorie geben. Dies ist dann jedoch eher ein Problem der hermeneutischen
Methodologie.]
Natürlich kann es bei dem Gebot der Verständlichkeit der
Ausdrucksweise immer nur darum gehen, "die Pfähle in den Sumpf zu treiben", bis
sie tragen, denn eine Garantie für das Gelingen der Verständigung kann es nicht
geben. Dass zwei wissenschaftliche Positionen mit Hilfe von zwei unvereinbaren
Begriffssystemen aneinander vorbei monologisieren und keine Ebene der
Verständigung finden, ist sicherlich keine Seltenheit.
§ 19 Intersubjektivitätsgebot und Überredungsverbot
Auch bei einer Anwendung der Form nach argumentativer
Mittel kann jedoch gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen werden. Dieser
Fall liegt dann vor, wenn jemand zur Rechtfertigung der von ihm vertretenen Norm
Argumente verwendet, die er selber nicht für richtig hält, von denen er jedoch
annimmt, dass sie vom andern akzeptiert werden.[[31] KAMBARTEL nennt eine
solche unzulässige Argumentation "persuasiv". S. KAMBARTEL 1974c, S. 67.
]{-74-}
Hierbei wird gegen das Intersubjektivitätsgebot verstoßen,
denn es werden Argumente zur Bestimmung gültiger Normen verwendet, deren Kritik
von einem Teilnehmer der Argumentation absichtlich vermieden wird, und zwar
gegen sein besseres Wissen. Ein solches Argumentationsverhalten kann man auch
als "manipulative Überredung" bezeichnen. Sie ist der vom
Intersubjektivitätsgebot gebotenen Suche nach gültigen Normen abträglich und
unterliegt deshalb einem methodologischen Verbot. Auch SCHWEMMER fordert, dass "der Redende die Sätze, die anzunehmen er den Angeredeten auffordert, auch
selber annimmt. Insbesondere gilt dies für jene Sätze, mit denen er den
Angeredeten zur Annahme weiterer Sätze zu bringen begehrt." [[32] SCHWEMMER
1973, S. 83]
Das Überredungsverbot hat auch eine enge Beziehung zu dem
nach HABERMAS in jedem funktionierenden Sprachspiel als HintergrundKonsens
bestehenden Anspruch auf "Wahrhaftigkeit des sprechenden Subjekts". "Der
Anspruch auf Wahrhaftigkeit kann nur in Interaktionen eingelöst werden: in
Interaktionen muss sich auf die Dauer herausstellen, ob die andere Seite 'in
Wahrheit' mitmacht oder kommunikatives Handeln bloß vortäuscht und sich
tatsächlich strategisch verhält." [[33] HABERMAS 1971, S. 24.]
Ein besonderer Fall manipulativer Überredung liegt dann
vor, wenn eine Norm gegenüber verschiedenen Adressatengruppen mit in sich
widersprüchlichen Argumentationen gerechtfertigt wird. {-75-}
Ein Beispiel hierfür wäre etwa, wenn man eine bestimmte
Agrarpolitik gegenüber den Bauern mit dem Argument verteidigt, dass höhere
Erzeugerpreise für Lebensmittel die Folge sein werden und damit
Einkommensverbesserungen für die Bauern stattfinden, während man dieselbe
Politik gegenüber den Konsumenten mit der Erwartung von Preissenkungen für
Lebensmittel rechtfertigt. Solchen Manipulationen ist allerdings unter den
Bedingungen der Öffentlichkeit eine Grenze gesetzt, weil die Argumentationen
dann nicht gezielt auf bestimmte Adressatengruppen beschränkt werden können.
Aber jede Einschränkung der Öffentlichkeit ermöglicht es, intern ganz
andere Rechtfertigungen für eine bestimmte Entscheidung zu geben als in der "Öffentlichkeit."
§ 20 Intersubjektivitätsgebot und Öffentlichkeitsgebot
Um festzustellen, ob eine Norm gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden kann, ist es notwendig, dass auch jedes Individuum im Prinzip die Möglichkeit hat, seine Argumente zur Gültigkeit dieser Norm zu äußern. Wenn man für eine Norm universale Gültigkeit beansprucht, so darf kein Individuum daran gehindert werden, seine Kritik einzubringen und zu begründen. Dies setzt die Öffentlichkeit der Argumentation voraus, insofern niemandem die aktive oder passive Teilnahme daran verwehrt werden darf. Dies "Öffentlichkeitsgebot" lässt sich aus dem Intersubjektivitätsgebot ableiten.{-76-}
Allein die Öffentlichkeit der Argumentation bietet die
Gewähr, dass möglichst alle für die Beurteilung der Gültigkeit einer Norm
relevanten Argumente berücksichtigt werden können. Da jeder die Möglichkeit hat,
Argumente einzubringen, die er für relevant und richtig hält, kann von der
(vorläufigen) Gültigkeit einer Norm ausgegangen werden, wenn im Verlauf der
Argumentation alle kritischen Einwände entkräftet werden konnten. Dem
Öffentlichkeitsgebot entspricht bei HABERMAS die Charakterisierung eines "Diskurses" dadurch, "dass Teilnehmer, Themen und Beiträge nicht, es sei denn im
Hinblick auf das Ziel der Prüfung problematisierter Geltungsansprüche,
beschränkt werden." [[35] HABERMAS 1973, S. 148.] Das
Öffentlichkeitsgebot drückt aus, "was für den gewöhnlichen Diskurs von Anbeginn
gefordert werden muss; die effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung
der Dialogrollen, überhaupt der Wahl und Ausübung von Sprechakten." [[36]
HABERMAS 1971, S. 29].
Die Institution der Öffentlichkeit, in der sich jeder
jeweils an alle wendet, bewirkt zugleich eine Vereinfachung der kollektiven
Urteilsbildung, denn es muss sich nicht mehr jeder äußern, sondern nur noch
derjenige, der meint, dass es noch nicht berücksichtigte, gültigkeitsrelevante
Argumente gibt. Im Extremfall kann also unter den Bedingungen der Öffentlichkeit
eine Norm bereits dadurch als vorläufig gültig erwiesen werden, dass ein
einziges Individuum seine Argumente zur Gültigkeit dieser Norm vorträgt und
{-77-} dabei bereits alle vorhandenen Gegenargumente entkräftet.
In ähnlicher Weise sieht auch J. St. MILL die unbehinderte
öffentliche Argumentation als eine Bedingung dafür an, um über die Wahrheit oder
Gültigkeit einer Theorie zu entscheiden. "Irgendeine Behauptung gewiss zu
nennen, während es jemanden gibt, der - wenn er dürfte - diese Gewissheit
verneinen würde, dem es jedoch nicht gestattet ist, beinhaltet den Anspruch,
dass wir selbst und diejenigen, die mit uns übereinstimmen, die Richter über die
Gewissheit sind, und zwar Richter, die die andere Seite nicht anhören." [[37]
MILL 1969, S. 29.]
Allerdings wird der Intersubjektivitätsanspruch bei MILL
nur ansatzweise als konstitutiv für Wahrheit bzw. Gültigkeit angesehen. Dieses
Argument vermengt sich mit der Begründung der Meinungsfreiheit aus dem
Eigeninteresse der Individuen: Jeder müsse ein Interesse an unbehinderter
öffentlicher Argumentation haben, insofern er ein Interesse an der Eliminierung
von Fehlern in seinen eigenen Anschauungen hat und insofern die bei
Meinungsfreiheit stattfindende Kritik eine Aufdeckung solcher Fehler ermöglicht.
An anderer Stelle scheint MILL jedoch zu erkennen, dass das Eigeninteresse als
Rechtfertigung des Öffentlichkeitsgebots und Motiv der Wahrheitssuche nicht
ausreicht, denn er schreibt: "Die Menschen sind nicht begieriger nach der
Wahrheit als sie es oft nach dem Irrtum sind ..." [[38] MILL 1969, S. 37]
{-78-}
§ 21 Intersubjektivitätsgebot und die institutionelle Organisation von Argumentationen
Damit eine erkenntnismäßige Streitfrage, sei es nun
normativer oder anderer Art, überhaupt argumentativ entschieden werden kann,
müssen sich die Beteiligten über die Fragestellung selber einig sein. Wenn die
Teilnehmer einer Diskussion völlig unterschiedliche Fragen zu beantworten
versuchen, so reden sie "aneinander vorbei" und es besteht die Gefahr, dass
keine der aufgeworfenen Fragen einer allgemeingültigen Beantwortung näher
gebracht wird.
Daraus folgt, dass Argumentationen so organisiert sein
müssen, dass zum einen die Fragestellungen möglichst präzise und eindeutig
gemacht werden und dass zum andern dafür gesorgt werden muss, dass deutlich
wird, welche Argumentationen und Diskussionsbeiträge sich auf die Beantwortung
welcher Frage beziehen. Aus diesem Grund werden vor allem bei mündlichen
Argumentationen "Tagesordnungen" mit verschiedenen Unterpunkten festgesetzt, um
die Argumente entsprechend zusammenzufassen.
Für die konkrete Organisation von Argumentationen wird
außerdem wichtig, welche Fragen überhaupt thematisiert werden und welche nicht.
Dies hat einen erheblichen Einfluss auf den kollektiven Erkenntnisprozess, denn
durch die Nicht-Thematisierung bestimmter Fragen können tradierte Antworten
hierauf konserviert werden, obwohl sie falsch sind. Hierfür finden sich in der
Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Beispiele. Eines der markantesten ist die
Ausklammerung sexualwissenschaftlicher Fragestellungen, die bis zum Beginn
unseres Jahrhunderts zur Beibehaltung {-79-} von z. T. völlig abwegigen
sexualmoralischen Auffassungen führte. [[39] ] S. Dazu z. B. KINSEY u. a.
1963, S. 4ff. Zur Bedeutung von "Nicht-Entscheidungen" durch selektive
Mechanismen s. a. BACHRACH/BARATZ 1962, S. 379.]
Bei der konkreten Organisation von Argumentationen ist
außerdem der Umstand zu berücksichtigen, dass zur Kommunikation von Argumenten
immer Ressourcen erforderlich sind, die ihrerseits nicht unbegrenzt verfügbar
sind und folglich auf die Teilnehmer der Diskussion aufgeteilt werden müssen. So
ist gewöhnlich die Zeit, die einer Versammlung oder einem Gremium zur Verfügung
steht, begrenzt, so dass auch die Redezeit, die allen Beteiligten insgesamt zum
Vortragen ihrer Argumente zur Verfügung steht, begrenzt ist, da immer nur ein
Individuum zur Zeit reden kann, wenn die Verständlichkeit der Argumente
gewährleistet werden soll.
Wenn nun die gesamte Redezeit von bestimmten Individuen in
Anspruch genommen wird, so dass andere Individuen ihre Argumente gar nicht
vortragen können, so ist die Erfüllung des Intersubjektivitätsgebots und des
daraus ableitbaren Öffentlichkeitsgebots gefährdet, denn bestimmte Individuen
wurden mit ihren Argumenten aufgrund der vorgenommenen Aufteilung der Redezeit
überhaupt nicht gehört. Auch die bevorzugte Behandlung bestimmter Positionen ist
mit dem Intersubjektivitätsgebot nicht vereinbar. Aus diesem Grunde sind
Regelungen der Redezeit und der Reihenfolge sinnvoll, die dafür sorgen, dass
innerhalb der verfügbaren Zeit möglichst alle für die Beantwortung der
{-80-} Streitfrage relevanten Argumente eingebracht werden können. [[40] Aus
der Begrenztheit der verfügbaren Zeit leitet sich auch das meist informelle
Gebot für den Ablauf von Diskussionen ab, möglichst ohne überflüssige
Wiederholung von Argumenten vorzugehen.]
Ähnliche Knappheitsprobleme existieren auch in anderen
Medien der Diskussion und Willensbildung, wie Rundfunk und Fernsehen oder
Zeitschriften, Büchern usw. Man kann ganz generell sagen, dass die Zeit und der
Aufwand begrenzt ist, den Menschen für die argumentative Beantwortung von
Streitfragen zu opfern bereit sind. Immer müssen deshalb Regelungen gefunden
werden, die die knappen Argumentationsressourcen auf die Beteiligten aufteilen.
Diese Aufteilung ist nur in dem Maße im Einklang mit dem
Intersubjektivitätsgebot, wie alle relevanten Argumente von allen Beteiligten
vorgetragen und aufgenommen werden können.
§ 22 Das Intersubjektivitätsgebot für alle eingebrachten Argumente
Die einzelnen zur Begründung einer Norm angeführten
Argumente unterliegen dabei dem Intersubjektivitätsgebot ebenso wie die
behauptete Norm, um die es letztlich geht, da ja auch von den einzelnen
Argumenten ihre Gültigkeit oder Wahrheit behauptet wird. Wenn man intersubjektiv
gültige Normen anstrebt, so müssen auch die einzelnen Argumente, die zur
Begründung vorgebracht werden, intersubjektiv nachvollziehbar sein. Damit weitet
sich das Intersubjektivitätsgebot auf alle einzelnen Argumente aus, die bei der
Begründung einer Norm verwendet werden. Dies Intersubjektivitätsgebot für die
einzelnen Argumente würde lauten: {-81-}
"Verwende intersubjektiv anerkennbare Argumente!"
Die einzelnen Argumente, die in einem normativen
Begründungszusammenhang verwendet werden, müssen nicht selber normativer Art
sein. Es können z. B. empirische Aussagen über die Beschaffenheit der Realität,
Textinterpretationen, Definitionen, logische Schlüsse, mathematische oder
statistische Schlüsse usw. auftreten.
Ob ein Argument jeweils anerkennbar ist, kann nur von der Methodologie der
jeweiligen Disziplinen entschieden werden, die zusammengenommen mit dem
traditionellen Terminus "Erkenntnistheorie" bezeichnet werden können. Die
normative Methodologie als Teil einer so verstandenen Erkenntnistheorie muss
also die Ergebnisse anderer Zweige der Erkenntnistheorie heranziehen, wobei von
Vorteil ist, dass diese Methodologien teilweise bereits sehr detailliert
entwickelt worden sind. [[41] Dies soll nicht heißen, dass es dort nicht auch
Streitfragen von z. T. grundsätzlicher Bedeutung gibt. Ein Beispiel ist für die
empirische Methodologie etwa die Diskussion um das Verifikations- bzw.
Falsifikationskriterium.] Diese Methodologien brauchen also hier nicht
selbst entwickelt zu werden, sondern es kann auf die einschlägige Literatur
verwiesen werden. [[42] ALBERT bezeichnet die Übernahme von Ergebnissen
anderer Methodologien und Wissenschaften für die normative Methodologie und
Theorie als Konstruktion von "Brückenprinzipien". S. ALBERT 1969, S. 76ff.]
Damit können normative Theorien, die z. B. falsche oder
unzulässige empirische Argumente, ungültige logische Schlüsse, mathematische
Fehler oder Fehlinterpretationen enthalten, für normativ ungültig erklärt
werden, sofern es sich um Argumente handelt, die {-82-} für die Rechtfertigung
der Norm notwendig sind. Im Folgenden sollen deshalb an einigen Beispielen die
wichtigsten im Rahmen von normativen Theorien vorkommenden Argumentationsfehler
nicht normativer Art demonstriert werden.
§ 23 Unzulässige empirische Argumente
Natürlich kommen im Zusammenhang normativer Argumentation
all die Fehler vor, die auch anderweitig in Bezug auf empirische Fragen gemacht
werden:
- Behauptungen entsprechen nicht den beobachtbaren
Tatsachen oder sind Hypothesen ohne bisherige Bewährung an der
Realität;
- zum Beweis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten werden
nur einzelne Beispiele herangezogen;
- Zitate von Autoritäten gelten als Ersatz für die
Beobachtung der Realität;
- von nicht repräsentativen Stichproben werden Schlüsse
auf die Gesamtheit gezogen,
- Entwicklungstrends werden einfach extrapoliert;
- nachträgliche Erklärungen (ex-post-facto-Erklärungen)
gelten als Beweise;
- Hypothesen werden gegen Falsifizierung immunisiert,
- Definitionen werden als Erkenntnisse über die Realität
ausgegeben;
- Analogieschlüsse werden als Beweis genommen;
- Korrelationen werden zu Kausalgesetzmäßigkeiten erklärt;
- aus Metaphern werden inhaltliche Schlüsse gezogen usw.
[[43] Zur Methodologie der Erfahrungswissenschaften s. z. B. OPP 1970 und die
dort angegebene Literatur.]{- 83- }
Die Einigung über methodologisch zulässige und wahre
empirische Argumente kann dabei einen großen Teil normativer Streitfragen
entscheiden helfen, vor allem wenn man nicht nur die direkten Fehler bedenkt,
sondern auch die Fülle der von den Erfahrungswissenschaften noch ungeklärten
Fragen, die natürlich auch innerhalb normativer Argumentationen zu Problemen
führen. [[44] Z. B. hängt die normative Frage über die Legalisierung des
Schwangerschaftsabbruchs u. a. von empirisch schwer zu beantwortenden Fragen ab
wie: "Würde sich dadurch die Zahl der gesundheitlichen Schädigungen von Frauen
oder die Zahl der Kindesmisshandlungen verringern oder nicht?" Zur Beseitigung
normativer Meinungsverschiedenheiten durch bessere Faktenkenntnis Vgl. auch
STEVENSON 1963.]
Ein Typus unzulässiger empirischer Argumentation soll an
einem Beispiel erläutert werden, weil er traditionell eine wichtige Rolle bei
normativen Fragen spielt. Gemeint ist die Berufung auf "übernatürliche" Wesen,
die jenseits menschlicher Erfahrung liegen. Solche Argumentationen sind
besonders im individualmoralischen Bereich von Bedeutung, weil hier die
religiöse Normenbegründung am stärksten verankert ist. [[45] In der
Vergangenheit hat die Berufung auf übernatürliche Wesen auch bei der
Rechtfertigung politischer und ökonomischer Normensysteme eine zentrale Rolle
gespielt. Man denke etwa an den "König von Gottes Gnaden" oder die "gottgewollte
Ordnung" des mittelalterlichen Feudalismus.]
Ein krasser - wenn auch im außerwissenschaftlichen Bereich nicht seltener -
Typus unzulässiger Argumentation wäre etwa folgender: {-84-}
Person A: "Du sollst nicht ehebrechen, denn das verstößt
gegen Gottes Gebot."
Person B: "Nach meiner Erfahrung der Wirklichkeit gibt es
keinen Gott. Wie kann ich deine Behauptung überprüfen?"
Person A: "Deine Forderung nach Überprüfung ist anmaßend
und unangebracht, denn Gott wäre nicht Gott, wenn seine Existenz durch
menschliche Erfahrung überprüfbar wäre."
Gegen solch ein "Argument" ist B natürlich machtlos, denn
zur Überprüfung von Existenzbehauptungen steht ihm nur seine "menschliche
Erfahrung" zur Verfügung. Durch die Formel: "Es gibt Gott, aber er ist für
Menschen unerkennbar" hat sich A gegen jede Kritik immunisiert. Er hat
seine Behauptung allein dadurch unwiderlegbar gemacht, dass er jedem möglichen
Kritiker die Argumentationsbasis entzogen hat. [[46] Zur Analyse und Kritik
empirischer Immunisierungsstrategien s. ALBERT 1969, S. lo6ff ]
Was wie eine
Argumentation aussieht, ist nur eine Pseudoargumentation. Dies wird noch
deutlicher, wenn anstelle der fehlenden intersubjektiv nachprüfbaren Argumente
mehr oder weniger versteckte Sanktionsdrohungen als Mittel der "Überzeugung"
angewandt werden, indem etwa hinzugefügt wird: "Unglaube ist Abfall vom Schöpfer
und sündige Verstocktheit ...[[47] In der drastischeren Form der christlichen
Inquisition wurde die Immunisierung der religiösen Lehre dadurch bewerkstelligt,
dass der Atheismus als ein "Werk des Teufels" bezeichnet wurde. Folglich
brauchte man sich mit seinen atheistischen Kritikern nicht argumentativ
auseinanderzusetzen, sondern sah höchstens die Aufgabe, sie durch Folter zum
Abschwören von ihren Auffassungen zu bringen].{-85-}
Einen anderen Typus unzulässiger Argumentation stellen
eschatologische Prophezeiungen dar wie: "Das Jüngste Gericht (der
Messias, die Neue Gesellschaft etc.) wird kommen!" Solche Voraussagen ohne
zeitliche Festlegung sind deshalb unzulässig, weil bei Nicht-Eintreffen des
prophezeiten Ereignisses immer entgegnet werden kann: "Warte nur ab, es wird
noch kommen." Damit sind solche Behauptungen unwiderlegbar und gegen jede Kritik
immunisiert.
Ein weiteres Beispiel sind Existenzaussagen ohne
raum-zeitliche Bestimmung wie: "Es gibt Engel (Teufel, Geister etc.)" Falls
jemand dies mit dem Hinweis bestreitet, dass sie ihm noch nicht begegnet sind,
so kann immer entgegnet werden: "Vielleicht gibt es sie nicht hier und jetzt,
aber sicherlich woanders."
§ 24 Unzulässige logische Schlüsse
Die Aufdeckung unzulässiger Schlussfolgerungen geschieht
durch logische Analyse der betreffenden Theorien. Bei komplizierteren
sprachlichen Gebilden lassen sich logische Fehler wie Zirkelschlüsse,
Tautologien oder Widersprüche meist nicht mehr intuitiv erfassen. Dort bedarf es
einer gewissen Systematisierung und Formalisierung der Texte, um die einzelnen
Begriffe, Prämissen und Schlüsse deutlich zu machen. Neben der etablierten
Aussagen- und Prädikatenlogik wurden in den letzten Jahren speziell für
normative Theorien eigene Kalküle entwickelt, die als "deontische" oder "normative" Logik bezeichnet werden.[[48] Vgl. z. B. WRIGHT 1963, KUTSCHERA
1973 oder LENK 1974. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise.]
{-86-}
Diese Kalküle können für die logische Überprüfung
normativer Argumentationen sehr nützlich sein. Allerdings setzt ihre Anwendung
sowohl die Kenntnis spezieller Symbolsprachen als auch die Fähigkeit zur
Formalisierung von oft nur umgangssprachlich formulierten normativen Theorien
voraus. Hieraus erklärt sich vielleicht, warum solche logischen Analysen
normativer Theorien heute noch recht selten sind. [[49] Beispiele für solche
kritische Anwendung logischer Analyse gibt etwa KUTSCHERA 1973, S. 70ff.]
1. Der
naturalistische Fehlschluss
Auf dem Gebiet der normativen Theoriebildung ist ein
logischer Fehler von besonderer Bedeutung, der als "naturalistischer
Fehlschluss" bezeichnet wird. Darunter soll jeder Versuch verstanden werden, aus
rein empirischen oder analytischen Prämissen durch logische Deduktion zu
normativen Schlussfolgerungen zu gelangen. [[50] Der Terminus "naturalistischer Fehlschluss" wurde von MOORE in die Diskussion gebracht. S.
MOORE 1970, S. 41 ff. Bei MOORE hat dieser Begriff jedoch eine etwas andere
Bedeutung. Er verstand darunter alle Versuche, das (normativ) Gute mit
empirischen Begriffen zu definieren. Zur Problematik des MOOREschen
Arguments s. FRANKENA 1939 sowie WARNOCK 1966, S. 11 ff.]
Wie in § 3/1 bereits ausgeführt wurde, sind solche
Deduktionen logisch fehlerhaft, weil man durch Deduktion nur tautologische
Umformungen vornehmen kann, jedoch keinen völlig neuen Bedeutungsgehalt ableiten
kann. Da solche Versuche in der normativen Argumentation eine große Rolle
spielen, sollen besonders typische Beispiele hier einmal kritisch analysiert
{-87-} werden. Der Übergang von der beschreibenden Sprechweise zur vorschreibenden
Sprechweise geschieht dabei kaum merklich mit Hilfe von Begriffen, die sowohl
einen empirischen als auch einen normativen Gehalt haben. Der Fehlschluss kommt
hier also durch unbemerkte Doppeldeutigkeit von Worten zustande.
2. Der normative Essentialismus und die 'Verwirklichung des
Wesens'
Die hier als "normativer Essentialismus" bezeichneten
Theorien gehen so vor, dass sie erst einmal das Wesen einer Sache
bestimmen. Es wird gefragt: "Was ist das Wesen der Sexualität (bzw. Des Staates,
des Rechts, der Wirtschaft, der Familie, der Frau, der Sprache usw.)". Dabei
besteht der Anspruch, die wirkliche Beschaffenheit der Sache zu erkennen.
Allerdings muss dabei das Wesen der Sache als etwas Notwendiges und
Gesetzmäßiges von der "Oberfläche" als etwas Akzidentellem und Zufälligem
befreit werden. [[51] Zur Analyse dieser bereits von ARISTOTELES verwendeten
Methode der Wesenserkenntnis s. POPPER 1969, S. 21ff.]
Außerdem wird - meist
stillschweigend - vorausgesetzt, dass man jede Sache ihrem Wesen gemäß gestalten
und behandeln muss. Schließlich werden dann diejenigen Handlungsweisen normativ
geboten, die dem so bestimmten "Wesen der Sache" gemäß sind. So kommt die
katholische Sexualethik vermittels der Wesensbestimmung zu folgenden normativen
Positionen: [[52] Vgl. hierzu etwa SCHWENGER 1969, S. 13ff.] {-88-} "Das
Wesen der Sexualität ist die Fortpflanzung. Deshalb sind alle Formen der
Sexualität abzulehnen, die nicht der Fortpflanzung dienen, wie der Gebrauch von
Verhütungsmitteln, die Masturbation, Homosexualität usw."
Um den Fehlschluss des Essentialismus herauszuarbeiten,
müssen die einzelnen Argumentationsschritte in Form von Prämissen und
Schlussfolgerungen explizit formuliert werden. Der Argumentationsgang verläuft
dabei in folgenden Schritten:
(1) "Das Wesen der Sexualität ist die Fortpflanzung."
(2) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln entspricht nicht
der Fortpflanzung."
Aus (1) und (2) folgt:
(3) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln entspricht nicht
dem Wesen der Sexualität."
(4) "Es ist verboten, etwas zu tun, das nicht dem Wesen
einer Sache entspricht!"
Aus (4) folgt:
(5) "Es ist verboten, etwas zu tun, das nicht dem Wesen der
Sexualität entspricht!"
Aus (3) und (5) folgt:
(6) "Der Gebrauch von Verhütungsmitteln ist verboten!"
Der normative Essentialist behauptet dabei, allein aus der
Erkenntnis der Wirklichkeit mit Hilfe logischer Schlussfolgerungen zu normativen
Inhalten zu gelangen. Er meint durch eine theoretische Untersuchung der
Sexualität bestimmen zu können, dass ihr Wesen in der Fortpflanzung bestehe (1).
Dass Verhütungsmittel der Fortpflanzung
entgegenstehen, lässt sich ebenfalls an der Wirklichkeit erkennen (2).
Daraus
folgt logisch, dass Verhütungsmittel dem Wesen der Sexualität {-89-}
widersprechen (3).
Weiterhin sei es offensichtlich und liege schon im Begriff
des "Wesens", dass die Dinge - und folglich auch die Sexualität - ihrem Wesen gemäß
existieren sollen. (4 und 5).
Satz (4) ist demnach rein analytisch, er folgt
aus der Bedeutung des Begriffs "Wesen". Zum Verbot der Verhütungsmittel gelangt
man schließlich durch einen einfachen logischen Schluss (6).
Der Fehler dieser Argumentation besteht darin, dass der
Begriff "Wesen" innerhalb der Argumentation mit zwei verschiedenen Bedeutungen
gebraucht wird, die unbemerkt gleichgesetzt werden. Wenn der Essentialist
einerseits darauf besteht, dass das "Wesen" einer Sache gleichbedeutend mit
bestimmten empirischen Gesetzmäßigkeiten ist und dass "Wesen" andererseits
gleichbedeutend ist mit dem, was an einer Sache zu realisieren ist, so hat er
damit für das Wort "Wesen" zwei verschiedene Bedeutungen eingeführt. Es
gibt dann:
1. das empirische Wesen, d. h. "das an einer Sache
Notwendige und Gesetzmäßige" und
2. das normative Wesen, d. h. "das an einer Sache zu
verwirklichende."
Damit wird jedoch der Beweisgang hinfällig, denn er beruht
nur auf dieser Doppeldeutigkeit. Während in (3) das empirische Wesen gemeint
ist, ist in (5) das normative Wesen gemeint. Damit wird der Schluss auf (6)
unzulässig.
Diese empirisch-normative Doppeldeutigkeit des Wesensbegriffs wird
vor allem beim Adjektiv "wesentlich" deutlich. Wenn etwa bei einem Mordprozess
vor Gericht gesagt wird, dass es "wesentlich für die Tat sei, dass der Täter dem
Opfer das Geld abgenommen habe", so kann "wesentlich" in {-90-} zweierlei Sinne
verstanden werden. Der Umstand kann einmal wesentlich für die empirische
Erklärung der Tat durch das Motiv der Bereicherung sein. Zum andern kann der
Umstand aber auch für die Bewertung der Tat wesentlich sein, z. B. für
ihre Klassifizierung als Raubmord oder als Totschlag. Mit dem Adjektiv "wesentlich" können also zwei unterschiedliche Aspekte bezeichnet werden.
Wenn der Essentialist angesichts dieser Lage seine Position
dadurch zu retten versucht, dass er behauptet, dass empirisches und normatives
Wesen gerade zusammenfallen, so wäre damit der logische Fehler zwar behoben.
Aber damit würde die eigentliche normative Diskussion erst beginnen, die vorher
bereits zugunsten des Essentialisten entschieden zu sein schien. Er hätte
nämlich dann argumentativ zu rechtfertigen, warum seine Methode der
Wesensbestimmung immer zugleich das normativ zu realisierende einer Sache
ergibt. Der essentialistischen Methode fehlt es gegenwärtig sowohl an einer
methodischen Eindeutigkeit des Verfahrens wie auch an einer Begründung für die
normative Akzeptierbarkeit der Ergebnisse. [[53] Anstelle des Begriffs "Wesen"
werden häufig auch die Begriffe "Natur", "Funktion", "Aufgabe", "Zweck", "Sinn"
oder "Begriff" einer Sache verwendet und durch ihre empirisch-normative
Doppeldeutigkeit zur Konstruktion von naturalistischen Fehlschlüssen verwandt.
Zur Kritik der essentialistischen bzw. teleologischen neo-thomistischen
Moralphilosophie s. a. GEISMANN 1974, S. 23ff. KUTSCHERA hat weitere Beispiele
des naturalistischen Fehlschlusses analysiert. So hat er nachgewiesen, dass aus
der Tatsache eines Versprechens allein noch nicht die Pflicht zu dessen
Einhaltung gefolgert werden kann, wie SEARLE meinte. Vgl. KUTSCHERA 1973, S.
70ff. und SEARLE 1964.]{-91-}
3. Der normative Historizismus und die "historische
Notwendigkeit"
Eine andere Art von naturalistischem Fehlschluss, die als "normativer Historizismus" bezeichnet werden kann, spielt in den
geschichtsphilosophisch bestimmten Spielarten der hegelianischen Tradition eine
Rolle. Der normative Historizismus versucht, Verhaltensnormen und politische
Ziele allein aus der Erkenntnis der historischen Entwicklung und ihrer
Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. So schreibt KAUTSKY: "Erst die materialistische
Geschichtsauffassung hat das sittliche Ideal als richtungsgebenden Faktor der
sozialen Entwicklung völlig depossediert und hat uns gelehrt, unsere
gesellschaftlichen Ziele ausschließlich (!) aus der Erkenntnis der gegebenen
materiellen Grundlagen abzuleiten." [[54] KAUTSKY 1906, S. 258.]
Der Argumentationsgang verläuft dabei so, dass in einem
ersten Schritt bestimmte tatsächliche Gesetzmäßigkeiten der
geschichtlichen Entwicklung postuliert werden. [[55] Die
wissenschaftstheoretische Problematik solcher Entwicklungsgesetze soll hier
nicht weiter diskutiert werden. Vgl. z. B. POPPER 1969 und HEUER 1974] So
wird z. B. festgestellt, dass es "unvermeidlich ist, dass die Lohnarbeiter nach
kürzeren Arbeitszeiten und höheren Löhnen trachten, dass sie sich organisieren,
dass sie die Kapitalistenklasse und deren Staatsgewalt bekriegen ..., dass sie
nach der politischen Gewalt und dem Umsturz der Kapitalistenherrschaft trachten.
Der Sozialismus ist unvermeidlich, weil der Klassenkampf, weil der Sieg des
Proletariats {-92-} unvermeidlich (!) ist". [[56] KAUTSKY 1903 S. fehlt]
Aus dieser Einsicht in die Notwendigkeit der historischen
Entwicklung werden dann die Ziele für den Kampf der Arbeiter "abgeleitet". So wird gefordert, dass sich die Arbeiter in Gewerkschaften und
einer Partei organisieren sollen, dass sie für ihre Interessen nicht nur
ökonomisch, sondern auch politisch gegen den kapitalistischen Staat kämpfen
sollen, dass sie nicht nur Reformen, sondern die soziale Revolution
anstreben sollen usw..
In diesem Zusammenhang wird auch von der "historischen
Mission" der Arbeiterklasse gesprochen, wodurch der normative
Aufforderungscharakter der Theorie noch deutlicher wird. Arbeiter oder
Theoretiker, die sich nicht entsprechend verhalten, werden normativ kritisiert
und als "reformistisch", "unsolidarisch" oder gar als "Arbeiterverräter"
verurteilt. Daran wird deutlich, dass es sich um recht massive Normen handeln
muss, gegen die die Betreffenden verstoßen haben.
Zusammengefasst kann man die Schritte der Argumentation
folgendermaßen wiedergeben:
(1) "Der organisierte Kampf der Arbeiterklasse gegen den
Kapitalismus und der schließliche Sieg des Sozialismus sind
historisch notwendig."
(2) "Das historisch Notwendige soll man durch sein Handeln
verwirklichen."
(3) "Die Arbeiterklasse soll den Kampf gegen den
Kapitalismus organisieren und für den Sieg des Sozialismus kämpfen!"
Satz (1) ergibt sich aus der Erforschung der tatsächlichen
historischen Entwicklung und ihrer Gesetzmäßigkeiten. Satz (2) wird meist
stillschweigend vorausgesetzt. {-93-} Er stellt nur fest, was bereits im Begriff
des "historisch Notwendigen" liegt, nämlich dass man sich diesem nicht entgegen
stellen darf, sondern es im Gegenteil zu verwirklichen habe. Aus (1) und (2)
folgt dann logisch die Norm (3), die Forderung nach klassenkämpferischer Aktion.
Der logische Fehler des normativen Historizismus liegt -
ähnlich wie beim Essentialismus - in der normativ-empirischen Doppeldeutigkeit
des Begriffs "historische Notwendigkeit." Im Satz (1) wird "historisch
notwendig" im Sinne von "kausalgesetzmäßig unvermeidlich" verwendet. Im Satz (2)
dagegen ist das "historisch Notwendige" dasjenige, was buchstäblich "die Not
wendet" als das "historisch Erforderliche".[[57] Wenn in (2) das "kausalgesetzmäßig Unvermeidliche" gemeint wäre, wie in (1), so ergäbe sich die
völlig überflüssige Forderung, die Menschen sollten das tun, was sie sowieso
gezwungen sind zu tun.] Wenn sich jedoch hinter dem einen Begriff "notwendig" zwei verschiedene Bedeutungen verbergen, so ist der Schluss von (1)
und (2) auf den Satz (3) unzulässig.
Der normative Historizist könnte diesem
Problem dadurch entgehen, dass er nachweist, dass das kausalgesetzmäßig
Notwendige und das normativ Notwendige im historischen Fortschritt gerade
miteinander identisch sind. Allerdings würde damit die Diskussion über eine
solche optimistische Geschichtsphilosophie erst anzufangen haben, während
sie vorher bereits entschieden schien. [[58] Anstelle des Begriffs der "Notwendigkeit" wird auch der Begriff der "Gesetzmäßigkeit" und des "Fortschritts" in seiner empirisch-normativen Doppeldeutigkeit benutzt, um einen
naturalistischen Fehlschluss vom Sein aufs Sollen zu konstruieren. Der normative
Historizismus ist vor allem geeignet, die Politik einer bestimmten Führung mit
der Weihe der "historischen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit" zu versehen und
damit unkritisierbar zu machen. Vgl. z. B. Die Stalinismuskritik in NEGT 1969.
Zum Ersatz von normativ zu begründenden politischen Zielvorstellungen durch die
Erkenntnis der vermeintlichen historischen Notwendigkeit s. a. NELSON 1974, S.
189ff.] {-94-}
4. Kapitel
Weitere Gesichtspunkte
für die Auswahl von Normen
Ähnlich wie es in der empirischen Methodologie nicht allein um die Wahrheit
einer Theorie geht, sondern z. B. auch die Relevanz, die Erklärungskraft oder
die Präzision der Theorie eine Rolle spielt, gibt es auch in der normativen
Methodologie neben dem Kriterium der Gültigkeit von Normen weitere
Gesichtspunkte für die Brauchbarkeit von Normen. Normen geben angesichts
konflikthafter Willensinhalte eine Antwort darauf, wie sich die Individuen
verhalten sollen. Diese Aufgabe können Normen jedoch nur in dem Maße erfüllen,
wie die durch sie gegebene Antwort einerseits für den betreffenden Konflikt
relevant ist und andererseits in ihrem Inhalt möglichst eindeutig und präzise
ist. Hieraus ergeben sich weitere Gesichtspunkte für die Auswahl geeigneter
Normen zur Lösung bestehender Konflikte.
§ 25 Die Unzulässigkeit widersprüchlicher Normen
Keine Konfliktlösung ist durch widersprüchliche Normen
möglich. Zwei widersprüchliche Normen N1 und N2 sind nicht dazu geeignet,
Antworten auf normative Fragen zu geben und bestehende Konflikte zu regeln. Wenn
Individuum A die Norm N1 und Individuum B die Norm N2 vertritt und beide Normen
existieren gleichzeitig, so wird der Konflikt zwischen den Individuen genauso
bestehen, als wenn es überhaupt {-95-} keine normative Regelung gäbe, denn A
verhält sich gemäß N1 und B gemäß N2. Insofern sind widersprüchliche Normen
überflüssig.[[1] Zur Widersprüchlichkeit von Normen vgl. BERKEMANN 1974 u.
KUTSCHERA 1973, S. 29f.]
Man kann die Unzulässigkeit logisch widersprüchlicher
Normen auch noch allgemeiner verdeutlichen. Ziel der normativen Methodologie und
Wissenschaft ist ja die Beantwortung von Fragen, ob bestimmte Normen existieren
sollen oder nicht. Wenn nun logisch widersprüchliche Antworten darauf gegeben
werden wie: "Die Norm N1 soll existieren und sie soll zugleich nicht
existieren", so ist die gestellte Frage überhaupt nicht beantwortet. Logisch
widersprüchliche Normen können also keine normative Fragen beantworten und damit
keine normative Erkenntnis darstellen. [[2] In analoger Weise können
widersprüchliche Aussagen keine Informationen über die Realität vermitteln und
sind zur Beantwortung faktischer Fragen deshalb ungeeignet. S. Dazu OPP 1970, S.
174f.]
Wenn widersprüchliche Normen existieren, indem die Norm N1
eine Handlung gebietet und die Norm N2 dieselbe Handlung verbietet, so ist der
Normadressat gezwungen, eine der beiden Normen zu verletzen. Es ist für ihn
unmöglich, beide Normen zu erfüllen. Die Anwendung widersprüchlicher Normen kann
nicht dazu dienen, ein bestimmtes gewünschtes Verhalten herbeizuführen. Dann
kann jedoch auch niemand diese Norm mit dem Wunsch nach diesem Verhalten
begründen. {-96-}
§ 26 Die Notwendigkeit präziser und eindeutiger Normen
Normative Erkenntnis dient dazu, Fragen in Bezug auf das, was sein soll, zu
beantworten. Damit diese Antworten möglichst eindeutig und präzise ausfallen,
müssen auch die Begriffe, in denen die Norm formuliert ist, möglichst eindeutig
und präzise sein. Da die Normen abgesehen von rein normativen Begriffen wie "gut", "sollen", "Gebot", "Verbot", "Erlaubnis", "Pflicht", "Recht" etc. oder
abgeleiteten normativen Begriffen wie "Eigentum", "Diebstahl", "Mord" etc.
Dieselben Begriffe enthalten wie empirische Aussagen, sind die Probleme der
präzisen Begriffsbildung über weite Strecken analog zu denen der empirischen
Methodologie. [[3] S. Dazu z. B. OPP 1970, S. 135ff.]
Da man bei der Verwendung von Begriffen, die mehrdeutig
oder unscharf sind, nicht genau weiß, was gemeint ist, können Normen, die mit
Hilfe solcher Begriffe formuliert sind, auch keine klare Antwort auf die
gestellten normativen Fragen geben. Zum Beispiel kann man darüber streiten, ob
durch die Norm: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit"
der Schwangerschaftsabbruch verboten wird oder nicht. [[4] Grundgesetz der
BRD, Art. 2, Abs. 2, Satz 1. Das Bundesverfassungsgericht fasste z. B.
auch den Embryo als unter den Begriff "jeder" fallend auf, während der
französische Verfassungsrat den Embryo juristisch nicht als Mensch einstufte. S. "Frankfurter Rundschau" vom 17.01.1975.] {-97-}
Während widersprüchliche Normen keine Antwort auf die Frage
nach dem richtigen Handeln geben können, weil sie alle Handlungen ausschließen,
können umgekehrt normative Leerformeln oder Tautologien keine normative Frage
beantworten, weil sie überhaupt keine Handlung ausschließen, sondern alle
Handlungen zulassen. Solche Leerformeln sind etwa Normen wie: "Man soll nichts
übertreiben!", "Die Regierung hat dem Gemeinwohl zu dienen!", "Man muss immer
das richtige tun!", "Zu hohe Lohnforderungen sind unzulässig!" oder "Wir fordern
eine gerechte Lösung des Konflikts!".
Solche Normen sind immer richtig und deshalb auch ein beliebtes Mittel
weltanschaulicher und politischer Rhetorik. Sie können nicht falsch sein, da sie
gewissermaßen nur die Implikationen der normativen Begriffe ausdrücken. Dass "gerechte" Lösungen zu fordern sind, liegt bereits in der Definition des
Begriffs "Gerechtigkeit". Normativ gehaltvoll wird eine Position erst, wenn sie
angibt, wie nach ihrer Meinung eine gerechte Lösung anzusehen hätte. Das
problematische ist also nicht die Verwendung solcher Begriffe wie "Gerechtigkeit" oder "Gemeinwohl". Diese Begriffe oder ähnliche sind für die
normative Theoriebildung sogar unverzichtbar, ähnlich wie der Begriff "Wahrheit"
für die Logik und die empirische Wissenschaft unverzichtbar ist. Problematisch
ist vielmehr, dass diesen Begriffen kein identifizierbarer Gehalt gegeben wird,
so dass sie leere Hülsen bleiben, die nahezu beliebig füllbar bleiben. [[5]
In analoger Weise besitzen leerformelhafte empirische Aussagen von der Form "Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt
wie es ist" keinerlei Informationsgehalt. S.OPP 1970, S. 174f. Zu normativen
Leerformeln vgl. auch TOPITSCH 1960.] {-98-}
§ 27 Die Notwendigkeit gehaltvoller Normen
Normative Erkenntnis zielt auf die Beantwortung von Fragen nach dem, was sein
soll. Unabhängig davon, ob durch eine bestimmte Norm die gestellte Frage richtig
beantwortet wird, kann man Normen danach einstufen, ob durch sie viele oder
wenige Fragen beantwortet werden. Der Erkenntnisgehalt von Normen ist dabei umso
größer, je mehr normative Fragen durch sie beantwortet werden können.
Eine singuläre Norm, die nur für einen einzigen Fall gilt,
wie: "A soll jetzt schweigen!" beantwortet nur für eine Person zu einem
einmaligen Zeitpunkt die Frage, wie sie handeln soll. Ihr normativer
Erkenntnisgehalt ist also sehr klein.
Der Erkenntnisgehalt einer Norm kann nun dadurch vergrößert
werden, dass man beide Dimensionen, den "Normadressat" und die "Anwendungsbedingungen"
allgemeiner fasst. Anstatt die Norm nur an eine einzige Person zu richten, kann
man sie zugleich an mehrere Individuen richten (" A, B und C sollen schweigen!" ),
an alle Individuen mit bestimmten Eigenschaften richten (" Alle Kinder sollen
schweigen!" ) oder im Grenzfall sogar an alle Individuen (" Alle sollen
schweigen!" ). Beispiele für solche Normen, die sich ausnahmslos an alle Menschen
richten, sind z. B. die mosaischen 10 Gebote, die als an jedermann gerichtete
Imperative formuliert sind, wie z. B. das Gebot: "Du sollst nicht töten!" {-99-}
Wenn der Kreis der Normadressaten durch bestimmte
Eigenschaften charakterisiert wird, so können durch eine solche Norm die Fragen
nach dem richtigen Handeln für sehr viele Individuen gleichzeitig beantwortet
werden. Je größer die Zahl der Eigenschaften jedoch wird, die auf die
Normadressaten zutreffen müssen, umso kleiner wird der Kreis derer, die
sämtliche Eigenschaften besitzen, und umso geringer ist dann auch der Gehalt der
Norm. Im Extremfall kann man die Bedingungen so spezifizieren, dass nur ein
einziges Individuum diese Bedingungen erfüllt, so dass der Gehalt einer solchen
Norm nicht größer ist als bei der Nennung des Eigennamens der betreffenden
Person.
Man kann den Gehalt einer Norm auch dadurch vergrößern,
dass man die Anwendungsbedingungen der Norm allgemeiner fasst. So kann man eine
Norm nicht nur auf einen einmaligen Zeitpunkt beziehen, sondern auf mehrere
Zeitpunkte oder sogar völlig unabhängig von zeitlichen Bestimmungen. Normen wie "Man soll niemals lügen!" bzw. "Man soll immer die Wahrheit sagen!" regeln das
Handeln zu jedem Zeitpunkt in Bezug auf die fragliche Entscheidung und sind
insofern zeitunabhängig und dadurch gehaltvoller.
Man kann den Gehalt von Normen auch ohne jede zeitliche
Bestimmung erweitern, indem man Situationsbedingungen beschreibt, unter denen
die Norm anzuwenden ist. Ein Beispiel hierfür wäre die Norm: "Zum Schutz des
eigenen Lebens darf man den Angreifer töten". Durch eine solche Norm wird die
Tötung eines Menschen unter den Bedingungen der Notwehr erlaubt.[[6] Zur
logischen Struktur bedingter Normen s. KUTSCHERA 1973, S. 24ff.] {-100-}
Auch hier gilt wieder: je einschränkender und spezifischer
die Anwendungsbedingungen einer Norm formuliert sind, desto geringer wird auch
ihr normierender Gehalt. Man kann die Anwendungsbedingungen einer Norm derart
spezifizieren, dass sie nur noch in ganz wenigen Fällen die Frage danach
beantwortet, wie Individuen handeln sollen.
Ähnlich wie in den empirischen Wissenschaften wird man auch
in den normativen Wissenschaften die Aufstellung von allgemeinen Sätzen
versuchen, mit deren Hilfe eine möglichst große Anzahl von Fragen richtig
beantwortet werden kann. Eine besondere Bedeutung kommt in der praktischen Anwendung
von Normen bestimmten Vervollständigungsregeln zu, denn für alle Konflikte muss
es eine verbindliche normative Regelung geben, weil sonst die Kontrahenten
versuchen könnten, ihre Interessen "auf eigene Faust" durchzusetzen.
Vervollständigungsregeln geben an, wie solche normativen
Fragen zu beantworten sind, auf die ein bestimmtes existierendes Normensystem
keine ausdrückliche Antwort gibt. KUTSCHERA nennt zwei Prinzipien, nach denen
ein Normensystem N vervollständigt werden kann. "So sagt man z. B., dass
Handlungen, die in einem System N nicht ausdrücklich oder explizit bewertet
werden, implizit zu bewerten seien nach dem konzessionalen Prinzip:
I.) Alles was (in N) nicht (ausdrücklich) verboten
ist, ist als erlaubt anzusehen.
Oder nach dem interdiktionalen Prinzip:
II.) Alles, was (in N) nicht (ausdrücklich) erlaubt
ist, ist als verboten anzusehen.
In der Jurisprudenz wird das konzessionale Prinzip z. B. in dem Grundsatz des
römischen Rechts 'nullum {-101-} crimen sine lege' (d. h. 'Kein Verbrechen ohne
Gesetz') formuliert. Spielregeln sind dagegen oft interdiktional gemeint: nur
die ausdrücklich erlaubten Spielzüge sind erlaubt, alle anderen verboten.[[7]
KUTSCHERA 1973, S. 31f.] Mit Hilfe solcher Vervollständigungsprinzipien
werden gewissermaßen 'auf einen Schlag' sämtliche normativen Fragen beantwortet,
die ein Normensystem offen gelassen hat. Dadurch wird insofern Rechtssicherheit
für die Individuen hergestellt, als sie bei jeder Handlung im Voraus wissen, ob
sie gegen geltende Normen verstößt.
Andererseits werfen solche pauschalen Regelungen
notwendigerweise Gültigkeitsprobleme auf, denn bei den
Vervollständigungsprinzipien kommt es vor allem darauf an, dass eine irgendwie
geartete verbindliche Entscheidung existiert, dementsprechend auftretende
Konflikte geregelt werden können, wobei auftretende Gültigkeitsprobleme notfalls
im Nachhinein durch die Hinzufügung neuer Normen angegangen werden.
Vervollständigungsregeln erlauben eine Entscheidung darüber, ob eine Handlung
gegen geltende Normen verstößt. Über deren Gültigkeit ist damit noch nicht
entschieden. [[8] Zur Unterscheidung zwischen relativer Geltung und absoluter
Gültigkeit einer Norm s. § 6/2]
§ 28 "Sollen" setzt "Können" voraus
Es war ausgeführt worden, dass relevante Normen voraussetzen, dass
möglicherweise jemand gegen diese Norm verstößt. Hieraus wird auch verständlich,
warum es überflüssig ist, eine Handlung zu verbieten, deren Ausführung sowieso
niemandem möglich ist, denn gegen ein solches Verbot könnte niemand {-102-} verstoßen, selbst wenn er dies wollte. So wäre es z. B.
sinnlos, für Radfahrer eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 200 km/h
einzuführen. Insofern setzt ein "Nicht-Sollen" ein "Können" voraus.
Entsprechendes würde für die Erlaubnis unmöglicher
Handlungen gelten. Die Erlaubnis, dass Radfahrer über 200 km/h fahren dürfen,
ist sinnlos, denn ein "Dürfen" setzt ebenfalls ein "Können" voraus.
Ebenfalls sind Gebote unsinnig,
die eine unmögliche Handlung gebieten, z. B. das Gebot an Radfahrer, schneller
als 200 km/h zu fahren. Auch "Sollen" setzt "Können" voraus.[[9] Vgl. zur
Problematik des logischen Zusammenhangs zwischen "Sollen" und "Können" WRIGHT
1963, S.108ff.] Der Befürworter einer solchen unerfüllbaren Norm muss
wissen, dass durch keine Sanktionierung dieses Gebotes die gebotene Handlung
herbeigeführt werden kann. Folglich kann er auch das Gebot nicht damit
begründen, dass er die gebotene Handlung herbeizuführen wünscht. [[10]
Allerdings kann eine unerfüllbare Norm aus andern Gründen gewollt werden. Z. B.
können solche Normen jemandem dazu dienen, bei den fälligen Bestrafungen für die
Nichterfüllung des Gebots sadistische Hassgefühle zu befriedigen. Oder sie
werden aufgestellt, um bei den Normadressaten Schuldgefühle und Strafängste zu
mobilisieren, die sie gefügiger gegenüber anderen Normen machen.]{-103-}
5. Kapitel
Zur Kritik von Eigeninteresse und Verallgemeinerbarkeit als Kriterien der Gültigkeit von Normen
Das Intersubjektivitätsgebot der normativen Erkenntnis
fordert die Suche nach Normen, deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ
gerechtfertigt werden kann. Hieraus lässt sich eine Reihe von Regeln ableiten,
die die notwendigen Bedingungen eines derartigen argumentativen Konsens
darstellen. Allerdings sind diese Argumentationsregeln noch nicht hinreichend,
um in jedem Fall einen normativen Konsens herzustellen.
Es kann also ohne weiteres sein, dass von zwei
Argumentationspartnern zwei miteinander unvereinbare Normen behauptet werden,
ohne dass einer von beiden die grundlegenden Regeln der Argumentation verletzt.
Aus der methodologischen Regel: "Suche nach einem argumentativen Konsens in
Bezug auf die Norm, die existieren soll!" lässt sich also direkt noch kein
hinreichendes Kriterium dafür gewinnen, welche Norm argumentativ Konsensfähig
ist und welche nicht.
In der empirischen Methodologie ist die Möglichkeit eines
argumentativen Konsens in Bezug auf Behauptungen über die Beschaffenheit der
Realität dadurch gegeben, dass intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der
Realität gemacht werden können. Die Frage ist, ob sich in Bezug auf normative
Behauptungen ein ähnliches Kriterium bestimmen lässt wie das
Wahrnehmungskriterium bei empirischen Behauptungen.
Im Folgenden sollen nun zwei traditionsreiche Versuche
analysiert werden, den argumentativen Konsens über Normen herzustellen und ein
Kriterium dafür zu gewinnen, wann eine Norm "von jedermann gewollt werden
kann".{-104-}
Das eine Mal wird versucht, die Konsensfähigkeit von
Normen über das Eigeninteresse der Individuen herzustellen, das andere Mal wird
als Kriterium die Verallgemeinerbarkeit des individuellen Willens genommen.
§ 29 Konsensfähigkeit von Normen und
Übereinstimmung der Eigeninteressen
Entgegen der obigen Position, dass sich keine Norm denken
lässt, die für alle Individuen vom Gesichtspunkt ihres Eigeninteresses her die
bestmögliche ist, hat es verschiedene Versuche gegeben, die letztliche
Übereinstimmung von Eigeninteresse und normativer Verpflichtung nachzuweisen.
Ohne eine solche Übereinstimmung erschien vielen Theoretikern jede normative
Ordnung als nutzlos. So schreibt z. B. HUME: "... Welche Theorie der Moral kann
jemals irgendeinen nützlichen Zweck erfüllen, wenn sie nicht zeigen kann, ...
dass alle Pflichten, die sie empfiehlt, letztlich auch im wahren Interesse jedes
Individuums sind?" [[3] HUME 1970, S. 280. Dies ist auch ungefähr der
Argumentationsgang von HOBBES im "Leviathan" Kap. XIII.] Man könnte z. B. argumentieren, dass es im Eigeninteresse
jedes Individuums sei, irgendein Normensystem zu akzeptieren. Denn wenn es
überhaupt keine normative Regelung gäbe, so müsste jeder ständig in Angst leben,
dass ein anderer - oder eine Gruppe von Individuen - ihm das nehmen, was er zu
seinem Leben benötigt, seien es Lebensmittel, Arbeitsmittel, Land, Freiheit,
Gesundheit und sogar das eigene Leben oder das seiner Angehörigen. Ohne Normen
wäre es ja niemandem verboten, sich zu nehmen, was er begehrt, gleichgültig ob
es {-107-} sich gerade in der Verfügung eines andern befindet.
Alles sei nur eine Frage der Überlegenheit im Kampf und keiner könnte sicher
sein, dass nicht irgendein anderer bzw. eine Vereinigung von anderen stärker ist
als er. Da einen solchen Zustand des "Faustrechts" niemand wollen kann, so wird
argumentiert, liegt es in jedermanns Eigeninteresse, einem Normensystem und
seiner Sanktionierung durch eine Zentralgewalt zuzustimmen. Ein anderer traditionsreicher Versuch, zu Konsensfähigen
Normen zu kommen, die zugleich dem Eigeninteresse der Individuen entsprechen,
ist die Bestimmung von Normen durch Verträge zwischen den Individuen. Als
Verträge gelten bestimmte Abmachungen {-109-} und Vereinbarungen zwischen allein
von ihrem Eigeninteresse bestimmten Individuen, durch die sich die beteiligten
Vertragsparteien an die Befolgung von gemeinsam akzeptierten Normen binden.
Verträge beinhalten eine Verpflichtung der Individuen zu einem gemeinsam
festgelegten Handeln. Neben dem Problem der universalen Gültigkeit von Verträgen
liegt ein weiteres Problem in den Bedingungen der Zustimmung zu einem Vertrag.
Die Zustimmung zu gültigen Normen muss rein argumentativ herstellbar sein. Sie
darf nicht durch fremde Einflüsse erzeugt werden, die gegen den Willen des
Individuums wirken. [[11] S. o. § 9.] Wenn der Vertrag ein Verfahren zur
Bestimmung gültiger Normen sein soll, so muss also untersucht werden, unter
welchen Bedingungen die Zustimmung zum Vertrag zustande kommt und ob sich der
vertragliche Konsens vom argumentativen Konsens unterscheidet. § 30 Konsensfähigkeit und Verallgemeinerbarkeit von
Normen Wie oben ausgeführt wurde, führt der Appell an das
Eigeninteresse der Individuen höchstens in Ausnahmefällen zu gültigen Normen,
deren Existenz gegenüber jedermann argumentativ gerechtfertigt werden kann. Ein
wichtiger Ansatz, um jenseits individueller Eigeninteressen zu gültigen Normen
zu gelangen, bezieht sich auf die "Verallgemeinerbarkeit" von Normen.[[17]
Anstatt von "Verallgemeinerbarkeit" von Normen wird häufig auch von ihrer "Universalisierbarkeit" gesprochen, vor allem im Anschluss an HARE 1954/55.
Bei bestimmten Normen ist bereits das Kriterium der
generellen Anwendbarkeit hinreichend, um solche Normen als unzulässig
auszuschalten, so dass es gar nicht mehr des Kriteriums der universalen
Anerkennbarkeit bedarf. Denn eine Norm, die nicht allgemein anwendbar ist, kann
bereits von einem einzelnen Individuum nicht sinnvoll gewollt bzw. anerkannt
werden. Eine solche, bei allgemeiner Befolgung sich selbst aufhebende Norm wäre
z. B. die Norm: "Es ist erlaubt, geschlossene Verträge nicht einzuhalten." Ein anderer Versuch, die Verallgemeinerbarkeit von Normen
zum Gültigkeitskriterium zu machen, ist die {-122-} "Goldene Regel". Sie ist z.
B. in der sprichwörtlichen Formulierung ausgedrückt: "Was du nicht willst, das
man dir tu', das füg' auch keinem andern zu!" 6. Kapitel
§ 31 Das Solidaritätsprinzip
In den vorangegangenen Abschnitten wurde dargelegt, dass
weder durch den Appell an das Eigeninteresse der Individuen noch durch das
formale Kriterium der Verallgemeinerbarkeit von Normen ein Kriterium für die
Allgemeingültigkeit von Normen gegeben ist. Das Problem ist, wie trotzdem ein
gewaltfreier Konsens über Normen möglich ist, wie er vom
Intersubjektivitätsgebot gefordert wird. § 32 Erläuterungen zum Solidaritätsprinzip Wenn man die Interessen eines andern Individuums "so
berücksichtigt, als wären es die eigenen", so bedeutet das einmal, dass man die
Interessen des andern positiv berücksichtigt, so wie man auch seine eigenen
Interessen positiv berücksichtigt.
§ 33 Das Solidaritätsprinzip ist kein unmittelbares Kriterium für richtiges
Handeln Das Solidaritätsprinzip gibt an, wie ein gewaltfreier, "vernünftiger" Konsens über Normen hergestellt werden kann. Es darf jedoch
nicht missverstanden werden als ein Kriterium, das unmittelbar für das Handeln
der Individuen verbindlich wäre. § 34 Das Solidaritätsgebot und das Gebot der Personunabhängigkeit Das Solidaritätsgebot verlangt, dass bei der Setzung von
Normen jeder das Interesse jedes andern genauso berücksichtigen muss, als wäre
es sein eigenes. Er muss sich das Interesse des andern "zu eigen" machen. Dazu
muss er sich "in die Lage des andern hineinversetzen" und die zur Entscheidung
stehenden Normen auch "aus seiner Sicht" beurteilen. § 35 Solidaritätsgebot, Gebot der Personunabhängigkeit und
HAREs Prinzip der "Universalisierbarkeit" Die vorangegangenen Überlegungen haben zu ähnlichen
Ergebnissen geführt, wie sie HARE in seinem Buch "Freedom and Reason" vorlegt.
[[12] s. HARE 1965, Abschnitt 6.]
Das von HARE vertretene Prinzip der "Universalisierbarkeit" ist weitgehend
parallel zum Gebot der Personunabhängigkeit und sogar zum Solidaritätsgebot.
Allerdings sind die Begründungen unterschiedlich. 7. Kapitel Die solidarische Zusammenfassung der individuellen
Interessen zu einem Gesamtinteresse Das Problem der Bestimmung gültiger Normen lässt sich
verstehen als Möglichkeit einer gewaltfreien, rein argumentativ erzeugten
Übereinstimmung der individuellen Willen bzw. Interessen. Gemäß dem oben
entwickelten Solidaritätsprinzip ist ein solcher Konsens dann möglich, wenn
jedes Individuum die Interessen jedes anderen Individuum bei der Bestimmung der
zu wählenden Norm genauso berücksichtigt, als wären es seine eigenen. Aus einer
derartigen solidarischen Berücksichtigung aller individuellen Interessen ergibt
sich dann das Gesamtinteresse. § 36 Allgemeines zur Nutzenbestimmung
1. Erläuterung der Nutzenterminologie Wie oben ausgeführt wurde, verlangt das Solidaritätsprinzip
zur Erzielung eines normativen Konsens von jedem Individuum, dass es alle
Interessen solidarisch so berücksichtigt, als wären es die eigenen. Damit ist
die Frage nach einer näheren Bestimmung der individuellen Interessen aufgeworfen
sowie das Problem ihrer solidarischen Gewichtung und Zusammenfassung zu einem
Gesamtinteresse. In ökonomischer Terminologie ausgedrückt heißt dies, dass ein intersubjektiver Nutzenvergleich notwendig ist: Bei der Bestimmung der gültigen Norm muss
der "Nutzen" der verschiedenen Alternativen für jedes Individuum
intersubjektiv vergleichbar bestimmt werden, um diejenige Alternative zu finden,
die den größten "Gesamtnutzen" besitzt. Die Bestimmung eines Nutzenmaßstabs für die solidarische
Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem Gesamtinteresse wirft zwei
verschiedene Arten von Problemen auf, die in der Diskussion leicht
durcheinandergebracht werden können, deren klare Unterscheidung jedoch notwendig
ist. An den Nutzenmaßstab sind zwei Anforderungen zu stellen: § 37 Kritik einer Beschränkung auf eine nur ordinale
Nutzenmessung Das Solidaritätsprinzip erfordert zur Bestimmung des
Gesamtinteresses die gleichgewichtige solidarische Zusammenfassung der
individuellen Eigeninteressen. Anders ausgedrückt: Das, was gesellschaftlich sein
soll, muss ermittelt werden aufgrund dessen, was die Individuen wollen.
Damit stellt sich das Problem, wie sich die Einzelinteressen, wie sich das, was
die Individuen wollen, bestimmen lässt. Diese Bestimmung muss dabei in einer
Form erfolgen, die die Zusammenfassung der individuellen Nutzen zu einem
Gesamtnutzen ermöglicht, anhand dessen dann zwischen alternativen Normen die
gültige Norm ermittelt werden kann. Im vorangegangenen Abschnitt sind die Probleme einer
Bestimmung der individuellen Interessen durch Wahlhandlungen erörtert worden.
Selbst wenn man einmal {-148-} voraussetzt, dass die Wahlhandlungen der Individuen ein
qualifizierter und aufrichtiger Ausdruck ihrer Interessen sind, so kann man
aufgrund von Wahlhandlungen nur eine Rangordnung der Alternativen
gemäß den Interessen des jeweiligen Individuums aufstellen. Man erhält also nur
eine ordinale Bestimmung des individuellen Nutzens, wenn man von den
Wahlhandlungen bzw. Präferenzen der Individuen ausgeht. [[16] Der Übergang vom quantitativen Nutzenbegriff zu einem nur ordinalen Präferenzbegriff vollzog sich in der ökonomischen Theorie demgemäß
auch in enger Verbindung mit der Ausgrenzung normativer Fragestellungen und der
Entwicklung einer Konzeption der Ökonomie als positiver Verhaltenswissenschaft. "Die einzige Bedeutung, die den Nutzenkonzepten zukommen kann, ist die
Kennzeichnung des tatsächlichen Verhaltens, und es ist gründlich demonstriert
worden, dass ein Handlungsverlauf, der durch eine gegebene Nutzenfunktion
erklärt werden kann, ebenso gut durch irgendeine andere Nutzenfunktion erklärt
werden kann, die eine streng ansteigende (strictly increasing) Funktion der
ersteren ist." ARROW 1963, S. 9. Zur Einführung in die Probleme der Nutzenmessung s. z. B. ALCHIAN 1953.] Ein weiterer Grund für eine genauere als nur ordinale
Erfassung der individuellen Interessen ergibt sich aus dem negativen Resultat
der Untersuchungen ARROWs zur Problematik kollektiver Entscheidungen auf der
Grundlage ordinal bestimmter individueller Nutzen. [[21] S. ARROW 1963 und
1967.] ARROW hat darin
nachgewiesen, dass es keine kollektive Entscheidungsregel geben kann, die in
allen Fällen die individuellen Rangordnungen der Alternativen zu kollektiven
Rangordnungen aggregiert, sofern man für die kollektive Entscheidungsregel die
Erfüllung einiger, nach ARROWs Meinung sehr milder und vernünftiger Bedingungen
fordert. A B C Bier Wein Saft Wein Saft Bier Saft Bier Wein Abb.: 7.1 Eine solche Interessenkonstellation wäre jedoch schon nicht
mehr "eingipflig" und würde nach dem Mehrheitsprinzip zu einer intransitiven,
zyklischen kollektiven Präferenz führen, da keines der Getränke gegenüber den
beiden andern mehrheitlich vorgezogen wird. (Siehe dazu auch unten § 111.) § 38 Formale Aspekte der kardinalen Nutzenmessung Wenn man den Nutzen verschiedener Alternativen einer
Entscheidungssituation für ein bestimmtes Individuum A graphisch
veranschaulichen will, so kann man dies wie in Abb. 7.2 mittels einer Achse tun,
auf der von links nach rechts die Höhe [[37] ARROW 1967, S. 135.] {-166-} des Nutzenniveaus für A abgetragen wird. Wenn man dasjenige
Nutzenniveau, welches das Individuum A im Status quo hat, durch einen beliebigen
Punkt auf der Achse ausdrückt, so wird der individuelle Nutzen jeder anderen
Alternative im Verhältnis zum Status quo durch ihren Abstand zum
Status-quo-Punkt ausgedrückt, wobei Verschlechterungen gegenüber dem Status quo
nach links abzutragen sind, während Verbesserungen nach rechts abzutragen sind.
Es wird auf der Achse also für jede Alternative das Nutzenniveau eingetragen,
das durch diese Alternative für das betreffende Individuum erreicht wird. z
sq
x
w
y Abb.: 7.2
In diesem Beispiel hätten die Alternativen
w, x, y und z also für das
Individuum A folgenden Nutzen (bzw. das Nutzenniveau des Individuums A würde im
Verhältnis zum Status quo um die folgende Anzahl von Nutzeneinheiten verändert): Kardinale Nutzenwerte des Individuums A Alternative Nutzen w +5 x +1 y +7 z -6 sq 0 Abb.: 7.3 Intervall-Skala
a1 a2 a3 Durch die oben genannte Bedingung wird gewährleistet, dass
sich der Abstand zwischen den Punkten a1 und a3 als Summe der beiden
Abstände zwischen a1 bis a2 und a2 bis a3 ergibt. Auf dem Messniveau einer
Intervall-Skala ermittelte Werte können also im Gegensatz zu den Werten einer Ordinal-Skala addiert bzw. subtrahiert werden.
3. Die Bestimmung der Nutzeneinheit
4. Die Konstruktion des Gesamtnutzens als Summe der
individuellen Nutzen § 39 Der interpersonale Nutzenvergleich 8. Kapitel Konkrete Verfahren einer interpersonal vergleichbaren
Nutzenmessung und ihre Kritik Das oben entwickelte Konzept eines solidarischen
Nutzenvergleichs kann nicht den Anspruch erheben, bereits ein präzises
Messverfahren darzustellen, sondern kann gewissermaßen nur Schätzwerte liefern.
Es erhebt jedoch den Anspruch, den Begriff des "Nutzens" im normativen Sinne zu
bestimmen. Sofern also Nutzenbestimmungen mit der normativen Implikation
vorgenommen werden, dass die Alternative mit dem größten Nutzen zu
realisieren sind, sind sie an dem Konzept des solidarischen Nutzenvergleichs auf
ihre normative Validität zu prüfen. [[1]Zum Problem der Validität des Nutzenmaßstabs §36/2]
§ 40 Präferenzschwellen als interpersonal vergleichbare
Nutzeneinheiten Der Vorschlag, Wahrnehmungsschwellen in Bezug auf
Nutzenveränderungen als kardinale Nutzeneinheiten zu wählen, wurde in die
wohlfahrtsökonomische Diskussion von ARMSTRONG eingebracht. [[3]ARMSTRONG
1951] Bei dieser
Konzeption wird davon ausgegangen, dass Individuen nur ein begrenztes
Unterscheidungsvermögen hinsichtlich von Verbesserungen ihrer Lage bzw.
Erhöhungen ihres Nutzenniveaus haben. Jedes mal, wenn für ein Individuum eine
wahrnehmbare Nutzenerhöhung stattgefunden hat - wenn also eine Präferenzschwelle
überschritten wurde - , erhöht sich das Nutzenniveau des betreffenden
Individuums um eine Einheit. [[4] Ähnliche Versuche zur Quantifizierung nur
introspektiv zugänglicher Phänomene wie z. B. Schmerz wurden bereits im letzten
Jahrhundert in der Psychologie gemacht. S. FECHNER 1889] § 41 Der
spieltheoretische Nutzenbegriff Andere Versuche der intersubjektiv vergleichbaren
Nutzenmessung nehmen ihren Ausgang vom Nutzenbegriff, wie er seit v. NEUMANN und
MORGENSTERN in der Spieltheorie gebräuchlich ist. [[9] Zum
spieltheoretischen Nutzenbegriff vgl. z. B. v. NEUMANN/MORGENSTERN 1947 oder MARSCHAK 1954 und LUCE/RAIFFA 1957, S. 23ff. Zum
folgenden s. a. Die Diskussion bei ARROW 1963 .S. 9f. und SEN 1970, S. 94f.]
§ 42 Die Wahl der Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen
bei nur teilweiser Vergleichbarkeit der Nutzenmaße Um dem Problem unterschiedlicher Normalisierungen und
unterschiedlicher Gewichtungen der individuellen Nutzen die Schärfe zu nehmen,
schlägt SEN ein Verfahren vor, das er "teilweise Vergleichbarkeit" (partial
comparability) nennt. Dies Verfahren nimmt gewissermaßen eine Zwischenstellung
ein zwischen den zwei Polen einer vollständigen Vergleichbarkeit der
individuellen Nutzen, wo eine Nutzeneinheit beim einen Individuum genau das
gleiche Gewicht besitzt wie eine Nutzeneinheit beim andern Individuum, und einer
völligen Unvergleichbarkeit, wie sie bei bloß subjektiven Rangordnungen der
Alternativen vorliegt. [[16] S. SEN 1970, S.99ff.] SEN schlägt vor, eine Anzahl verschiedener
Verfahren der interpersonalen Normalisierung zu benutzen und zu sehen, ob sich
für die Alternativen unabhängig vom benutzten Verfahren dennoch die gleiche
Rangordnung ergibt. § 43 Bestimmung des Gesamtnutzens und Auslosung der
sozialen Positionen:
HARSANYIs Konstruktion "ethischer Präferenzen" § 44 Nutzenmessung durch
geopferte Gütermengen Andere Versuche kardinaler interpersonal vergleichbarer
Nutzenmessung gehen dahin, den individuellen Nutzen einer Alternative durch die
Menge an Gütern zu bestimmen, die das Individuum für deren Realisierung zu
opfern bereit ist. Zur Bestimmung des individuellen Nutzens einer Alternative
fragt man jedes Individuum: "Wieviele Einheiten des Gutes G bist du bereit zu
opfern, damit diese Alternative realisiert wird?" [[24] Wenn die Alternative für das Individuum einen negativen
Nutzen besitzt, so muss die entsprechende Frage lauten: "Wieviel Einheiten des
Gutes G muss man dir dazugeben, damit du mit der Realisierung dieser Alternative
einverstanden bist?"] § 45 Nutzenmessung durch
geopferte Geldmengen Wenn man naturale Güter als Nutzenmaßstab verwendet, so
tritt das Problem auf, dass die Bedürfnisse der Individuen in Bezug auf das
gewählte Gut unterschiedlich sind, sodass die Vergleichbarkeit der individuellen
Nutzen pro Gütereinheit nicht gegeben ist. Da Geld selber kein konsumierbares
Naturalgut darstellt sondern nur ein bestimmtes Quantum Tauschwert bzw.
Kaufkraft repräsentiert, treten dabei solche Unterschiede in den individuellen
Bedürfnissen nicht störend auf. [[32] Zum Geld als Tauschmedium s. u. § 88.] Wenn man z. B.
den negativen Nutzen
einer anstrengenden Arbeit für die Individuen dadurch messen wollte, für wie viele
Flaschen Bier die Individuen bereit wären, diese Arbeit zu machen, so würde das
Ergebnis je nach der unterschiedlichen Vorliebe der Individuen für Bier auch
entsprechend unterschiedlich ausfallen. [[33] Es sei denn, jemand benutzt das
Bier als Tauschmittel anstatt es selber zu verbrauchen.] Wird der negative Nutzen der
Arbeit jedoch in Kaufkrafteinheiten gemessen, so wirken sich diese individuellen
Geschmacksunterschiede {-222-} nicht aus. § 46 Geopferte Zeit als Nutzenmaßstab Ein Medium, mit dem die Individuen
relativ gleichmäßig ausgestattet sind, ist die Lebenszeit. [[39] Insofern die Lebensdauer der Individuen faktisch
unterschiedlich ist, ist die obige Aussage eigentlich unkorrekt. Genauer müsste
man sagen, dass die Lebenserwartung der Individuen ungefähr gleich ist.
Insofern ihre tatsächliche Lebensdauer den Individuen jedoch unbekannt ist,
spielt für die Bewertung der Lebenszeit durch die Individuen nur ihre
Lebenserwartung eine Rolle.] Es liegt deshalb nahe, den
individuellen Nutzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen interpersonal
vergleichbar danach zu bemessen, wieviel Zeit ein Individuum bereit ist, für die
Realisierung einer Alternative zu opfern. [[40] s. dazu ZINN 1970b, S.113ff. u.
ZINN 1970a, S.73ff.] Eines der auch im Alltag angewendeten Verfahren, um die
individuellen Nutzen verschiedener Alternativen zu vergleichen, besteht darin,
knappe Güter danach auf die Individuen zu verteilen, welche Dauer an Wartezeit sie bereit sind, dafür in Kauf zu nehmen.
[[41] Oft hat sich das Prinzip der Verteilung nach der
Wartezeit auch nur naturwüchsig durchgesetzt, z. B. wenn durch
Preisfestsetzungen eine Verteilung nach der Zahlungsbereitschaft ausgeschaltet
war, wie während der Nachkriegszeit.] Die Individuen können dann für sich kalkulieren {-229-}, wieviel Wartezeit ihnen das Gut wert ist, und
sich zu einem entsprechend frühen Zeitpunkt vor Beginn der Verteilung anstellen.
Die sich bildenden Warteschlangen werden dann der Reihe nach abgefertigt, "solange der Vorrat reicht".
Man kann auch versuchen, den Nutzen der zur Entscheidung
anstehenden Alternativen durch die Bereitschaft der Individuen zu messen, für
deren Realisierung eine bestimmte Zeitdauer zu arbeiten. So schlägt {-233-} ZINN z. B. vor, zur Ermittlung derjenigen Alternative der
Einkommensverteilung, die den größten Gesamtnutzen erbringt, individuelle
Nutzenfunktionen zu bestimmen, indem man ermittelt, "wie viele Arbeitsstunden
jedes Individuum bereit ist, für alternative Einkommen aufzuwenden. ... Eine
Nutzenmessung mit Hilfe dieses Nutzenmaßes führt dann zu interpersonellen
Nutzenvergleichen folgender Art: Wenn A für 400 DM 35 Wochenstunden arbeiten
würde, B hingegen für 400 DM nur 30 Stunden, so haben die 400 DM für A
offensichtlich einen höheren Nutzen. A ist bereit, mehr von seiner Lebenszeit bzw. Freizeit für die 400 DM
zuwenden." [[45] ZINN 1970b, S.113f.] Nach ZINN spricht für die Zeit als Nutzenmaßstab gegenüber
anderen Gütern oder Geld, dass die Ausstattung mit dem Gut "Lebenszeit" bzw. "Lebenserwartung" für alle Individuen annähernd gleich ist, wenn man einmal von
unheilbar Kranken und ähnlichen Ausnahmen absieht. "Die Nutzenmessung soll
sinnvollerweise von einer Kategorie ausgehen, die für alle Menschen von Geburt
an gleich ist. Dies trifft für die Lebenszeit zu. Der gesunde Mensch eines
Jahrgangs hat eine statistisch festgestellte Lebenserwartung." [[48] ZINN 1970a, S.76f.] 9. Kapitel Einwände und Ergänzungen zum Prinzip des maximalen
Gesamtnutzens § 47 Zum
logischen Status von Nutzenbestimmungen § 48 Die Abhängigkeit der
individuellen Interessen von
sozialen Bedingungen Das Solidaritätsprinzip enthält insofern ein "individualistisches" Element, als für die Bestimmung gültiger Normen die
Interessen der Individuen maßgebend sind. Das Gesamtinteresse ergibt
sich aus einer solidarischen Zusammenfassung der individuellen {-242-}Interessen. Gegen diesen Ausgangspunkt bei den
individuellen Interessen könnte eingewandt werden, dass die individuellen
Interessen ja wiederum durch andere Faktoren - vor allem sozialer Art - geformt
werden, sodass man besser gleich bei der Analyse der gesellschaftlichen
Verhältnisse ansetzen sollte, um allgemeingültige Normen zu
bestimmen. § 49 Gibt es
unzulässige individuelle Interessen? Wenn das Solidaritätsprinzip verlangt, die Interessen aller
Individuen zu berücksichtigen, so erscheint eine solche Forderung dann
unangebracht, wenn etwa "bösartige" Interessen der Individuen vorhanden sind, z.
B. das Interesse, andere Menschen zu quälen oder gar zu töten. Muss man nicht
stattdessen von vornherein zwischen "guten" und "bösen" Interessen
unterscheiden, anstatt unterschiedslos alle Interessen zu berücksichtigen, so
wie sie bei den Individuen tatsächlich vorhanden sind? Widerspricht das
Solidaritätsprinzip insofern nicht zumindest dem intuitiven moralischen
Empfinden? § 50 Die Harmonisierung der individuellen Interessen Insofern die Art der individuellen Interessen von Faktoren
wie den sozialen Verhältnissen und der Erziehung im weitesten Sinne beeinflusst
wird, kann bei der Bestimmung der dem Gesamtinteresse entsprechenden Norm nicht
von den aktuellen Interessen ausgegangen {-249} werden, sondern es müssen den Überlegungen solche
Interessen zugrunde gelegt werden, wie sie sich unter den geänderten Bedingungen
voraussichtlich einstellen werden. Damit ist zugleich die Möglichkeit gegeben,
Einfluss auf die Beschaffenheit der individuellen Interessen zu nehmen, um
anstelle wechselseitig unvereinbarer individueller Interessen zukünftig zu einer
Harmonisierung der Interessen zu kommen. § 51 Maximierung des Gesamtnutzens und das Prinzip der
austeilenden Gerechtigkeit Das Solidaritätsprinzip und seine Konkretisierung in einem
Kalkül des Gesamtnutzens fordert einen Einwand heraus, der zwar eigentlich gegen
den klassischen Utilitarismus formuliert wurde, der aber im Prinzip gegen jede
normative Methode gerichtet ist, die eine Maximierung des Gesamtnutzens bzw. ein
Gemeinwohl {-252-} zum Kriterium der Gültigkeit von Normen macht. Der Einwand
richtet sich dabei dagegen, dass die Größe des Gesamtnutzens noch nichts über
die Verteilung des Nutzens auf die Individuen aussagt. So kann eine
Erhöhung des Gesamtnutzens u. U. auf Kosten bestimmter Individuen erreicht
werden, was dem Prinzip der austeilenden oder distributiven Gerechtigkeit
widersprechen könnte. "Die Sache ist, dass eine bestimmte Regel zwar die Summe
des Guten in der Welt maximal vergrößern mag, aber trotzdem ungerecht sein kann
in der Art, wie sie diese Summe verteilt, sodass eine weniger ergiebige Regel,
die gerechter vorgeht, vorzuziehen ist. ... Danach wäre also das Kriterium für
die Aufstellung moralischer Regeln nicht bloß ihre Nützlichkeit sondern auch
ihre Gerechtigkeit." [[17] FRANKENA 1972, S.59.] 10. Kapitel Die Anwendung
individualistischer Entscheidungs-Systeme und
die Qualifikationsbedingungen der individuellen Interessenartikulation § 53 Sanktionsfreiheit als Qualifikationsbedingung der
Interessenäußerung Wenn die Interessenäußerungen eines Individuums
sanktioniert werden, können sie nicht mehr als Ausdruck seines wirklichen
Willens genommen werden. Denn wenn die Wahl der Alternativen mit Belohnungen
oder Bestrafungen bzw. Versprechungen oder Drohungen verbunden wird, so stehen
für das Individuum nicht mehr die ursprünglichen Alternativen zur Wahl, sondern
- durch positive oder negative Sanktionen - modifizierte Alternativen. § 54 Informiertheit als Qualifikationsbedingung der
individuellen Interessenäußerung Weiterhin drückt die Interessenäußerung eines Individuums
dann nicht seinen wirklichen Willen aus, wenn das Individuum über
entscheidungsrelevante Fakten und Zusammenhänge falsch informiert
war. Wenn z. B. im obigen Getränkebeispiel der Mann den Wein irrtümlich
für Traubensaft gehalten hat, so sagt seine Entscheidung für Bier nichts darüber
aus, ob der Genuss von Bier mehr seinem individuellen Interesse entsprochen hätte
als der Genuss von Wein. {-271-} § 55 Fiktion und Wirklichkeit des individuellen Willens in
psychologischen Theorien Mit den Bedingungen der Sanktionsfreiheit und der
Informiertheit ist jedoch das Problem einer qualifizierten individuellen
Interessenäußerung noch keineswegs gelöst. Es hat zwar den Anschein, als brauche
das Individuum angesichts der bekannten Alternativen nur noch "frei heraus" zu
sagen, was es will. Das Problem ist jedoch, dass ein Individuum gar nicht
unbedingt "weiß, was es will". In der psychoanalytisch orientierten Psychologie wurde ein
radikaler Bruch mit der traditionellen Vorstellung vom integrierten, rationalen,
bewusst entscheidenden Subjekt vollzogen. Die Persönlichkeit wird dort
verstanden als aufgebaut aus mehreren relativ selbständigen Instanzen, dem "Es",
dem "Ich" und dem "Über-Ich".[[12] Vgl. zum Folgenden z.
B. FREUD 1969, S.496ff.] Auch in den mehr lerntheoretisch und neurophysiologisch
orientierten Richtungen der Psychologie kann von einem einheitlichen,
integrierten Willen der Person nicht ohne weiteres die Rede sein. So ist nach
den Ergebnissen der Neurophysiologie das Zentral-Nerven-System des Menschen ein
kompliziertes, "etagenmäßig" aufgebautes Steuerungs-System mit teilweise {-278-}relativ selbständigen automatischen und unwillkürlichen
Reflexen, die z. B. direkt über das Rückenmark geschaltet werden. Andererseits
werden diese Reflexe von höheren Nervenzentren des Stammhirns, Kleinhirns und
Großhirns überlagert und können von dorther gehemmt oder gefördert werden. § 56 Psychischer Konflikt und qualifizierte
Interessenartikulation 1. Hemmung Das Problem der qualifizierten individuellen
Interessenartikulation kann am Mechanismus der unwillkürlichen Hemmung
veranschaulicht werden. Folgendes Alltagsbeispiel mag dies verdeutlichen. Im Falle der Verführung hat sich das Individuum
vorgenommen, etwas Bestimmtes nicht zu tun, aber in der konkreten Situation
erliegt es dann übermächtigen Reizen. Jemand hat sich z. B. fest
vorgenommen, sich nicht mehr zu betrinken. Er hat, wie man so sagt, den "ehrlichen Willen", vom Alkohol zu lassen. Nun wird er überraschend von Freunden
eingeladen und dort ist eine angeregte, gelockerte Stimmung. Er hält an seinem
Entschluss fest, aber um ihn herum sind alle Leute ausgelassen und trinken
Alkohol. Er sieht die vollen Gläser vor sich auf dem Tisch stehen und bekommt
ein wachsendes Verlangen nach einem "guten Schluck". Als ihm dann schließlich
ein Glas angeboten wird, kann er nicht mehr länger widerstehen und trinkt
es.{-283-} § 57 Der qualifizierte Wille des Individuums als Kriterium
des individuellen Interesses § 58 Sanktionsverbot, Manipulationsverbot und
qualifizierte
Interessenartikulation in individualistischen Entscheidungs-Systemen § 59 Unterscheidung zwischen
Korrektur und Änderung des
Willens § 60 Unaufrichtigkeit bei der individuellen
Interessenäußerung Die Schwierigkeit einer Überprüfung von
Interessenäußerungen auf ihre Aufrichtigkeit liegt darin, dass Interessen,
Bedürfnisse, Präferenzen usw. nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich sind, sondern direkt nur durch Introspektion,
also die Innenschau des betreffenden Individuums selber erfassbar sind. Trotzdem gibt es Möglichkeiten, um Individuen die Unaufrichtigkeit von
Interessen- oder Wahrnehmungsäußerungen nachzuweisen. § 61 Prinzipielles
Fehlen eines qualifizierten Willens Individualistische Entscheidungs-Systeme sind nicht
anwendbar, wenn Individuen prinzipiell die Fähigkeit zu qualifizierter
Interessenäußerung fehlt. Dieser Fall liegt z. B. vor bei Geisteskranken, deren
Persönlichkeit in verschiedene Bereiche zerfallen ist, oder bei
Kleinkindern, bei denen die Fähigkeit zu einem
einheitlichen Willen noch nicht ausgebildet ist. Wollte man in diesen Fällen die
Feststellung des individuellen Interesses an die Äußerungen der betreffenden
Individuen selber binden, so müsste man erst den Heilungs- bzw. Reifungsprozess
abwarten, um überhaupt einen qualifizierten Willen vorzufinden. Im Vorangegangenen wurde herausgearbeitet, unter welchen
Bedingungen ein Individuum nicht in der Lage ist, sein wirkliches Interesse zu
artikulieren, und Entscheidungen trifft, die es letztlich selber nicht wollen
kann. Damit stellt sich das Problem, wie das individuelle Interesse in einem
solchen Fall bestimmt werden soll. Welche Möglichkeiten der stellvertretenden Rekonstruktion des individuellen Interesses bestehen, wenn keine
qualifizierten Willensäußerungen des betreffenden Individuums verfügbar sind?
Schwieriger wird eine Interessenrekonstruktion dann, wenn
zwar Informationen über die äußeren Lebensumstände des Individuums vorliegen,
die allgemeine Interessenstruktur jedoch nicht bekannt ist. Dann müssen {-299-} allgemeine Annahmen über menschliche Bedürfnisse bzw.
über die Bedürfnisse bestimmter Gruppen gemacht werden, von denen aus sich dann
unter Einbeziehung der äußeren Lebensumstände rekonstruieren lässt, wie die
Interessen dieses Individuums in Bezug auf die zur Entscheidung anstehenden
Alternativen beschaffen sind. Über relativ grobe Annahmen hinsichtlich der Reichweite
menschlicher Interessen hinaus existieren jedoch noch genauere Kenntnisse der
menschlichen Bedürfnisstruktur, die vor allem aufgrund medizinischer und
psychologischer Forschungen ermittelt wurden. Viele Bedürfnisse sind etwa
bestimmten Gruppen von Individuen gemeinsam oder treffen gar auf alle Menschen
zu, sodass man sie berücksichtigen kann, ohne dass sie von den betreffenden
Individuen artikuliert werden müssen. So sagt schon die Alltagserfahrung, dass
Menschen: 4. Das Problem der Gewichtung verschiedener Bedürfnisse Allgemeine Aussagen über die menschliche Bedürfnisstruktur
sind meist nicht genügend präzise, um aus ihnen konkrete Entscheidungsprobleme
und ihre Lösung ableiten zu können. Aussagen wie: "Menschen haben das Bedürfnis,
Schmerzen zu vermeiden" enthalten unausgesprochen immer eine
Ceteris-Paribus-Klausel und müssten vollständig lauten: "Menschen haben das
Bedürfnis, Schmerzen zu vermeiden, sofern alle übrigen Bedingungen gleich sind."
Für den Fall, dass sich die zur Entscheidung anstehenden Alternativen nur im
Aspekt der Schmerzhaftigkeit unterscheiden, reicht eine solche Feststellung aus,
um diejenige Alternative zu bestimmen, die im Interesse des betreffenden
Individuums ist, nämlich die weniger schmerzhafte. Auch ohne einen intraindividuellen Vergleich von
Bedürfnisintensitäten kann man zur Bestimmung des individuellen Interesses
gelangen, wenn man annimmt, dass die Bedürfnisse hierarchisch strukturiert sind
und in ihrer Dringlichkeit einer lexikographischen Ordnung folgen. [[29] S. GAFGEN 1968, S.153ff. u. GEORGESCU-ROEGEN 1954.]
Im Rahmen einer normativen Methodologie kommt der
Bedürfnistheorie die Aufgabe zu, bei Fehlen qualifizierter Interessenäußerungen
der Individuen die Interessen theoretisch zu rekonstruieren. Damit stellt sich die Frage
nach dem wissenschaftstheoretischen Status {-307-} einer normativ anwendbaren Bedürfnistheorie, d. h. es ist zu
fragen, welcher Art die von der Bedürfnistheorie gemachten Aussagen sind, welche
Methoden ihrer Überprüfung angebracht sind und was genau der "Sinn" von
Feststellungen über menschliche Bedürfnisse ist. 11. Kapitel Verfahren zur Vereinfachung der Interessenermittlung § 63 Die
Notwendigkeit vereinfachter Interessenermittlung Aus den Ausführungen zum Solidaritätsprinzip hat sich
ergeben, dass zur Bestimmung allgemeingültiger Normen die Interessen jedes
Individuums solidarisch berücksichtigt werden müssen. Dies setzt voraus, dass zu
jeder Entscheidung die Interessen aller Individuen in Bezug auf die anstehenden
Alternativen ermittelt und zu einem Gesamtinteresse zusammengefasst werden
müssen. Der hierzu nötige Aufwand ist - vor allem bei
größeren Kollektiven - natürlich erheblich und bedeutet eine
ständige Minderung des eigentlich erreichbaren Gesamtnutzens. § 64 Die Abgrenzung
dezentralisierter Entscheidungsbereiche Eine wichtige und häufig verwendete Methode zur
Vereinfachung von kollektiven Entscheidungsprozessen ist die
Abgrenzung
dezentralisierter Verfügungsbereiche, für die nicht mehr die Gesamtheit aller
Individuen zuständig ist, sondern nur ein Teil der Individuen. Für
Entscheidungen, die sich im Rahmen des festgelegten Verfügungsbereichs halten,
brauchen dann nur die Interessen der Mitglieder des jeweils zuständigen
Teilkollektivs ermittelt werden. § 65 Die Beschränkung auf den
Kreis der Betroffenen Das Problem bei der Abgrenzung dezentraler
Verfügungsbereiche liegt dabei in der Zuordnung bestimmter {-317-} Individuen zu bestimmten Entscheidungsbereichen. Wer
ist von einer Entscheidung betroffen und wer nicht? Wessen Interessen müssen
erfasst werden und wessen nicht? § 66 Die Einschaltung von
Beratern Ein weiteres Mittel zur Senkung der Informationskosten der
Entscheidung ist die Einschaltung von Beratern, die Fachleute auf dem
jeweiligen Entscheidungsbereich sind. Die Individuen brauchen dann nicht mehr
alle zur Bestimmung ihrer individuellen Interessen notwendigen Informationen
selber zu beschaffen, denn mehrere Individuen können sich durch denselben
Experten beraten lassen, vor allem wenn ihre Situation ähnlich ist und sie von
denselben Konsequenzen einer möglichen Entscheidung betroffen sind. § 67 Die Ernennung von Interessenvertretern Eine noch weitergehende Entlastung der Individuen von den
Entscheidungskosten kann erreicht werden, wenn sich das Individuum nicht nur
durch einen Fachmann beraten lässt, sondern wenn es die gesamte
Entscheidung an
einen Interessenvertreter oder Repräsentanten delegiert. In
diesem Fall braucht das Individuum selber nicht mehr an den einzelnen
Entscheidungen teilzunehmen, sondern es lässt seine Interessen durch seinen
Vertreter wahrnehmen. § 68 Die Aufstellung
genereller Normen Eine wesentliche Vereinfachung des gesamten kollektiven
Entscheidungsprozesses kann dadurch erreicht werden, dass anstelle einer
Vielzahl ständiger Einzelentscheidungen generelle Normen gesetzt
werden, die das Handeln der Individuen für eine ganze Klasse ähnlicher
Entscheidungsprobleme festlegen. Anstatt durch eine singuläre Norm
vorzuschreiben, wie ein bestimmtes Individuum in einer bestimmten Situation zu
handeln hat, kann durch die Setzung einer einzigen generellen Norm das Handeln
einer Vielzahl von Individuen in einer Vielzahl von Situationen geregelt werden,
wodurch der Entscheidungsaufwand erheblich {-323-} gesenkt wird. (Ende von Teil I)
zurück zu "Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip -
Gesamtinteresse" ***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt: zum Anfang
Wer diese Website interessant findet, den bitte ich,
auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.
Gültigkeit besitzen solche Normen, deren Existenz gegenüber jedermann
argumentativ gerechtfertigt werden kann. Kann diese Rechtfertigung nun dadurch
erreicht werden, dass man an das Eigeninteresse der Individuen appelliert? Unter
dem "Eigeninteresse" soll dabei die Gesamtheit der Willensregungen bzw.
Präferenzen verstanden werden, denen gemäß sich ein Individuum entscheiden
würde, wenn es keinerlei Sanktionen durch andere Individuen befürchten müsste.
Zu dem so definierten Eigeninteresse können dann auch 'altruistische' Motive
gehören, sofern sie das Individuum "verinnerlicht" hat. [[1] Zur Problematik
des Begriffs "Eigeninteresse" s. a. RUSSELL 1910.]
Um die Gültigkeit einer Norm nachzuweisen, müsste dann
gezeigt werden, dass diese Norm in jedermanns Eigeninteresse ist, d. h. Dass
jedes aufgeklärte Individuum sie als die für sich selber beste Regelung wählen
würde. Für den Fall, dass dies möglich ist, kann man davon sprechen, dass diese
Norm im "gemeinsamen Interesse" der Individuen ist. Eine Norm, die im
gemeinsamen Interesse ist, besitzt natürlich Gültigkeit in dem Sinne, dass ihre
Existenz problemlos gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann.{-105-}
Die Schwierigkeit dabei ist jedoch, dass ein solches "gemeinsames Interesse" so gut wie gar nicht vorkommt, es sei denn, die
Individuen hätten bereits jeweils die Eigeninteressen der andern auch zu ihren
eigenen gemacht. Es lässt sich normalerweise zu jeder beliebigen Norm eine
andere Norm denken, die irgendein Individuum von seinem Eigeninteresse her
besser stellt. Auch bei den gewöhnlich als "gerecht" angesehenen Normen lassen
sich leicht Veränderungen finden, die den Wünschen irgendeines Individuums mehr
entsprechen, und sei es letztlich die diktatorische Norm: "Jeder soll das tun,
was ich befehle!", die eine maximale Befriedigung des Eigeninteresses des
Diktators implizieren würde, da alles nach seinen Wünschen verläuft.
Entscheidend ist nun, was man aus diesem Sachverhalt für
Konsequenzen zieht. Ist mit der Feststellung, dass sich praktisch keine Norm
denken lässt, die im Eigeninteresse von jedermann ist, die Suche nach gültigen
Normen als aussichtslos erwiesen und deshalb aufzugeben? Diese Konsequenz wurde
von vielen positivistisch-subjektivistisch orientierten Theoretikern gezogen.
Genau genommen ist damit jedoch nur erwiesen, dass allein durch den Appell an
das Eigeninteresse der Individuen kein Konsens über die Existenz von Normen
erzielt werden kann.
Wer an diesem Punkt die vom Intersubjektivitätsgebot
gebotene Suche nach einem normativen Konsens abbricht, kann dies natürlich
tun, aber er muss sich über die Konsequenz im Klaren sein. Da er nicht mehr nach
einem argumentativem Konsens über Normen strebt, bedeutet das, dass er die
Frage, welche Normen existieren sollen, allein {-106-} durch Gewalt entscheiden
lassen will.
Jeder der die vom Intersubjektivitätsgebot gebotene Suche
nach gültigen Normen aufgibt und trotzdem irgendwelche Normen als
allgemeinverbindlich vertritt, ist der Vertreter einer tatsächlichen oder
potentiellen Gewaltordnung. Dies ist die logische Folge seiner methodologischen
Position. Wer dies nicht will, muss deshalb die Suche nach Konsensfähigen
Normen fortsetzen.
1. Die These vom Eigeninteresse aller an einer
normativen Regelung
Die eine Schwierigkeit bei dieser Argumentation liegt in
der Annahme, dass niemand stark genug ist, um seine Interessen auch ohne Schutz
durch ein sanktioniertes Normensystem zu verfolgen. Denn je mächtiger und
unangreifbarer jemand ist, desto geringer wird sein Eigeninteresse an einer
normativen Regelung. So hat z. B. ein hochgerüsteter Raubritter oder Freibeuter
des Mittelalters, der durch Überfall von Warentransporten reiche Beute macht,
kaum ein Eigeninteresse an der Aufstellung und Sanktionierung irgendwelcher
auch für ihn geltender allgemeiner Gesetze.
Selbst wenn man dies einmal annehmen würde, so wäre damit
nur festgestellt, dass für jedes Individuum irgendwelche Gesetze besser sind als gar keine
Gesetze. Damit kann aber kein bestimmtes Normensystem als im Eigeninteresse
jedes Individuums liegend {-108-} gerechtfertigt werden. Es entspricht höchstens
relativ, nämlich im Vergleich zum normlosen Zustand (dem HOBBESschen "Kriegszustand" ) dem Eigeninteresse jedes Individuums.
So mag das System der Leibeigenschaft für einen Bauern
vielleicht noch relativ besser sein als ein normloser Zustand mit plündernd und
mordend umherziehenden Räuberbanden, aber man kann deshalb nicht sagen, dass die
Einführung der Leibeigenschaft immer dem Eigeninteresse der Bauern entspricht.
[[5] Ähnlich auch RAWLS 1967, S. 324f.]
Der Streit um normative Fragen geht ja praktisch nie darum,
ob überhaupt irgendeine soziale Ordnung existieren soll, sondern welches
Normensystem existieren soll. Es ist ein Streit zwischen alternativen
Konzeptionen. Insofern geht es um die Konsensfähigkeit bestimmter Normen.
Dieser Konsens kann jedoch über das Eigeninteresse an der Vermeidung eines
völlig normlosen Zustands nicht hergestellt werden. [[6] Dieser Zusammenhang
wird rhetorisch oft verwischt, indem man die Gegner einer bestimmten sozialen
Ordnung als Gegner jeder Art von Ordnung hinstellt. Mit dem Hinweis auf die
Schrecken eines normlosen Zustandes kann - mit der obigen Einschränkung -
höchstens irgendeine Ordnung, aber nicht jede Ordnung gerechtfertigt werden.]
2. Vertragstheorie und Übereinstimmung der Eigeninteressen
Inwiefern können nun durch Vertrag gültige Normen
begründet werden? [[7] Zur Klarstellung: Es geht im Folgenden also allein um
die methodologische Grundfrage, ob man mittels Vertrag zu Normen gelangen kann,
deren Existenz gegenüber jedermann gerechtfertigt werden kann. Selbst wenn dies
verneint wird, schließt das natürlich nicht aus, dass Verträge in einem
abgeleiteten Sinne ein brauchbares Verfahren zur Bildung von Normen darstellen
können. S. dazu unten Kap. 13ff.]
Die Existenz gültiger Normen muss gegenüber jedermann
argumentativ gerechtfertigt werden können. Wenn dies gegenüber bestimmten
Individuen nicht möglich ist, so stellt eine solche Norm ein Gewaltverhältnis
gegenüber solchen Individuen dar. Wenn der Vertrag ein solches Verfahren zur
Begründung universal gültiger Normen sein soll, so muss ein solcher Vertrag
gewissermaßen von allen Individuen "unterschrieben" werden können, es müsste ein
Vertrag aller mit allen sein. Als ein Vertrag, den jedes Gesellschaftsmitglied
mit jedem anderen eingeht, wäre es ein so genannter "Gesellschaftsvertrag", ein
Vertrag, der eine gesellschaftliche Ordnung "konstituiert", ihr eine "Verfassung" gibt.
Diese Denkfigur des Gesellschaftsvertrages hat in der
Geschichte der normativen Methodologie eine große Rolle gespielt - und spielt
sie noch heute.[[8] Zur Geschichte der Vertragstheorie s. MÜCKENBERGER 1974.]{-110-}
Selbst wenn ein solcher Gesellschaftsvertrag nun zu einem
bestimmten Zeitpunkt möglich wäre, so würde sich trotzdem die Frage stellen,
wieso Individuen späterer Generationen durch einen solchen Vertrag gebunden sein
sollen, denn sie gehörten ja gar nicht zu den vertragschließenden Parteien.
Außerdem wird die Einigung über einen solchen Vertrag zwischen allen Individuen
einer Gesellschaft aus praktischen Gründen nicht möglich sein - ausgenommen
vielleicht bei der Neugründung von Miniaturgesellschaften. [[9] Auch "verfassunggebende Versammlungen" schließen natürlich keinen
Gesellschaftsvertrag. Sie werden bereits nach bestimmten Normen gewählt, geben
sich nach bestimmten Regeln Geschäftsordnungen und verabschieden den
Verfassungsentwurf nicht mit Einstimmigkeit.].
Damit wird jedoch der Anspruch auf die universale
Gültigkeit irgendeines Gesellschaftsvertrages hinfällig. Auch Versuche, eine
indirekte Zustimmung der Individuen zur bestehenden Ordnung zu konstruieren,
können dies Dilemma nicht lösen. Denn die Tatsache, dass ein Individuum z. B.
nicht auswandert oder die Vorteile der bestehenden Ordnung in Anspruch nimmt,
als eine Zustimmung zu dieser Ordnung zu interpretieren, stellt eine
ungerechtfertigte Ausdehnung des Begriffs "Zustimmung" bzw. "Konsens" dar.
[[10] S. hierzu die Kritik von PLAMENATZ 1968, S.6ff.]
Aus diesem Grunde wurde der Gesellschaftsvertrag meist
nicht - oder nur metaphorisch - als ein historisch stattgefundenes Ereignis
interpretiert, sondern als eine hypothetische Konstruktion, eine Denkfigur, mit
deren Hilfe die Gültigkeit bzw. Die Konsensfähigkeit sozialer Ordnungen und
ihre Verbindlichkeit für das Handeln der Individuen kritisch {-111-} erörtern
werden sollte. Damit wird durch die Idee eines Gesellschaftsvertrages die Frage
einer Begründung gültiger und verbindlicher Normen nur gestellt, aber nicht
beantwortet. Denn wenn nicht auf die Zustimmung der Individuen zu einem
bestimmten Gesellschaftsvertrag verwiesen werden kann, bleibt die Frage völlig
offen, welche Normen den Inhalt eines Gesellschaftsvertrages darstellen können.
Die Fragen normativer Wissenschaft fangen ja dort an, wo man wissen will, welche
Normen allgemein Konsensfähig sind.
3. Vertraglicher Konsens, argumentativer Konsens und Sanktionsverbot
Dieser Punkt wird deutlicher, wenn man sich einmal
überlegt, wieso es überhaupt zum Abschluss von Verträgen kommen kann, wo sich
doch zu jedem Vertragsinhalt ein anderer Inhalt denken lässt, der mindesten
{-112-} dem Eigeninteresse eines der vertragschließenden Individuen besser
entsprechen würde. Damit ist dieser Vertrag streng genommen nicht im
Eigeninteresse dieses Individuums - nennen wir es A. Wenn A trotzdem zugestimmt
hat, so bedeutet dies, dass ein besserer Abschluss nicht erreichbar war, denn
sonst hätte es im eigenen Interesse weiterverhandelt. Die Antwort kann nur
lauten, dass A's Zustimmung zum Vertrag nur sein relatives Eigeninteresse im
Verhältnis zu anderen Alternativen zum Ausdruck brachte.
Der Vertrag kann für A einmal besser gewesen sein im
Verhältnis zu einer Reihe anderer möglicher Vertragsabschlüsse, die mit noch
größeren Abstrichen an seinem Eigeninteresse verbunden gewesen wären. Aber dass
ein Vertrag relativ besser ist als andere mögliche Verträge, kann noch nicht
die Gültigkeit des abgeschlossenen Vertrages begründen. Weshalb hat A nicht
überhaupt den Abschluss eines Vertrages abgelehnt, der nicht für das eigene
Interesse der beste ist?
Die Alternative zum Abschluss irgendeines Vertrages wäre
der Nicht-Abschluss und die Beibehaltung des Status quo. Insofern stellen die
Bedingungen des Status quo den Bezugspunkt für die Zustimmung oder Ablehnung
eines Vertrages durch ein Individuum dar. Wenn man die Qualität der Zustimmung
eines Individuums zu einem Vertrag untersuchen will, so muss man folglich die
Beschaffenheit des Status quo untersuchen. [[12] Der Status quo muss dabei
kein unveränderlicher statischer Zustand sein. Er umfasst immer auch alle
Entwicklungstendenzen und vorhersehbaren Ereignisse in der Zukunft, die ohne
Vertragsabschluss eintreten würden. S.dazu §§ 72 u. 89.]{-113-}
Für das Problem der Gültigkeit von Normen ist es von
Bedeutung, dass der Status quo nicht unabhängig von den Handlungen der
potentiellen Vertragsparteien ist. Je nachdem, wie eine Partei handelt, kann
sich der Status quo für die andere Partei verbessern oder verschlechtern.
Dadurch ist es möglich, dass ein Mächtiger einem Schwächeren mit dem Abbruch der
Vertragsverhandlungen drohen kann, wenn dieser nicht zu bestimmten
Zugeständnissen bereit ist.
Die Drohung mit dem Abbruch der Verhandlungen ist eine
Drohung mit dem Status quo. Der Stärkere kann den Status quo dann so gestalten,
dass es im Eigeninteresse des Schwächeren liegt, seine Zustimmung zu dem Vertrag
zu geben. Der Vertrag bildet dann nicht ein Gleichgewicht der wechselseitigen
Vorteile sondern ein Gleichgewicht der Macht.
Ein extremes aber anschauliches Beispiel dafür, wie der
vertragliche Konsens durch das Macht- und Abhängigkeitsverhältnis im Status
quo beeinflusst wird, bilden Verträge zur Beendigung von Kriegen. Der Status quo
ist hier die Fortsetzung des Krieges. Je stärker eine Partei im Status quo ist,
desto mehr verändern sich die ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstands
zu ihren Gunsten. Wenn sich die Position einer Partei im Status quo langfristig
zu verschlechtern droht, "weil die Zeit gegen sie arbeitet", so wird sie deshalb
versuchen, so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstandsvertrag zu kommen.
Dies kann so aussehen, dass versucht wird, die andere Seite "an den Verhandlungstisch zu bomben". Selbst im Falle der bedingungslosen
Kapitulation einer Seite wird dies noch in einem zweiseitigen Vertrag
festgehalten, dem auch die besiegte Seite zustimmt. Sie drückt mit dieser
Zustimmung ihr relatives {-114} Eigeninteresse an einer Beendigung der
bewaffneten Auseinandersetzungen aus, weil bei einer Fortsetzung des
aussichtslosen Krieges weitere "sinnlose" Verluste der eigenen Seite zu erwarten
wären.[[13] Polemisch werden solche Verträge dann als 'Diktat' bezeichnet.]
Eine solche Form vertraglicher Zustimmung kann man jedoch
nicht als oberstes Kriterium für die Setzung gültiger Normen ansehen. Selbst
wenn die eigentliche Zustimmung ohne unmittelbare Sanktionen erfolgt ist, wenn
also niemand direkt zur Unterschrift unter die Kapitulationsurkunde gezwungen
wurde, so stellt doch der Status quo selber eine Sanktion dar, eine Drohung, die
für die Vertragsparteien unterschiedlich stark ist. Damit erfüllt der
vertragliche Konsens nicht die Bedingung der Sanktionsfreiheit, die für den
argumentativen Konsens Bedingung ist.[[14] Vgl. oben § 16.] Ein
vertraglicher Konsens kann folglich nicht ausreichen, um die Gültigkeit von
Normen zu begründen, selbst wenn seine Universalität gegeben wäre.[[15] Zum
Vertrag als nachgeordnetes Verfahren der Normenfindung s. Kap. 13.]
Es könnte eingewandt werden, dass der Status quo ja nicht
ein normloser Kriegszustand sein muss, sondern auch in der Weiterexistenz
früherer Verträge bestehen kann. Durch solche existierenden Normen würde dann
dem Mächtigeren teilweise die Möglichkeit genommen, seine Überlegenheit
auszuspielen. Dies mag richtig sein, doch damit verlagert sich das Problem der
Gültigkeit nur auf diese bereits vorausgesetzten Normen. Es sollte hier ja nicht
bestritten werden, dass der Vertrag {-115-} unter bestimmten, bereits normierten
Bedingungen ein sinnvolles Verfahren der Normsetzung sein kann. Hier sollte nur
nachgewiesen werden, dass der Vertrag keine oberste Legimitation von Normen
leisten kann.[[16] Vgl. zur Vertragstheorie auch ILTING 1972 sowie die Kritik
bei HABERMAS 1973, S. 141ff.]
1. KANTs 'Kategorischer Imperativ'
Dieser Terminus wird hier nicht verwendet, weil der Terminus "Universalität" für
den Konsensaspekt von Normen reserviert bleiben soll, der besagt, dass gültige
Normen gegenüber jedermann gerechtfertigt werden können müssen. "Verallgemeinerbarkeit" bezieht sich dagegen auf die allgemeine Geltung von
Normen unabhängig von der Person. Auch SINGER 1966 spricht von "generalization"
und nicht von "universalization".]
Zu solchen Versuchen ist etwa KANTs "Kategorischer
Imperativ" zu zählen oder die so genannte "Goldene Regel" : "Was du nicht willst,
dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu!" {-116-} die man auch als "Reziprozitätsgebot"
bezeichnen kann. Auch eine normative Argumentation nach dem Muster: "Was wäre,
wenn jeder so handeln würde!" gehört in diesen Zusammenhang.[[18] S. dazu
kritisch KUTSCHERA 1973, S. 70f.]
Da KANT den "Kategorischen Imperativ" in verschiedenen
logisch nicht gleichbedeutenden Formulierungen vorträgt, geht es hier nur um
eine mögliche Interpretation. Vorweg müssen jedoch noch einige Klärungen
vorgenommen werden, um den Zusammenhang zwischen dem Kategorischen Imperativ und
dem in dieser Arbeit verwendeten Kriterium der Gültigkeit von Normen deutlich zu
machen.
Zum einen gibt der Kategorische Imperativ unmittelbar
Anweisungen für das Handeln des Individuums. Demgegenüber impliziert die
Feststellung der Gültigkeit einer Norm noch nicht ihre Verbindlichkeit für das
Handeln, da als zusätzliche Bedingung die effektive Existenz der Norm gegeben
sein muss.[[19] Vgl. oben § 6/2.] KANT macht diese Unterscheidung
zwischen der Gültigkeit und der Verbindlichkeit einer Norm nicht. Er scheint
jedoch davon auszugehen, dass die Maximen, die dem Kategorischen Imperativ
entsprechen, "für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind." [[20]
KANT 1967, S. 57.] Das bedeutet, dass der Kategorische Imperativ auch als
ein Kriterium der Gültigkeit von Normen anzusehen ist. {-117-}
Außerdem scheint KANT beim Problem der Gültigkeit von
Normen von ihrer Durchsetzbarkeit abzusehen. Zur Prüfung einer Maxime soll sich
das Individuum fragen, ob es wollen kann, dass tatsächlich jeder gemäß dieser
Maxime handelt. Dies wird besonders an folgender Formulierung des Kategorischen
Imperativs deutlich: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen
Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte!" [[21] KANT 1967, S. 68]
Diese Frage kann jedoch für die Gültigkeit einer Norm, die sich auf die
Einführung bzw. Abschaffung einer Norm bezieht, insofern kein hinreichendes
Kriterium sein, als dabei die vollständige Befolgung der Norm vorausgesetzt
wird. Damit wird die Problematik des Kontroll- und Sanktionsaufwands und der
weiterhin auftretenden Normübertretungen außer acht gelassen. Aus diesem Grunde
wurde das Problem der Gültigkeit in dieser Arbeit so definiert, dass jeder die
Existenz gültiger Normen wollen können muss. Dies ist etwas anderes, als wenn
jeder die ausnahmslose Befolgung einer Norm wollen können muss.
Nach diesen Vorklärungen kann nun der Kategorische
Imperativ in seiner Eignung als Gültigkeitskriterium diskutiert werden. In der
Formulierung der 'Kritik der praktischen Vernunft' lautet er: {-118-} "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte!" [[22]
KANT 1966, S. 5.] Handlungsmaximen bzw. Normen, die nicht in dieser Weise
verallgemeinerbar sind, wären danach nicht zulässig und ungültig.
Die Problematik eines solchen "Grundgesetzes der reinen
praktischen Vernunft" liegt nun darin, dass die Maximen des eigenen Handelns,
die jedes einzelne Individuum als allgemeines Gesetz wollen kann, nicht
notwendig identisch oder miteinander vereinbar sein müssen. So kann ein
Sklavenhalter nach der Maxime handeln: "Ein Sklave soll den Befehlen seines
Herrn gehorchen!" und zugleich wollen, dass diese Maxime allgemeines Gesetz
werde. Allerdings kann deshalb eine solche Norm noch nicht von jedem gewollt
werden. Ein Gegner der Sklaverei, etwa der Sklave selber, wird eine solche Norm
nicht wollen können.
Insofern gibt der Kategorische Imperativ kein hinreichendes
Kriterium für die Bestimmung gültiger Normen. Der Grund liegt in seinem Bezug
auf ein einzelnes Individuum: es wird nur nach Maximen gesucht, deren Erhebung
zum allgemeinen Gesetz ein Einzelner wollen kann. Stattdessen ist das Problem
der Gültigkeit von Normen wesentlich ein Problem des intersubjektiven Konsens
aller Individuen. Der Kategorische Imperativ müsste deshalb analog zum
Intersubjektivitätsgebot lauten: "Handle so, dass die Maxime deines Willens
jederzeit zugleich Maxime des Willens jedes anderen Individuums werden könnte!"
{-119-}
Entscheidend dafür, ob eine subjektive Maxime zu einer
gültigen Norm werden kann, ist nicht, ob das einzelne Subjekt widerspruchsfrei
wollen kann, dass sich jedermann nach dieser Maxime verhält, sondern ob diese
Maxime von jedermann gewollt werden kann. Wenn auf die geforderte "Allgemeinheit" einer Norm Bezug genommen wird, muss also der Aspekt der
generellen Anwendbarkeit von dem Aspekt der universalen Anerkennbarkeit
sorgfältig unterschieden werden.
2. Fehlende Anwendbarkeit sich selbst aufhebender Normen
Eine solche Norm wäre selbstaufhebend, weil sie einerseits
die Institution des Vertrages als eine Form der wechselseitigen
Selbstverpflichtung von Individuen voraussetzt, andererseits aber die Grundlagen
für die Anwendung dieser Institution untergraben würde. Eine Vereinbarung, die
nicht eingehalten zu werden braucht, ist kein Vertrag mehr, sondern höchstens
eine unverbindliche wechselseitige Absichtserklärung.
Insofern man einen Vertrag schließt, um ein anderes
Individuum zu bestimmten {-120-} Gegenleistungen zu bewegen, so gelingt dies
nur, wenn der andere an die Einhaltung des Vertrages durch einen selbst glaubt.
Entfällt dies Vertrauen jedoch, weil der Vertrag keine Verbindlichkeit besitzt,
so entfällt für den andern jede motivierende Kraft zur Erbringung der von mir
gewünschten Leistung. Er wird dem von mir gegebenen Versprechen nicht glauben,
und damit kommt überhaupt kein Vertrag zustande. Eine Norm, die die
Nichteinhaltung von Verträgen erlaubt, würde also die Institution des Vertrages
selber aufheben, sie wäre selbstzerstörerisch. [[23] Es kann jedoch
unzulässige Verträge geben, die dann von vornherein nichtig sind und nicht
eingehalten zu werden brauchen.]
In diesem Fall reicht also die Frage, ob eine bestimmte
Norm allgemein anwendbar wäre, bereits hin, um die Norm als nicht anwendbar und
damit zugleich als nicht anerkennbar auszuscheiden. Allerdings sind nicht alle
ungültigen Normen in dieser Weise selbstaufhebend. So wirft die Norm "Alle Juden
sind auszurotten!" keinerlei Probleme einer allgemeinen Anwendbarkeit auf, ist
jedoch sicherlich nicht universal anerkennbar.
Die Wirksamkeit des KANTschen Kategorischen Imperativs
zeigt sich vor allem an solchen selbstaufhebenden Normen, wie das von KANT
selbst genannte Beispiel zeigt: "... Die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass
jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt,
mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den {-123-}
Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben
würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als
eitles Vorgehen lachen würde." [[24] KANT 1967, S.70.]
Ähnlich selbstaufhebend wären Normen wie: "Man braucht
Gesetze nicht zu befolgen", "Man braucht sich an Mehrheitsbeschlüsse nicht zu
halten", "Man braucht bei eidlichen Aussagen nicht die Wahrheit zu sagen", "Man
braucht Schulden nicht zurückzahlen", "Man braucht geliehene Sachen nicht
zurückzugeben" usw.. In jedem Fall müssen die normativen Institutionen, auf die
die Normen Bezug nehmen, wie Gesetze, Mehrheitsbeschlüsse, Eide, Schuldverträge
oder Leihverträge ein bestimmtes Verhalten der Individuen als verbindlich
voraussetzen, um den beteiligten Individuen überhaupt ein Motiv für ihr
Zustandekommen zu geben. Normen, die diese Verbindlichkeit nun aufheben, heben
damit auch die ihnen zugrunde liegenden Institutionen selber auf und damit die
Bedingungen ihrer eigenen Anwendbarkeit.
Eine nicht anwendbare Norm kann jedoch schon das einzelne
Individuum nicht wollen, so dass es sich erübrigt, überhaupt noch die Frage nach
der allgemeinen Konsensfähigkeit dieser Normen zu stellen.[[25] Übrigens
sind solche sich selbst aufhebenden Normen nicht direkt logisch widersprüchlich.
Zur Frage, wie KANTS Formel eines "sich selbst widersprechenden Gesetzes" zu
verstehen ist, s. KÖRNER 1967, S.114ff. Nähere Ausführungen zur Problematik sich
selbst aufhebender Normen macht BAIER 195f., S. 292ff.]
Wenn man sie über Verbotsnormen hinaus erweitert, so könnte
man sie folgendermaßen als Gebot formulieren: "Befolge die Normen, deren Befolgung du auch
von andern verlangst!"
Für die Goldene Regel gelten jedoch ähnliche
Schwierigkeiten wie für den Kategorischen Imperativ. Ein Sklavenhalter handelt
ohne weiteres gemäß einer Norm, deren Befolgung er auch von andern verlangt,
wenn er beliebig über seinen Sklaven verfügt, denn die Norm lautet: "Jeder
Sklave soll den Befehlen seines Herrn gehorchen!" Dass eine Norm allgemein, d. h.
für alle Personen in gleicher Weise gilt, impliziert noch nicht ihre Gültigkeit.
In dem Augenblick, wo die Norm selber eine Differenzierung
verschiedener sozialer Positionen - wie z. B. "Herr" und "Sklave" - enthält, ist
jede Art von Ungleichheit der Individuen mit der Verallgemeinerbarkeit der Norm
vereinbar.
Auch die Norm: "Der Sklave soll den Befehlen seines Herrn
gehorchen!" ist in diesem Sinne "gleiches Recht für alle". Das Verhalten des
Herrn wird durch die gleiche Norm geregelt wie das Verhalten des Sklaven. Mit
der Goldenen Regel können verschiedene miteinander unvereinbare Normen
übereinstimmen, so dass sie für das Problem, welche Norm existieren soll, kein
hinreichendes Kriterium darstellen kann. [[26] Außerdem nimmt die Goldene
Regel auf die möglicherweise unterschiedlichen Bedürfnisstrukturen der
Individuen keine Rücksicht. Zur Kritik der 'Goldenen Regel' s. a. KANT 1967, S.
80f.] {-123-}
Das Solidaritätsprinzip
Das Besondere an einem rein normativen Dissens, der also
nicht auf empirischen Irrtümern, auf dem Missverstehen von Bedeutungen oder auf
logischen Fehlern beruht, besteht darin, dass es sich um einen Konflikt zwischen
den Willen bzw. Interessen der Individuen handelt, die als solche miteinander
unvereinbar sind: es kann nicht zugleich der Wille aller Individuen verwirklicht
werden.
Um nun zu einem Konsens in Form eines Gesamtwillens bzw.
eines Gesamtinteresses zu kommen, müssen sich die Individuen von ihrer rein
subjektiven Interessenlage gedanklich distanzieren und die Interessen der andern
Individuen mit einbeziehen. Dies lässt sich in dem folgenden Prinzip ausdrücken: "Ein gewaltfreier Konsens über Normen ist nur dann möglich, wenn jedes
Individuum die Interessen jedes anderen Individuums genauso berücksichtigt, als
wären es seine eigenen."
Dies Prinzip soll als Solidaritätsprinzip bezeichnet
werden, da es von jedem Individuum bei der Diskussion um Normen eine
solidarische {-124-} Berücksichtigung der Interessen des andern verlangt.
Dies Solidaritätsprinzip hat eine enge Verwandtschaft mit
andern Prinzipien der Ethik oder der Politischen Philosophie.
So formulieren z. B. BENN und PETERS ein Prinzip der "Gleichberücksichtigung der individuellen Interessen".
[[1] S. BENN/PETERS 1959, S. 56].
Auch die Moral der Bergpredigt mit dem zentralen Gebot: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" hat eine enge Verwandtschaft mit dem
formulierten Solidaritätsprinzip. Allerdings ist das Solidaritätsprinzip ein
methodologisches Kriterium für die Diskussion von Normen und keine unmittelbar
für das Handeln verbindliche Norm.
Wichtig ist dabei, dass hier eine universale Solidarität
mit jedem Individuum gemeint ist, während im alltäglichen Sprachgebrauch unter
Solidarität oft nur die partikulare Solidarität mit seinesgleichen gemeint ist.
Die Begründung des Solidaritätsgebots ist dabei letztlich die, dass es die
einzige Möglichkeit bietet, um zu einem gewaltfreien Konsens über die Existenz
von Normen zu gelangen, wie er vom Intersubjektivitätsgebot geboten wird.
Jemand, der das Solidaritätsgebot nicht akzeptiert, muss deshalb entweder einen
akzeptableren Weg zeigen, um zu einem argumentativen Konsens über Normen zu
gelangen, oder aber er verstößt gegen das Intersubjektivitätsgebot.
Letzteres kann er natürlich machen, jedoch schließt er sich damit selber von der
weiteren Diskussion aus, und die von ihm vertretenen Normen können nur den
Charakter von nicht universal zu rechtfertigenden Gewaltordnungen haben. {-125-}
Außerdem ist in der Formulierung enthalten, dass
gleichartige Interessen verschiedener Individuen auch gleich zu berücksichtigen
sind. Diese Gleichheit ergibt sich aus dem gemeinsamen Bezugspunkt für die
Berücksichtigung aller Interessen in Form der jeweils eigenen Interessen.
Es wird also vom Solidaritätsprinzip keine Aufgabe der
eigenen Interessen verlangt, sondern es wird nur gefordert, dass bei der
Bestimmung allgemeingültiger Normen die Interessen der andern Individuen so
berücksichtigt werden und das gleiche Gewicht erhalten müssen wie die eigenen
Interessen. Jedes Individuum kann also seine eigenen Interessen beibehalten und
bringt diese als solche auch in die Überlegungen ein. Auch wenn die aus einer
solidarischen Interessenberücksichtigung resultierende Norm dem eigenen
Interesse nicht entspricht, kann es als solches erhalten bleiben, sofern es nicht in
Handeln umgesetzt wird. Es ist also für einen normativen Konsens nicht
erforderlich, dass die Interessen bzw. "Begehrungen" der Individuen als solche
verändert werden, wie z. B. SCHWEMMER meint. [[2] s. SCHWEMMER 1971, S 109.]
{-126-}
Die Funktion des Solidaritätsprinzips im Rahmen einer
normativen Methodologie kann durch einen Vergleich mit der empirischen
Methodologie verdeutlicht werden. Diese stellt sich ja die Frage nach der
Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.
Das Intersubjektivitätsgebot der empirischen Methodologie würde lauten: "Suche
nach wahren Aussagen!", wobei die Wahrheit einer Aussage auch hier bedeutet,
dass über die behauptete Aussage ein gewaltfreier, also argumentativer Konsens
möglich ist. [[3] Zum Intersubjektivitätsgebot s.o. § 7.]
Das charakteristische an einem rein empirischen Dissens,
der also nicht auf Missverstehen oder logischen und methodologischen Fehlern
beruht, ist der Konflikt bzw. die Nicht-Übereinstimmung der individuellen
Wahrnehmungen. Diese ergibt sich u. a. daraus, dass die Individuen je nach ihrer
zeit-räumlichen Position und Perspektive unterschiedliche Ereignisse wahrnehmen
bzw. dieselben Gegenstände unterschiedlich wahrnehmen, denn es gibt ebensoviel
verschiedene Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, wie es Positionen gibt, die
ein beobachtendes Individuum einnehmen kann.
Wenn sich z. B. zwei Individuen A und B im Gebirge an
verschiedenen Orten aufhalten, von denen aus beide aber dieselben zwei Berge X
und Y sehen können, so ist in der Wahrnehmung von A vielleicht {-127-} der Berg
X der höhere, während in der Wahrnehmung von B der Berg Y der höhere ist. Auch
in den empirischen Wissenschaften muss das "wahre Bild" eines Gegenstandes also
erst durch die Zusammenfassung unterschiedlicher Wahrnehmungen gebildet werden.
Das dahinter stehende methodologische Prinzip der Erfahrungswissenschaften
könnte man analog zum Solidaritätsprinzip der normativen Methodologie
folgendermaßen formulieren: "Ein gewaltfreier Konsens über empirische Aussagen
ist nur möglich, wenn jedes Individuum die Wahrnehmungen jedes andern
Individuums zugleich zu seinen eigenen macht."
Vor dieser Aufgabe, sich aufgrund
unterschiedlicher Wahrnehmungen verschiedener Individuen ein Bild der
Wirklichkeit zu machen, steht z. B. der Richter bei der Rekonstruktion des
Hergangs einer Tat aufgrund von Zeugenberichten oder der Historiker, der die
Berichte von Augenzeugen für seine Forschungen heranzieht.
Auf der empirischen und der normativen Ebene der Erkenntnis
bestehen also ähnliche Problemlagen. Allerdings ist es in Bezug auf die
Wahrnehmungen eines andern Individuums sehr viel leichter als in Bezug auf seine
Interessen, dessen Position einzunehmen und sich seinen "Standpunkt" zu eigen zu
machen, denn dazu ist im Prinzip nur erforderlich, dass man zeitlich und
räumlich die gleiche Position einnimmt wie der andere und seine Aufmerksamkeit
auf den betreffenden Gegenstand bzw. die vom Andern wahrgenommenen Ereignisse
richtet. [[4] Dies ist allerdings bei empirischen Fragen dann nicht möglich,
wenn es sich um Aussagen und Wahrnehmungen über einmalige, bereits vergangene
Ereignisse handelt.] {-128-}
Dagegen ist es sehr viel schwieriger, sich die Interessen
eines andern Individuums zu eigen zu machen und sich dazu in die Position des
anderen "hineinzuversetzen". Die fremde Position kann nur in Ausnahmefällen
tatsächlich eingenommen werden, z. B. wenn ein Autofahrer zugleich Fußgänger ist
und dadurch die Dinge auch "aus der Sicht" der Fußgängerinteressen beurteilen
kann. Meist ist die Position der andern Individuen an überhaupt nicht bzw. nur
schwer veränderliche Eigenschaften ihrer sozialen Lage und Persönlichkeit
gebunden.
So kann man sich z. B. als Weißer nicht faktisch sondern höchstens
vorstellungsmäßig in die Lage eines Schwarzen versetzen, um sich dessen
Interesse an der Aufhebung bestimmter Formen der Rassentrennung zu
vergegenwärtigen und zu eigen zu machen. [[5] Zur näheren Analyse dieser
Problematik s. u. § 39.]
Zu dieser größeren Schwierigkeit auf der normativen Ebene
trägt außerdem bei, dass die Interessen, die Individuen in Bezug auf eine
bestimmte Entscheidung entwickeln, in viel stärkerem Maße von
persönlichkeitsspezifischen Unterschieden der Individuen abhängen als die
Wahrnehmungen, die Individuen vom selben Gegenstand haben. [[6] Allerdings
finden sich auch bei Wahrnehmungen kulturelle und sozialisationsbedingte
Unterschiede zwischen den Individuen sowie Unterschiede, die auf physiologische
Unterschiede der Sinnesorgane zurückgehen.]
Eine weitere Parallele zwischen den Problemen normativer
und empirischer Erkenntnis besteht darin, dass weder die Wahrnehmungen der
Individuen noch ihre {-129-} Interessen, so wie sie von den Individuen geäußert
werden, ohne weiteres zur Grundlage des allgemeinen Wissens genommen werden
können, da sowohl Wahrnehmungen als auch Interessen fehlerhaft sein können.
Sowohl Wahrnehmungen als auch Interessen müssen
intersubjektiv nachvollziehbar sein, um Grundlage allgemeingültiger Erkenntnis
zu werden. So wie es in der normativen Methodologie einer Qualifikation der
individuellen Interessen bedarf, so bedarf es in der empirischen Methodologie
einer Qualifikation der individuellen Wahrnehmungen. Die zufällige Wahrnehmung
ist mit einer Reihe möglicher Fehlerquellen behaftet, die das Individuum selber
bei einer Nachprüfung seiner Wahrnehmung - z. B. über Fotografien - entdecken
kann.
Deshalb wurden Qualifikationsbedingungen einer
wissenschaftlichen Beobachtung entwickelt, die diese Fehlerquellen (optische
Täuschung, selektive Wahrnehmung, Projektionen, Unaufmerksamkeit,
Gedächtnislücken etc.) möglichst ausschalten z. B. in Form wiederholter,
standardisierter Beobachtung mit Hilfsmitteln wie Mikroskop, Fotografie usw..
Auch in den empirischen Wissenschaften haben zufällige Wahrnehmungen eines
Individuums nur eine geringere allgemeine Anerkennung und jeder Wissenschaftler
hat gegenüber dem andern das Recht zu fragen, unter welchen Bedingungen er seine
Wahrnehmungen gemacht hat, um sie selber für sich zu wiederholen. Liegen
problematische Bedingungen vor, so ändert auch die feste individuelle
Überzeugung des Wahrnehmenden nichts daran, dass seine Wahrnehmung nicht
Grundlage allgemeingültigen Wissens sein kann.
Solche Qualifikationen der individuellen Wahrnehmung
spielen vor allem bei Zeugenaussagen vor Gericht eine große Rolle. Wenn ein
Augenzeuge übermüdet war, seine Aufmerksamkeit auf andere {-130-} Objekte
konzentriert war, die Sichtbedingungen schlecht waren, das Ereignis bereits
lange zurückliegt usw., so können seine Wahrnehmungen nur sehr beschränkt zur
Wahrheitsfindung herangezogen werden.
Analog gibt es auch Bedingungen, unter denen die
Interessenartikulation von Individuen unqualifiziert wird, so dass auch die
individuellen Interessen ebenso wie die Wahrnehmungen einer kritischen Prüfung
unterzogen werden müssen.
Als ein solches Kriterium des richtigen Handelns wäre es
sicherlich nicht akzeptabel. Die Regel: "Handle jederzeit so, dass du die
Interessen jedes andern Individuums genauso berücksichtigst, als wären es deine
eigenen!" würde bedeuten, dass man niemals seinem eigenen Vergnügen nachgehen
könnte, indem man spielt oder spazieren geht, denn es wird sicherlich in jedem
einzelnen Fall andere Individuen geben, deren Interesse nach Hilfe gewichtiger
ist als mein Interesse nach Unterhaltung und Entspannung, z. B. wenn jemand
unter Termindruck eine für ihn wichtige Arbeit erledigen muss und
Schwierigkeiten hat, sie allein rechtzeitig fertig zu stellen. [[7] Zu den
Qualifikationsbedingungen der individuellen Interessen s. o. Kap. 13.]
{-131-}
In ähnlicher Weise wird man wahrscheinlich kaum dazu
kommen, für sich eine gewünschte Sache zu benutzen, da es sicherlich immer
andere Individuen gibt, die diese Sache für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse
dringlicher brauchen.
Eine solche Handlungsnorm würde also bedeuten, dass man
sich in keinem Bereich des Lebens von seinem Eigeninteresse leiten lassen
dürfte, sondern bei allen Handlungen das Wohl aller im Auge haben müsste. Dies
wäre eine Norm, die vielleicht auf Heilige anwendbar wäre, aber nicht auf
normale Menschen.
Ohne im einzelnen auf die wahrscheinlich kaum lösbaren
Probleme der Durchsetzung, Kontrolle und Sanktionierung eines solchen schwer
vorstellbaren normativen Systems einzugehen, stellt sich hier die Frage, ob
damit im Endergebnis dem Gesamtinteresse besser gedient ist, als wenn man in
bestimmten Bereichen die Individuen bzw. die Teilkollektive für sich selber
sorgen lässt, ihnen also Bereiche zuteilt, in denen sie weitgehend ihren eigenen
Interessen nachgehen können. [[8] Es wäre also wiederum zu fragen, ob ein
solches Normensystem mit dem Solidaritätsgebot vereinbar ist.]
Im Einzelfall hängt die Entscheidung über die Ausgrenzung
solcher Eigenbereiche, in denen keine Verpflichtung gegenüber anderen besteht,
nicht zuletzt von der tatsächlichen Beschaffenheit und Veränderbarkeit der
menschlichen Motivationsstruktur ab, also davon, inwiefern Menschen ohne den
Antrieb ihres Eigeninteresses {-132-} handlungs- und leistungsfähig sind.
Jemand, der die Norm vertritt, dass man bei allen Handlungen fremde Interessen
so berücksichtigen soll, als seien es die eigenen, muss diese Problematik
entweder für nicht existent oder für gelöst halten und dürfte keine solchen
Eigenbereiche zulassen.
Wenn jemand nun entsprechend dem Solidaritätsgebot
verfährt, so muss die zu wählende Norm folglich unabhängig davon bestimmt
werden, welche Position er selber dabei einnimmt. Oder allgemeiner ausgedrückt:
Ob eine Norm existieren soll, muss unabhängig davon bestimmt werden, welche
Personen welche Positionen einnehmen. Denn wenn die Interessen jeder Person in
gleicher Weise berücksichtigt werden sollen, so spielt die Identität der
Personen keine Rolle.
Deshalb kann der Hinweis, dass es sich im einen Fall um die
Person A handelt und im andern Fall um die Person B, allein noch keinen
Unterschied in der anzuwendenden Norm rechtfertigen. Insofern sind Normen auch "ohne Ansehen der Person" anzuwenden. Es darf keine Rolle spielen, um wen es
sich handelt. {-133-}
Allerdings können andere Unterschiede zwischen den Fällen
und ihren Umständen, wie z. B. unterschiedliche Interessen, Fähigkeiten oder
Funktionen der Personen, die Anwendung unterschiedlicher Normen rechtfertigen.
Diese Unterschiede lassen sich jedoch unabhängig von der Identität der Personen,
also ohne Gebrauch von "Namen", beschreiben als unterschiedliche Eigenschaften
der Personen oder Umstände. [[9] Ähnlich auch SCHWEMMER 1973, S. S3.]
Das paradoxe Sprichwort: "Wenn zwei dasselbe tun, dann ist
es nicht dasselbe" ist nur dann richtig, wenn es so verstanden wird, dass es
andere normativ relevante Unterschiede zwischen den Personen gibt als nur ihre
Identität. Das gleiche gilt für, das Sprichwort "Quod licet Iovi, non licet bovi".
[[10] "Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen noch lange nicht erlaubt".
Insofern dieser Spruch auf Menschen angewandt wird, so verrät allerdings schon
die darin enthaltene Einteilung der Beteiligten in Götter und Rindviecher eine
Haltung, die schwerlich mit dem Solidaritätsgebot übereinstimmen wird.]
Mit dem Hinweis, dass die Identität der Personen kein
normativ relevanter Umstand sein darf, um die Anwendung unterschiedlicher Normen
zu rechtfertigen, ist allerdings noch nichts darüber gesagt, welche sonstigen
Unterschiede zwischen zwei Fällen die Anwendung unterschiedlicher Normen
rechtfertigen können. Diese Frage kann mit dem Gebot der Personunabhängigkeit
allein nicht beantwortet werden, denn damit kann keine Auswahl zwischen
verschiedenen personunabhängig formulierten Anwendungsbedingungen {-134-} für
Normen getroffen werden. Hierzu ist eine Analyse der konkreten Interessenlage
aller Beteiligten gemäß dem Solidaritätsgebot notwendig.
Das Gebot der Personunabhängigkeit ist also zwar ein
notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Gültigkeit von Normen. Es
scheidet Normen als ungültig aus, die in ihrer Formulierung oder in ihrer
praktizierten Anwendung Unterschiede zwischen Personen allein aufgrund ihrer
Identität machen. Über die Gültigkeit von Normen, die dies nicht machen, kann
das Gebot nichts aussagen. [[11] Vgl. oben § 30 zum Kriterium der
Verallgemeinerbarkeit]
HARE will das Prinzip der Universalisierbarkeit als
Kriterium für die Gültigkeit moralischer Argumente aus der umgangssprachlichen Bedeutung der moralischen Begriffe wie "sollen" und "gut" ableiten. Er
meint, dass es die Logik der moralischen Begriffe und die Regeln ihrer
Verwendung erfordern,{-135-} dass man auf gleiche - bzw. in relevanten Aspekten gleiche -
Situationen die gleichen Normen und Bewertungen anwendet. "Wenn eine Person
sagt: 'Ich soll in einer bestimmten Weise handeln, aber niemand sonst soll in
dieser Weise handeln in Umständen, die in relevanter Weise ähnlich sind', dann
missbraucht er meiner These nach das Wort 'sollen' .'' [[13] Hare 1965, S.32]
Dabei weitet er den
Begriff der "gleichen Situation" dahingehend aus, dass alle Situationen als
gleich anzusehen sind, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die
verschiedenen Positionen von verschiedenen Personen eingenommen werden. Dies
entspricht dem Gebot der Personunabhängigkeit, denn die Identität der Personen
darf für die Anwendung von Normen keine Rolle spielen, da durch sie die
Situation nicht verändert wird.[[14] Vgl. hierzu auch HARE 1954/55 und GELLNER 1954/55.]
HARE gibt dem Prinzip der Universalisierbarkeit jedoch noch
eine darüber hinausgehende Bedeutung, die es praktisch bedeutungsgleich mit dem
Solidaritätsprinzip werden lässt. HARE verdeutlicht seine Auffassung anhand
eines Beispiels, wo Individuum A dem Individuum B Geld schuldet und B vor der
Frage steht, ob es moralisch richtig ist, dass er A dafür ins Gefängnis bringt,
was möglich wäre. Das Element der Universalisierbarkeit in Sollensnormen
erfordert in diesem Fall nach HARE, "dass B die Tatsache, dass er diese
bestimmte Rolle in der Situation spielt, nicht berücksichtigen soll, ohne jedoch
die Interessen unberücksichtigt zu lassen, die Menschen in Situationen {-136-} dieser Art haben. Mit andern Worten, er muss bereit sein,
den Neigungen und Interessen von A ein solches Gewicht zu geben, als wären es
seine eigenen. Dies ist es, was egoistische Klugheitsgründe in moralische
Argumentation verwandelt." [[15] S. HARE 1965, S. 94.]
Diese Formulierung ist nahezu identisch mit dem
Solidaritätsgebot. Die Begründung, die HARE für das Prinzip der
Universalisierbarkeit gibt, erscheint jedoch aus verschiedenen Gründen nicht
akzeptabel:
1. HARE will aus den Regeln des moralischen
Sprachgebrauchs, aus der umgangssprachlichen Bedeutung moralischer Begriffe
Kriterien für die Gültigkeit moralischer Argumente und Normen ableiten. Wenn
jemand in der Rechtfertigung von Handlungen gegen das Prinzip der
Universalisierbarkeit im obigen Sinne verstößt, so hält HARE ihm entgegen, dass
er die Bedeutung des Wortes "sollen" nicht verstanden habe. Damit erhebt sich
jedoch die Frage, was der richtige Gebrauch und die richtige Bedeutung des
Wortes "sollen" ist. Wenn es auch einen falschen Gebrauch des Wortes gibt, wie
HARE meint, so kann ja der faktische Gebrauch kein Maßstab sein. [[16] "Es mag sein, dass es einen verfälschten Gebrauch
des Wortes 'sollen' gibt, in dem es gleichbedeutend mit einem einfachen
Imperativ ist." HARE 1965, S.37.]
Wenn jedoch
ein nicht der Universalisierbarkeit entsprechender Gebrauch von Worten wie "sollen" damit abgetan wird, dass dies als ein Gebrauch des Wortes im
nicht-moralischen Sinne bezeichnet wird, der für die moralische Problematik
irrelevant ist, so wird das Prinzip der Universalisierbarkeit zur Definition
dessen, was Moral ist, bereits herangezogen, um hinterher aus dem {-137-} Begriff des Moralischen wieder abgeleitet zu werden, so
dass ein Zirkelschluss vorliegt. Dann würde in die Bedeutung der moralischen
Begriffe hineingelegt werden, was erst das Ergebnis von Überlegungen zum Problem
der Gültigkeit von Normen ist. [[17] Ähnlich argumentiert MacINTYRE: "Zu behaupten, dass
Universalisierbarkeit das Wesen moralischer Wertung ist, bedeutet keine
Information darüber, was 'Moral' bedeutet oder wie moralische Begriffe
gebraucht werden. Damit wird eine Bedeutung für 'Moral' und andere moralische
Worte vorgeschrieben und implizit wird eine Moral vorgeschrieben." MacINTYRE 1957, S. 37.]
Außerdem muss immer die Möglichkeit
einkalkuliert werden, dass einzelne Regeln und Begriffe der Umgangssprache zur
Lösung bestimmter Erkenntnisprobleme ungeeignet sind, so dass eine konstruktive
Veränderung und Weiterentwicklung des sprachlichen Instrumentariums notwendig
wird.
2. Wenn HARE das Prinzip der Universalisierbarkeit als eine
logische Notwendigkeit annimmt, die aus der Bedeutung moralischer Begriffe
folgt, so verstößt er damit gegen das HUMEsche Gesetz, das den logischen
Schluss von Fakten auf Normen verbietet. Das Prinzip der Universalisierbarkeit
besagt ja, dass zwei faktisch gleichen Zuständen die gleiche normative Bewertung
zukommen muss. SEN stellt dazu fest: "Wenn dies als eine logische Notwendigkeit
verstanden wird, so scheint die faktische Gleichheit zweier Zustände (eine
Tatsache) zu implizieren, dass die Zustände gleich gut sind (ein Werturteil)." [[18]
S. SEN 1970, S. 133.]{-138-}
3. Der dritte Einwand richtet sich gegen die problematische Ausweitung des Begriffs der "Ähnlichkeit"
von Umständen. Nach HARE spielt für die Ähnlichkeit einer Situation keine Rolle,
welche Person welche Position einnimmt. Aber man begeht sicherlich keinen logischen Fehler, wenn man der Ansicht ist, dass sich durch die Vertauschung
der Positionen die Situation geändert habe. Allerdings verstößt man gegen das
Gebot der Personunabhängigkeit, wenn man diesen Unterschied zur Anwendung
unterschiedlicher Normen heranzieht. Das Gebot der Personunabhängigkeit ist
jedoch keine Regel der Logik, sondern der normativen Methodologie. [[19] Ähnlich argumentiert MacINTYRE: "... Die Forderung, dass
jedermann nach dem gleichen Maßstab beurteilt werden soll ..., ist so
grundlegend für die liberale Moral, dass sie aus einer Forderung der Moral in
eine Forderung der Logik umgewandelt wird." MacINTYRE 1957, S. 36.]{-139-}
Diejenige Norm, die diesem
Gesamtinteresse am besten entspricht, wäre dann allein Konsensfähig und könnte
für sich Gültigkeit beanspruchen. [[1] Statt des hier gewählten Begriffs "Gesamtinteresse" sind in der normativen Theoriebildung auch die Begriffe "allgemeines Interesse", "öffentliches Interesse", "Gemeinwohl", "allgemeiner
Wille" gebräuchlich. Immer handelt es sich dabei um ein oberstes Kriterium, von
dem her bestimmte Normen und Entscheidungen gerechtfertigt werden.]
Um zu gültigen Normen zu gelangen, ist es also notwendig,
die individuellen Interessen zu bestimmen und diese solidarisch zu einem
Gesamtinteresse zusammenzufassen. Die Möglichkeiten zur genauen und
vergleichbaren Bestimmung individueller Interessen stehen im Mittelpunkt dieses
Kapitels. Dabei wird Gebrauch gemacht von der in der Ökonomie gebräuchlichen
Nutzen- und Präferenz-Terminologie, die für Quantifizierungen besser geeignet ist
als die Interessen- und Willensterminologie, die bisher verwendet wurde. {-140-}
Die Nutzenterminologie wird hier nur deshalb verwandt, weil
sie sich in der Diskussion eingebürgert hat. Statt zu sagen "Der Nutzen einer
Alternative für ein Individuum" könnte man auch verschiedene andere
Formulierungen verwenden wie: "Der (Nutz- bzw. Gebrauchs-) Wert einer Alternative
für ein Individuum" ; "Die Präferenzintensität eines Individuums in Bezug auf
eine Alternative" ; "Das Maß an (Interessen-, Bedürfnis-, Wunsch-) Befriedigung
eines Individuums durch eine Alternative" ; "Der Vorteil (bzw. Nachteil) eines
Individuums durch eine Alternative" ; "Die Veränderung der Wohlfahrt (des Glücks,
des Wohls, der Lebensqualität etc.) {-141-} eines Individuums durch eine Alternative" ; "Die Vorliebe oder Abneigung eines
Individuums für eine Alternative".
Diese Formulierungen werden im folgenden
weitgehend synonym gebraucht. Allein entscheidend ist auf der gegenwärtigen
Ebene der Analyse der Bezug dieser Formulierungen zu der für Normen konstitutiven Ebene des WillensverhäItnisses zur Welt . [[2]
Es ist mit dem Nutzenbegriff also keineswegs die
hedonistische Auffassung verbunden, dass Menschen nur etwas wollen können, das
für sie mit der Gewinnung von Lust bzw. der Vermeidung von Unlust verbunden ist,
wie z. B. BENTHAM voraussetzte. S. BENTHAM 1789, S.33. S. dazu a. u. § 47. Der Begriff "Wert" wurde anstelle von "Nutzen" nicht verwandt, da die Gefahr einer
Verwechslung mit "Tauschwert" sehr groß wäre.]
Dabei müssen zwei Aspekte des Nutzenbegriffs
unterschieden werden. Zum einen kann man sich auf das Nutzenniveau
der verschiedenen Individuen beziehen. Einen Vergleich der Nutzenniveaus
verschiedener Individuen nimmt man z. B. dann vor, wenn man sagt, dass es dem
einen Individuum "besser geht" als dem andern bzw. dass das eine Individuum sich "in einer besseren Lage befindet" als das andere. Auch die Begriffe "Lebensqualität" oder "Wohlfahrt" werden meist in Bezug auf das Nutzenniveau der
Individuen verwendet, z. B. wenn man sagt, dass durch eine Maßnahme "die
Wohlfahrt eines Individuums gesteigert wird."
Zum andern kann man jedoch auch direkt vom "Nutzen
einer Alternative" sprechen. Diese Ausdrucksweise ist nicht unproblematisch,
denn sie tut so, als ob der Nutzen in gleicher Weise eine zum Gegenstand {-142-} gehörige empirische Eigenschaft ist wie z. B.
die
Länge eines Gegenstandes. [3] Die Problemlage ist die gleiche wie bei der
Wert-Terminologie. S. o. § 4.]
Diese Gleichstellung mit faktischen Eigenschaften ist
jedoch in zweierlei Hinsicht unrichtig. Zum einen beziehen sich Aussagen über
den Nutzen bestimmter Dinge immer auf bestimmte Subjekte und sind damit relativ
zu diesen, denn ein und dasselbe Ereignis kann für das eine Individuum einen
großen Nutzen haben, während es für das andere Individuum nutzlos oder gar
schädlich ist. Es muss also beim Gebrauch der Nutzenterminologie immer deutlich
gemacht werden, für wen dieser Nutzen behauptet wird.[[4] Dieser Bezug
zu bestimmten Subjekten wird deutlicher, wenn man statt von "Nutzen" von "Vorteil" spricht. Wenn jemand z. B. sagt: "Dies Ereignis ist vorteilhaft", so
bleibt ein solcher Satz unvollständig, wenn man nicht weiß, für wen das
Ereignis vorteilhaft sein soll.]
Dabei müssen die
Subjekte, auf die Bezug genommen wird, nicht unbedingt einzelne Individuen sein.
Es können auch bestimmte Gruppen von Individuen der Bezugspunkt sein, weshalb
man einer Sache auch einen "kollektiven Nutzen" bzw. einen "Nutzen für die
Organisation" zusprechen kann. Letztlich kann auch der Nutzen für die Gesamtheit aller Individuen gemeint sein, der hier als "Gesamtnutzen"
bezeichnet werden soll. [[5] Die analogen Begriffe zu "Gesamtnutzen" wären "Gesamtinteresse", "Gemeinwohl" oder "Allgemeinwille".]
Sofern jemand kein bestimmtes Subjekt als Bezugspunkt
des Nutzens nennt, ist in der Regel "Nutzen" in diesem universalistischen Sinne
gemeint, also der "Nutzen für die Allgemeinheit" bzw. "Gesamtnutzen".{-143-}
Der andere Aspekt, der den "Nutzen einer Sache" von den
faktischen Eigenschaften einer Sache unterscheidet, besteht darin, dass sich die
Bestimmung des Nutzens einer Sache sinnvoll nur relativ zu andern Alternativen vornehmen lässt. In der Regel wird dieser Bezugspunkt in
Form einer andern Alternative nicht ausdrücklich genannt. Dann wird
stillschweigend als Bezugspunkt für den Nutzen eines Ereignisses das
Nicht-Eintreten dieses Ereignisses, d. h. die Fortdauer des Status quo
vorausgesetzt. Gewöhnlich ist also der Status quo diejenige Alternative, auf die
bei einer Nutzenbestimmung Bezug genommen wird.
Wenn man z. B. in Bezug auf
einen Kranken sagt: "Ein Kuraufenthalt wäre für ihn von großem Nutzen", so
bildet dabei der Status quo in Form von beruflichen Anstrengungen und
städtischer Umweltbelastung den stillschweigenden Bezugspunkt. [[6] Im Prinzip kann man jedoch auch andere Alternativen
anstelle des Status quo zum Bezugspunkt für die Bestimmung des Nutzens einer
Sache nehmen. Die Nutzendimension ist nur ein formaler, quantitativer Ausdruck
für den Wert verschiedener Alternativen einer Entscheidungssituation für ein
bestimmtes Subjekt. Dabei kann es sich auch nur um fiktive
Entscheidungssituationen handeln, wenn man sagt: "Wenn ich nicht an der U-Bahn
wohnen würde, wäre ein Auto für mich von großem Nutzen."]
Der logische Zusammenhang zur Ebene des Nutzenniveaus ist
nun derart, dass "der Nutzen einer Sache" diejenige Veränderung des
Nutzenniveaus eines bestimmten Subjektes angibt, die durch diese Sache
hervorgerufen wird. Wenn man also abgekürzt vom {-144-} "Nutzen einer Alternative" spricht, ohne einen weiteren
Bezugspunkt anzugeben, so meint man damit die Differenz der Nutzenniveaus
zwischen dem Nichteintreten der Alternative, also dem Status quo, und dem
Eintreten dieser Alternative.
Gewöhnlich wird einem Ereignis nur dann "Nutzen"
zugesprochen, wenn es zu einer Erhöhung des Nutzenniveaus führt. Wird das
Nutzenniveau gesenkt, so spricht man meist von "Schaden" bzw. "Kosten" oder aber auch von "negativem Nutzen"
[[7] Analog zum Begriffspaar "Nutzen-Kosten" sind noch
eine Reihe weiterer Formulierungen gebräuchlich, die sich ebenfalls auf die
positive und die negative Richtung der Bewertungsdimension beziehen und die
meist dem Wirtschaftsleben entstammen, wie "Gewinn - Verlust", "Ertrag -
Aufwand", "Vorteil - Nachteil" usw. Dabei wird manchmal ihre Messung in
Geldeinheiten vorausgesetzt. Diese Voraussetzung wird bei diesen Überlegungen
jedoch nicht gemacht. Die Begriffe "Nutzen" und "Kosten" implizieren also
keineswegs ihre Messung in Geldeinheiten. S. Dazu unten § 45.]
Aus dem oben Gesagten ist deutlich geworden, dass "Nutzen"
hier nicht nur als Zweckmäßigkeit von Mitteln aufgefasst wird, obwohl einer
Sache natürlich ein individueller Nutzen zukommen kann, weil sie andern Zielen
eines Individuums dienlich ist. Eine Sache kann jedoch auch als solche
einen Nutzen besitzen, was man als den "intrinsischen Nutzen" bzw. als "intrinsischen Wert" der Sache bezeichnen kann . [[8]
Zum intrinsischen Wert s. SEN 1970, S. 59f., der
in diesem Zusammenhang auch von Basiswerten ('basic values') spricht.] {-144a-}
Das Nutzenkonzept ist hier also nicht eingeengt auf "Nützlichkeit für andere
Zwecke" zu verstehen. [[9] In diesem engen Sinne wird der Nutzenbegriff z. B.
von KLAUS aufgefasst. S. KLAUS 1968, S. 119ff.]
2. Anwendbarkeit und Akzeptierbarkeit des Nutzenmaßstabs
1. Er soll zu Messergebnissen führen, die hinreichend
zuverlässig und präzise sind.
2. Er soll normativ akzeptabel sein, was entsprechend den
vorangegangenen Überlegungen bedeuten würde, dass er dem Solidaritätsprinzip
entspricht.
Bei Punkt 1 handelt es sich um die in der empirischen
Forschung vertraute Problematik der Zuverlässigkeit von Messverfahren. [[10] Vgl. hierzu etwa MAYNTZ u. a. 1969, S. 22ff. oder
FRIEDRICH 1970, S. 246ff.] "Ein Instrument ist zuverlässig in dem Maße, in dem seine wiederholte
Anwendung - auch von verschiedenen Forschern - unter den gleichen Bedingungen
die gleichen Ergebnisse bringt." [[11] Mayntz u. a. 1969, S. 23] Um die Zuverlässigkeit von
Messverfahren zu gewährleisten, bedarf es einmal der Genauigkeit der
Messungen und zum andern der 0bjektivität der Messungen. Ohne ein
bestimmtes Maß an Zuverlässigkeit des Nutzenmaßstabes ist er überhaupt
unbrauchbar, weil nicht anwendbar. Man spricht dann auch davon, {-144b-} dass der Nutzenbegriff nicht "operational" ist. Für die
Zuverlässigkeit von Messverfahren wurden statistische Maßzahlen und Verfahren
entwickelt, durch die verschiedene Verfahren miteinander vergleichbar gemacht
werden können.
Bei Punkt 2, der normativen Akzeptierbarkeit des
Nutzenmaßstabs, handelt es sich um ein Problem, das in der empirischen
Methodologie mit dem Problem der Validität von Begriffen vergleichbar ist. [[12]
Vgl. hierzu z. B. MAYNTZ u. a. 1969, S. 64f.] Bei der Validität von Begriffen bzw.
der Validität ihrer Operationalisierung durch bestimmte Indikatoren geht es um
das Problem, ob das verwendete Messverfahren wirklich dasjenige misst, was man
theoretisch meint. Zur Überprüfung der Validität von Begriffen wurden in der
empirischen Sozialforschung verschiedene Prüfverfahren entwickelt. Allerdings
geht es bei der "validen" Bestimmung eines normativen Nutzenmaßstabs nicht um
dessen prognostische Brauchbarkeit im Rahmen einer empirischen erklärenden
Theorie, sondern um seine normative Akzeptierbarkeit in Bezug auf das
Solidaritätsprinzip bei der Bestimmung des Gesamtinteresses. [[13] Zur prognostischen Validität eines empirischen
Nutzenkonzepts s. ALCHIAN 1953, S. 143ff.]
Der Unterschied zwischen dem Problem der Zuverlässigkeit
und der Validität des Nutzenmaßstabs soll an einem imaginären Beispiel
verdeutlicht werden. {-144c-}
Man könnte zum Beispiel folgenden Vorschlag machen, um den
Gesamtnutzen verschiedener alternativer Normen für eine bestimmte Menge von
Individuen festzustellen: Man versammelt die Individuen in einem Saal und
fordert sie auf, zu jeder vorgestellten Alternative so laut Beifall zu
klatschen, wie es dem individuellen Nutzen jeder Alternative für sie entspricht.
Dann ermittelt man über einen Lautstärkemesser diejenige Alternative, die die
größte Lautstärke und damit den größten Gesamtnutzen erhält.
Ein solches Verfahren der Nutzermessung ließe sicherlich an
Zuverlässigkeit, Präzision und Objektivität der Messung kaum etwas zu wünschen
über, da die Messverfahren der Akustik recht gut entwickelt sind. Allerdings
wäre die normative Validität einer solchen Nutzenbestimmung über den Indikator "Lautstärke des Händeklatschens" sicherlich problematisch. Denn der Einfluss
eines Individuums auf das Gesamtergebnis wäre dabei proportional zu seiner
Fähigkeit, lautstark zu klatschen. Da diese Fähigkeit von Individuum zu
Individuum jedoch recht unterschiedlich sein kann - man denke nur an Alte und
Gebrechliche - gehen die Interessen der Individuen nicht gleichgewichtig in das
Gesamtinteresse ein und damit wäre eine solche Operationalisierung des Nutzens
nicht mit dem Solidaritätsprinzip vereinbar. [[14] Trotzdem ist das Beifallklatschen des Publikums
nach einer Darbietung ein sehr gebräuchliches Mittel, um das Maß der kollektiven
Wertschätzung zu bestimmen, wobei allerdings zusätzlich zur Lautstärke noch die
Dauer des Beifalls eine Rolle spielt.] {-145-}
1. Die Bestimmung der individuellen Nutzen durch
Wahlhandlungen
Eine erste Antwort auf die Frage nach der Bestimmung der
individuellen Interessen besteht darin, dass man die Interessenstruktur eines
Individuums aufgrund seines eigenen Verhaltens ermitteln kann. Vor allem Situationen, in denen das Individuum zwischen
verschiedenen Alternativen wählen kann, geben Hinweise darüber, was ein
Individuum will. In solchen Entscheidungssituationen ist feststellbar,
welche Alternativen das Individuum durch seine Wahlhandlungen vorzieht. Ein
Beispiel hierfür wäre etwa, dass jemand auf einem Tablett verschiedene Getränke:
Bier, Wein und Saft angeboten bekommt. Wenn er ein Glas Bier wählt, so ist das
ein Ausdruck dafür, dass er in dieser Situation "lieber Bier wollte" bzw.
dass
Bier für {146-} ihn einen größeren Nutzen hatte als die andern Getränke.
Selbst bei diesem einfachen Beispiel ergeben sich jedoch
schon Schwierigkeiten allgemeiner Art. Die erste Schwierigkeit betrifft die
Bestimmung der Alternativen, zwischen denen sich das Individuum entschieden hat.
Hat es sich tatsächlich zwischen den Alternativen 'Bier', 'Wein' oder 'Saft'
entschieden oder haben vielleicht ganz andere Aspekte der Situation eine Rolle
gespielt? Vielleicht hatten die drei Getränke eine unterschiedliche Temperatur
und das Individuum hat sich für Bier entschieden, weil es am kältesten war. Dann
wären die zur Wahl stehenden alternativen Getränke unterschiedlicher Temperatur
gewesen. Oder das Bierglas enthielt von allen Getränkearten am wenigsten
Flüssigkeit und das Individuum hat es gewählt, weil es nicht soviel trinken
wollte. Es können auch die verschiedenen Gesichtspunkte gleichzeitig eine Rolle
gespielt haben, so dass die Alternativen komplexer Natur gewesen waren.
Man steht also bei der Interpretation von Wahlhandlungen
als Interessenausdruck immer vor dem Problem, welche Gesichtspunkte für die Wahl
des Individuums relevant gewesen sind, d. h. es ist nicht ohne weiteres
eindeutig, zwischen welchen Alternativen sich das Individuum
eigentlich entschieden hat. Dies Problem ist analog zum Problem der Kausalerklärung des
Verhaltens. Wenn man ein bestimmtes {-147-} Verhalten durch den Hinweis auf das Vorliegen bestimmter
Ursachen erklären will, so stellt sich immer das Problem, ob man nicht die
Wirksamkeit anderer, für das Verhalten möglicherweise ebenfalls relevanter
Faktoren übersehen hat. Um dieses Problem zu lösen, wurde in der
erfahrungswissenschaftlichen Kausalforschung das Experiment entwickelt.
In der experimentellen Anordnung wird der Versuch gemacht, die Wirkung eines
bestimmten Faktors dadurch zu analysieren, dass man möglicherweise ebenfalls
relevante Faktoren ausschaltet bzw. durch Verfahren wie die Bildung von
Kontrollgruppen in ihrer Wirksamkeit erfasst. [[15] Zur Logik des Experiments vgl. z. B. MAYNTZ u. a.
1969, Kapitel 9.]
Eine Wahlsituation muss analog zum Experiment konstruiert
sein, wenn sie Rückschlüsse auf die Bewertung der Alternativen durch das
wählende Individuum zulassen soll. Das Individuum darf bei seiner
Entscheidung ja nur die zur Wahl gestellten Alternativen berücksichtigen und muss
frei von allen anderen Einflüssen sein.
Wenn man aus den zur Entscheidung stehenden Alternativen z.
B. alle möglichen paarweisen Kombinationen bildet und das Individuum nun in
Bezug auf alle Paare entscheiden lässt, welche von beiden Alternativen es
vorzieht, so ergibt sich bei konsistenten Wahlentscheidungen des Individuums
eine eindeutige Rangordnung aller Alternativen. Eine solche Präferenzrangordnung
ordnet eine Menge von Alternativen danach, ob sie für das Individuum "besser", "gleichwertig" oder "schlechter" sind. [[17] Zu den Voraussetzungen für die Aufstellung solcher
Ordnungen wie Reflexivität, Transitivität und Vollständigkeit vgl. GÄFGEN 1968,
S. 150ff. und SEN 1970, S. 7ff.] {-149-}
Insofern die Möglichkeit der "Indifferenz" bzw.
Gleichwertigkeit zweier Alternativen zugelassen wird, spricht man auch von einer "schwachen" Ordnung, während eine Rangordnung ohne Indifferenzbeziehungen als "starke" Ordnung bezeichnet wird. Im folgenden wird versucht, den "technischen"
Apparat im Interesse einer leichteren Verständlichkeit des Textes möglichst
gering zu halten. Die symbolische Schreibweise entspricht der bei ARROW
verwendeten. Dort werden die Alternativen durch die kleinen Buchstaben x, y ...
symbolisiert. Der Ausdruck "xPy" bedeutet "x wird gegenüber y vorgezogen" ; "xIy"
bedeutet "x ist indifferent zu y".
Eine Rangordnung für die normativen Alternativen x, y und z
für ein bestimmtes Individuum könnte z. B. so aussehen, dass x den ersten Platz
einnimmt, der vom Eigeninteresse des Individuums her am vorteilhaftesten ist, y
den zweiten und z den dritten. Wenn nun für alle Individuen die
Alternative x den ersten Platz einnimmt, so liegt ein Zusammenfallen der
individuellen Interessen zu einem "gemeinsamen Interesse" vor und die Wahl der
normativen Alternative x würde ohne Schwierigkeiten gegenüber jedermann
gerechtfertigt werden können.
Da dieser Fall jedoch nicht zu erwarten ist, wie
bereits im § 29 dargelegt wurde, so stellt sich die Frage, was in dem Falle zu
tun ist, wenn nicht für alle Individuen dieselbe Alternative die beste ist.
In diesem Fall benötigt man eine kollektive Entscheidungsregel, um die unterschiedlichen Einzelinteressen zu einem Gesamtinteresse
zusammenzufassen. {-150-}
Zuvor muss jedoch die grundsätzliche Frage gestellt werden,
ob die nur ordinale Messung der individuellen Nutzen mit dem
Solidaritätsprinzip vereinbar ist. Durch eine bloße Rangfolge der Alternativen
sind nämlich die Nutzendifferenzen bzw. die Präferenzintensitäten nicht erfassbar und damit auch nicht intersubjektiv
vergleichbar. Es kann nicht berücksichtigt werden, wie groß der
Nutzenunterschied zwischen zwei Alternativen für ein Individuum ist. Es kann nur
gesagt werden, dass ein Unterschied besteht und in welcher
Richtung. Wie stark die Interessen eines Individuums durch eine Entscheidung
tangiert werden, kann durch eine bloße Rangordnung der Alternativen nicht
ausgedrückt werden.
Für die Bildung einer kollektiven Entscheidung ist diese Nichtberücksichtigung der Präferenzintensitäten
nun von großer Bedeutung, denn die Rangfolge xPy des Individuums A hat für die
Bildung der kollektiven Entscheidung das gleiche Gewicht wie die Rangfolge yPx
des Individuums B, obwohl z. B. für A die Nutzendifferenz zwischen x und y "schwerwiegend" ist, während für B die Alternativen x und y nahezu gleichwertig
sind. Durch die ordinale Messung des Nutzens werden solche Unterschiede nicht
erfasst und können folglich auch nicht berücksichtigt werden.
Ein solches Verfahren erscheint jedoch als
unvereinbar mit
dem Solidaritätsprinzip. Dies erfordert, dass die individuellen Interessen mit
gleichem Gewicht {-151-} berücksichtigt werden, oder genauer ausgedrückt: dass jedes
Individuum die Interessen jedes andern Individuums genauso "wichtig" nehmen soll
wie seine eigenen Interessen. Dieses Prinzip erscheint nur dann erfüllt zu sein,
wenn
feststellbare Intensitätsunterschiede zwischen den Präferenzen der Individuen
auch berücksichtigt werden.
Gegenüber sich selber berücksichtigt ein Individuum
solche Intensitätsunterschiede intra-personaler Art, wie gleich an einem
Beispiel veranschaulicht werden soll. Insofern das Individuum durch das
Solidaritätsprinzip aufgefordert ist, die Interessen des andern wie seine
eigenen zu berücksichtigen, muss es deshalb auch die
Intensitätsunterschiede zwischen seinen Interessen und denen des anderen
berücksichtigen.
Zur Verdeutlichung des
intra-personalen
Intensitätsvergleiches soll das folgende einfache Beispiel dienen. Angenommen ein
Individuum kann im Restaurant zwischen zwei Mahlzeiten wählen, dem
Gericht x, das aus Schweinefleisch und Kartoffeln besteht, und dem Gericht y,
das aus Rindfleisch und Reis besteht. Die Art des Fleisches wie auch die Art der
Beilage sollen für seine Wahl gleich wichtige Kriterien sein. Außerdem soll hier
der Nutzen der Bestandteile voneinander unabhängig sein, d. h. für den Nutzen der
einzelnen Elemente spielt ihre Kombination zu einem Gericht keine Rolle. Nun ist
Rindfleisch eine Lieblingsspeise des Individuums, während ihm Schweinefleisch
gar nicht besonders schmeckt. Es hat also eine sehr intensive Präferenz für
Rindfleisch gegenüber Schweinefleisch. Ob es jedoch Kartoffeln oder {-152-} Reis
als Beilage bekommt, ist ihm nahezu gleichgültig, wenn es auch Kartoffeln etwas lieber isst. Es hat also eine Präferenz von
geringer Intensität für Kartoffeln gegenüber Reis.
Wenn man nun solche Intensitätsunterschiede nicht
berücksichtigt und nur eine ordinale Nutzenmessung in Bezug auf die beiden
Kriterien "Fleisch" und "Beilage" vornimmt, so ergibt sich in Bezug auf das
Kriterium "Fleisch" yPx und in Bezug auf das Kriterium "Beilage" xPy. Da beiden
Kriterien gleiches Gewicht zukommen soll, so könnte man aufgrund dieser
Information nicht entscheiden, welches der beiden Gerichte dem Interesse des
Individuums mehr entspricht. Sie müssten beide als gleichwertig angesehen
werden, da sie die gleichen Rangplätze einnehmen. Demgegenüber würde ein
Individuum, das die Intensitäten seiner Präferenzen in Bezug auf die
verschiedenen Kriterien seiner Entscheidung berücksichtigt, das Gericht y "Rindfleisch und Reis" wählen, denn das Kriterium "Fleisch" spricht sehr viel
stärker für Mahlzeit y als das Kriterium "Beilage" für Mahlzeit x spricht.
Ähnlich wie nun ein einzelnes Individuum seine gleichgewichtigen Teilinteressen
unter Berücksichtigung des Intensitäten aggregiert, so wären nach
dem Solidaritätsprinzip die gleichgewichtigen Einzelinteressen unter
Berücksichtigung der individuell unterschiedlichen Intensitäten zu einem
Gesamtinteresse zu aggregieren. Das Solidaritätsgebot enthält also die Verpflichtung, die
Interessen der verschiedenen Individuen so genau wie möglich zu erfassen und zu
berücksichtigen. {-153-}
Für eine Berücksichtigung inter-personaler
Präferenzintensitäten spricht auch, dass ein reichliches sprachliches
Instrumentarium zur Beschreibung solcher Unterschiede zwischen den Individuen
zur Verfügung steht. Dies lässt darauf schließen, dass solche inter-personalen
Nutzenvergleiche und Vergleiche der Dringlichkeit von Bedürfnissen im täglichen
Leben eine wichtige Rolle spielen. Man sagt z. B. : "Das macht mir nicht viel
aus", wenn man entgegen seinen eigentlichen Interessen auf das stärkere
Interesse eines anderen eingeht. Oder man bittet beim Arzt, wegen einer
dringenden und akuten Erkrankung gegenüber den andern Patienten vorgelassen zu
werden. Diese Aufzählung von inter-personalen Nutzenvergleichen ließe sich noch
beliebig fortsetzen, und es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass die
Einschätzung und Berücksichtigung der Stärke fremder Interessen einen wichtigen
Bestandteil in der "sozialen Intelligenz" eines Individuums darstellt, wenn auch
viele dieser "Rücksichtnahmen" nahezu automatisch und selbstverständlich
ablaufen. [[18] Zur Möglichkeit interpersonaler Nutzenvergleiche
vgl. LITTLE 1950, Kap. 4 sowie unten § 39.]
In der ökonomischen Literatur wird gegen eine über die
Aufstellung von Rangordnungen hinausgehende Nutzenmessung oft ins Feld geführt, dass damit die
Urteilsfähigkeit der Individuen überfordert werde. [[19] Außerdem war für die Durchsetzung des Ordinalismus
natürlich bedeutsam, dass dieser für die Zwecke einer deskriptiven Preistheorie
völlig ausreichte. Vgl. hierzu z. B. SAMUELSON 1965, S. 90ff. sowie STIGLER 1950.] {-154-} Die Feststellung von interpersonal vergleichbaren
Präferenzintensitäten ist sicherlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden,
denn schon die Aufstellung von konsistenten individuellen Rangfolgen kann bei
komplexen Alternativen für die Individuen problematisch sein.
Andererseits
muss jedoch festgestellt werden, dass bei der vergleichbaren Messung der
individuellen Präferenzintensitäten zum Zwecke der Aggregierung zu einem
Gesamtnutzen keinerlei Messperfektionismus erforderlich
ist. Denn die Messung ist ja nur mit dem Genauigkeitsgrad erforderlich, mit dem
solche Intensitäten tatsächlich wahrgenommen werden. Intensitätsdifferenzen, die
gar nicht wahrgenommen werden, können auch kein Problem für die kollektive
Entscheidungsfindung werden. Am Extremfall verdeutlicht heißt das: Wenn die
Individuen z. B. überhaupt keine eindeutigen Interessen haben, dann sind für sie
auch alle normativen Regelungen "gleich gut" und das Problem der Auswahl von
gültigen Normen wird trivial.
Die Notwendigkeit genauerer als ordinaler Messung
ergibt sich nur in dem Maße, wie die Individuen tatsächlich meinen,
nicht nur Rangfolgen in Bezug auf die Alternativen, sondern auch
Nutzendifferenzen zwischen den Alternativen in Bezug auf sich selber und im Vergleich zu andern feststellen zu können. Dass dies häufig der Fall ist, ist
aber unbestreitbar. [[20] Gegen einen unnötigen Messperfektionismus in Bezug
auf die Bestimmung des individuellen Nutzen s. a. u. § 42.] {-155-}
3. ARROWs "Allgemeines Möglichkeits-Theorem" und die
Problematik nur ordinaler Nutzenmessungen
Mit diesem negativen Resultat schien die Vorstellung einer
kollektiven Rationalität analog zur individuellen Rationalität überhaupt
fragwürdig geworden zu sein und jeder weitere Versuch zur Bestimmung von
Kriterien der gesellschaftlichen Wohlfahrt bzw. des Gesamtnutzens schien von
vornherein zum Scheitern verurteilt.
Im Folgenden soll nun die Argumentation ARROWs in der Fassung von 1967 kurz dargestellt werden. [[22]
Auf eine ausführliche
Wiedergabe kann hier verzichtet werden, da dies bereits von verschiedenen
Autoren geleistet worden ist, z. B. bei SEN 1970, S. 37ff., WINCH 1971, S.
176ff. oder LUCE/RAIFFA 1957, S. 328ff. Vgl. auch die Diskussionen zum
ARROW-Paradox in den Sammelbänden von HOOK 1967 und PHELPS 1973.]{-156-}
ARROW verlangt von einer kollektiven Entscheidungsregel, [[23]
ARROW benutzt statt dessen auch den Begriff "social
welfare function" (soziale Wohlfahrtsfunktion) sowie später den Begriff "constitution"
(Verfassung). Die Unterschiede verschiedener Typen von kollektiven
Entscheidungsregeln werden präzisiert bei SEN 1970, S. 33ff. und 47f.] dass sie aus allen möglichen individuellen Rangordnungen in Bezug auf die
zur Entscheidung stehenden Alternativen eine kollektive Rangordnung erzeugt
(Bedingungen der "kollektiven Rationalität" ).
Hierin ist einmal die Bedingung
des "unbeschränkten Bereichs der individuellen Präferenzen" enthalten, da alle
transitiven individuellen Präferenzrelationen zugelassen sein müssen.
Zum andern
ist darin die Bedingung enthalten, dass sich immer eine vollständige und
transitive kollektive Präferenzrelation der Alternativen ergibt, wie es eine
Rangordnung darstellt.
Weiterhin soll eine Alternative x gegenüber einer
Alternative y dann kollektiv vorgezogen werden, wenn jedes Individuum x
gegenüber y vorzieht (Bedingung des "schwachen Pareto- Prinzips" ). [[24]
Zum Pareto-Prinzip s. u. § 70.]
Außerdem soll die kollektive Entscheidung nur von den
individuellen Präferenzordnungen in Bezug auf die tatsächlich zur Entscheidung
stehenden Alternativen abhängen, also unabhängig von den individuellen
Rangordnungen in Bezug auf sonstige Alternativen sein (Bedingung der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen" ).
Als letzte Bedingung soll gelten, dass es kein Individuum
geben darf, dessen Präferenzen automatisch die kollektiven Präferenzen bilden,
unabhängig von den Präferenzen der übrigen Individuen (Bedingung der "Nicht-Diktatur" ). {-157-}
ARROW hat in seinem 'Allgemeinen Möglichkeits-Theorem' nun
bewiesen, dass es keine kollektive Entscheidungsregel geben kann, die alle diese
Bedingungen gleichzeitig erfüllt. [[25] Zum formalen Beweis s. ARROW 1963, S. 98ff. oder SEN
1970, S. 41ff.]
So erfüllt z. B. Das Mehrheitsprinzip
als kollektive Entscheidungsregel zwar die Bedingungen des "Unbeschränkten
Bereichs", des "Schwachen Pareto-Prinzips", der "Unabhängigkeit von irrelevanten
Alternativen" und der "Nicht-Diktatur", aber es kommt bei manchen individuellen
Präferenzordnungen zu zyklischen Mehrheiten und damit zu einer intransitiven
kollektiven Rangordnung der Alternativen. [[26] S. u. §§ 132 und 136.]
Das Pareto-Prinzip wiederum
kann nicht immer eine Rangordnung erzeugen, da zwei Alternativen nach dem Pareto-Prinzip
unvergleichbar sind, wenn die Individuen unterschiedliche Spitzenalternativen
haben, so dass keine einstimmige Präferenz besteht. [[27] S. dazu u. § 70.]
Ähnliche Probleme
gibt es auch bei anderen Entscheidungsregeln und insofern handelt es sich
tatsächlich um ein Allgemeines Möglichkeits-Theorem.
ARROWs Untersuchung hat in den normativen Disziplinen wie
ein Paukenschlag gewirkt, natürlich vor allem in der völlig auf dem ordinalen
Nutzenkonzept basierenden Paretianischen Wohlfahrtsökonomie. {-158-}
ARROWs Ergebnis stellte ja prinzipiell die Möglichkeit in
Frage, durch Zusammenfassung der individuellen Interessen zu einem in sich
konsistenten kollektiven Interesse zu gelangen. Ein solches negatives Ergebnis
hätte natürlich auf jede Form normativer Wissenschaft, sei es normative
Ökonomie, Politik oder Ethik, die schwerwiegendsten Folgen, insofern zwischen
dem individuellen Willen und dem allgemeinen Willen oder Gemeinwohl ein
grundsätzlicher Bruch bestehen würde.
Da am streng logisch durchgeführten Beweis der
Unvereinbarkeit der genannten Bedingungen nicht zu rütteln ist, kann eine
Überwindung dieses negativen Resultats nur durch eine Modifikation zumindest
einer der von ARROW gemachten Voraussetzungen erreicht werden.
Hierzu
sind die verschiedensten Versuche unternommen worden, wobei sich die Bemühungen
vor allem auf zwei Bedingungen, nämlich die der "Kollektiven Rationalität" und
der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen", konzentriert haben, denn
dass eine kollektive Entscheidungsregel nicht-diktatorisch sein soll und
entsprechend dem Pareto-Prinzip nicht gegen den einstimmigen Willen der
Individuen entscheiden soll, erscheint unproblematisch.
Eine Möglichkeit zur Vermeidung des negativen Resultats hat
SEN aufgezeigt, indem er die Bedingung der "Kollektiven Rationalität"
dahingehend abschwächte, dass nicht mehr eine transitive kollektive Rangordnung
der Alternativen verlangt wird, sondern nur noch gefordert wird, dass die
Entscheidungsregel jeweils eine Alternative auswählt, die mindestens ebenso gut {-159-}ist wie irgendeine der anderen Alternativen. [[28]
ln der
Terminologie von SEN heißt das, dass nicht mehr Transitivität der kollektiven
Präferenzrelation verlangt wird, sondern nur noch Azyklizität. "Wenn x1
gegenüber x2 vorgezogen wird, x2 gegenüber x3 und so weiter bis xn, dann verlangt
Azyklizität, dass x1 als mindestens ebenso gut angesehen wird wie Xn.
Dies
ist offensichtlich eine viel schwächere Bedingung als Transitivität, die
verlangen würde, dass für x1 gegenüber xn eine strikte Präferenz besteht. ...
Wenn es ARROWs Ziel nur ist, sicherzustellen, dass 'für jede beliebige Umwelt
eine gewählte Alternative existiert', dann kann dies garantiert werden, indem
man nur noch Azyklizität der sozialen Präferenz fordert ohne Transitivität." SEN
1970, S. 47 f.]
Eine solche Reduzierung der Forderung nach "Kollektiver
Rationalität" auf Azyklizität ist jedoch nicht unproblematisch, wie SEN selber
am Beispiel einer azyklischen Relation verdeutlicht. "Wäre es richtig, einen
Entscheidungsprozess als 'rational' zu bezeichnen, wenn dieser entweder x oder z
auswählen könnte, sofern es um eine Entscheidung zwischen diesen beiden geht,
dass er aber speziell x auswählen müsste, wenn die Auswahl in Bezug auf die drei
Alternativen x, y, z zu treffen wäre?" [[29] SEN 1970, S. 50.] Damit werden ja in Bezug auf den
Nutzen der beiden Alternativen x und z offensichtlich zwei verschiedene Maßstäbe
angelegt, denn in der Teilmenge sind die Alternativen noch gleich gut, während in
der Gesamtmenge die Alternative x plötzlich eindeutig besser ist als z. {-160-}
Andere Versuche zur Überwindung des
Unmöglichkeits-Resultats konzentrierten sich auf denjenigen Teilaspekt der "Kollektiven Rationalität", der alle transitiven individuellen Rangordnungen der
Alternativen für zulässig erklärt, also die Bedingung des "Unbeschränkten
Bereichs". Ausgangspunkt hierfür war das Ergebnis von BLACK, der nachweisen
konnte, dass das Mehrheitsprinzip immer dann zu transitiven kollektiven
Präferenzen führt, wenn die individuellen Präferenzen eine Strukturähnlichkeit
besitzen, die als "Eingipfligkeit" bezeichnet wird. [[30] S. Dazu ausführlich u. § 111. In der Bedingung des "Unbeschränkten Bereichs" und dem damit implizierten "individualistischen
Ansatz" sieht z. B. SCHLICHT das "schwarze Schaf" unter den Bedingungen, das für
das negative Resultat verantwortlich ist. S. SCHLICHT 1974, S. 273.]
Aber auch eine solche Verschärfung der Voraussetzungen in
Bezug auf die individuellen Präferenzen erscheint wenig sinnvoll. Denn wenn man
den Bereich zulässiger individueller Interessen beschränkt, so müsste man
entweder nachweisen, dass individuelle Interessenkonstellationen außerhalb des
zugelassenen Bereichs real nicht vorkommen können oder aber, dass derartige
Interessen nicht dem qualifizierten Willen des Individuums entsprechen können.
[[31] Zu den Qualifikationsbedingungen des individuellen
Willens s. u. Kap. 10.]
Beides ist bisher noch nicht versucht worden und hätte wohl auch kaum Aussicht
auf Erfolg.
Was sollte z. B. auch "unzulässig" sein an folgender
Interessenkonstellation der Individuen A, B und C? (Die Alternativen {-161-} sind dabei gemäß ihrer nutzenmäßigen Rangordnung unter das
jeweilige Individuum geschrieben):
Präferenzordnungen
Wenn man jedoch tatsächlich existierende und qualifizierte
Interessen von Individuen bei der Bestimmung des Gesamtinteresses
unberücksichtigt lässt, so können die danach bestimmten Normen keinen Anspruch
auf Allgemeingültigkeit erheben, da sie gegen das Solidaritätsgebot verstoßen
und damit die Voraussetzungen eines gewaltfreien, argumentativen Konsens über
diese Normen entfallen. Beide Versuche zur Überwindung des negativen Resultats
von ARROW scheinen also in die falsche Richtung zu zielen.
Statt dessen ergibt sich aufgrund der zum Solidaritätsgebot
führenden methodologischen Überlegungen, dass das eigentlich problematische
Element in ARROWs Unmöglichkeits-Beweis die Beschränkung auf individuelle
Präferenzordnungen und damit auf eine nur ordinale und interpersonal nicht vergleichbare
Erfassung der individuellen Nutzen ist. [[32] Dies wurde von verschiedenen Autoren erkannt, was
zu einer gewissen Wiederbelebung von Ansätzen führte, die eine kardinale und
interpersonal vergleichbare Bestimmung der individuellen Nutzen
versuchten. S. hierzu Kap. 8.] {-162-}
Die Nicht-Vergleichbarkeit und der
Ordinalismus in Bezug
auf die individuellen Nutzen ist beim Unmöglichkeits-Theorem einmal in der
Bedingung der "Kollektiven Rationalität" verankert, da hier nur von
individuellen Rangordnungen der Alternativen ausgegangen wird. Zum andern spielt
auch die Bedingung der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen" eine
Rolle, weil damit zusätzlich verlangt wird, dass die Interessen der Individuen
nur durch ihre Präferenzen gegenüber den zur Entscheidung stehenden Alternativen bestimmt werden
dürfen, dass darüber hinaus jedoch nicht zusätzlich die individuellen
Präferenzen gegenüber weiteren hypothetischen Alternativen herangezogen werden
dürfen. "Es ist nicht nur die Bedingung I (" Unabhängigkeit von irrelevanten
Alternativen", E. W.), die die Aggregierung individueller Nutzen ausschließt. Die
Definition einer kollektiven Entscheidungsregel selber schließt dies aus, da
eine kollektive Entscheidungsregel die soziale Rangordnung zu einer Funktion der
Menge individueller Rangordnungen macht." [[33] SEN 1970, S. 89]
ARROW schreibt zur Bedingung der "Unabhängigkeit von
irrelevanten Alternativen " 1967 selber: "Ich habe jedoch heute das Gefühl, dass
die Strenge, die durch diese Bedingung auferlegt wird, strikter als
wünschenswert ist. In vielen Situationen haben wir Informationen über
Präferenzen in Bezug auf nicht durchführbare Alternativen. ... Die potentielle {-163-}Nützlichkeit irrelevanter Alternativen besteht darin, dass
sie empirisch sinnvolle interpersonale Vergleiche erlauben. Die Information, die
uns zu behaupten gestattet, dass ein Individuum die Alternative x gegenüber der
Alternative y stärker vorzieht als ein zweites Individuum y gegenüber x, muss
auf Vergleichen der beiden Alternativen durch die zwei Individuen nicht allein
im Verhältnis der Alternativen zueinander, sondern auch im Verhältnis zu
weiteren Alternativen beruhen".[[34] ARROW 1967, S. 134ff.]
Wie es zu diesem Ausschluss der Berücksichtigung von
Präferenzintensitäten und interpersonalen Nutzenvergleichen durch die Bedingung
der "Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen" kommt, wird durch SEN noch
näher ausgeführt:
" Der Name 'Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen' ist
etwas irreführend. Zwei Aspekte müssen dabei unterschieden werden. Zum einen
wird die Bedingung I (Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, E. W.)
verletzt, wenn in der sozialen Entscheidung in Bezug auf x und y die
individuellen Rangplätze einer dritten Alternative, sagen wir z, im Verhältnis
zu x oder y oder zu irgendeiner anderen Alternative zu einem relevanten Faktor
mit Einfluss werden. Dies nennen wir den 'Irrelevanz'-Aspekt der Bedingung.
Zum
andern wird die so formulierte Bedingung verletzt, wenn in der sozialen
Entscheidung zwischen x und y irgendetwas anderes als die individuellen Rangordnungen in Bezug auf x und y eine Rolle spielt, z. B.
Präferenzintensitäten. {-164-} Dies können wir den 'Rangordnungs'-Aspekt der Bedingung
nennen. Der 'Irrelevanz'-Aspekt ist nur ein Teil des 'Rangordnungs'-Aspekts. Da
der Nutzenmaßstab durch die Bestimmung zweier Punkte auf der Skala festgelegt
werden muss, (die die interpersonale Nutzeneinheit definieren, E. W.) fließen
implizit oder explizit andere Alternativen in die Bewertung ein. Bei dem
Versuch, zum Zwecke der sozialen Aggregation (der individuellen Nutzen, E. W.) zu
einer interpersonalen Entsprechung zu kommen, muss in dieser Weise verfahren
werden und dann verletzt jeder Gebrauch von Präferenzintensitäten nicht nur den
'Rangordnungs'-Aspekt der Bedingung, sondern auch ihren 'Irrelevanz'-Aspekt."
[[35] SEN 1970, S. 89ff.]
Interessanterweise deutet übrigens ARROW selber an, in
welcher Richtung eine Überwindung des Unmöglichkeits-Theorems durch eine
Einbeziehung "irrelevanter" Alternativen erfolgen könnte. Er nennt diesen Ansatz "erweitertes Mitgefühl" (extended sympathy). [[36]
S. ARROW 1965,S. 114f.
Die Einbeziehung des "erweiterten Mitgefühls" in die Bestimmung der
individuellen Nutzen von Alternativen hat übrigens eine enge Verwandtschaft mit
dem vom Solidaritätsgebot geforderten "Sich-hinein-versetzen-in-den-andern", das
weiter unten in §39/1 näher ausgeführt wird.]
ARROW schreibt: "Wir
scheinen bereit zu sein, Vergleiche der folgenden Art anzustellen: Handlung x
ist besser (oder schlechter) für mich als Handlung y für dich ist. Dies ist wohl
in der Tat das übliche Verfahren, nach dem Menschen Urteile über angemessene
Einkommensverteilungen machen; wenn ich reicher bin als du, so mag mir das
Urteil leicht fallen, dass es {-165-} für dich besser ist, den zusätzlichen Dollar zu erhalten,
als für mich. - Wie ist dies vereinbar mit unserm allgemeinen Standpunkt, dass
alle Werturteile zumindest hypothetische Entscheidungen zwischen alternativen
Handlungen darstellen? Interpersonale Vergleiche vom Typus des erweiterten
Mitgefühls können in eine operationale Form gebracht werden. Das Urteil nimmt
dann die Form an: Es ist (nach meinem Urteil) besser, ich selber zu sein im Falle der Handlung x als du zu sein im Falle der
Handlung y. ... Das Prinzip des erweiterten Mitgefühls scheint vielen
Wohlfahrtsurteilen zugrunde zu liegen, die in der alltäglichen Praxis gemacht
werden. Es bleibt abzuwarten, ob aus diesem und anderen akzeptablen Prinzipien
eine Theorie der sozialen Entscheidung abgeleitet werden kann." [[37]
ARROW 1967, S. 135.]
Im Folgenden soll nun versucht werden, das kollektive
Entscheidungs- bzw. Normsetzungsproblem auf der Basis interpersonal
vergleichbarer Nutzenmessung anzugehen.
1.
Nutzenmessung auf einer Intervallskala
Da der
Nutzen einer Alternative in Bezug zum Status quo gleichbedeutend ist mit der
Differenz zwischen dem Nutzenniveau im Status quo und dem Nutzenniveau bei
Realisierung dieser Alternative, entspricht der Nutzen der Alternative dem
Abstand zwischen dem Status-quo-Punkt und dem Punkt für die Alternative.
Wenn es allein darum geht, diejenige Alternative zu
bestimmen, die für das Individuum die größte Erhöhung des Nutzenniveaus, d. h.
den größten Nutzen mit sich bringt, spielt das absolute Nutzenniveau keine
Rolle. Man kann deshalb den jeweiligen Status-quo-Punkt als Nullpunkt ansetzen
und die Verschlechterung bzw. Verbesserung, die für das Individuum mit den zur
Entscheidung anstehenden Alternativen verbunden ist, entsprechend ihrer "Größe"
durch positive bzw. negative Zahlen ausdrücken.
Eine solche kardinale Nutzenmessung setzt allerdings die Bestimmung einer
Nutzeneinheit voraus, so dass der Nutzen jeder {-167-}Alternative durch eine
abzählbare Anzahl von Nutzeneinheiten angegeben werden kann. [[38] Man
unterscheidet in der Mathematik zwischen Kardinalzahlen und Ordinalzahlen.
Während Kardinalzahlen Anzahlen angeben
wie 10 Pferde, 3 Äpfel, 4 Meter usw., stellen Ordinalzahlen Platz- bzw.
Rangnummern dar wie z. B. Das 10. Pferd, der 3. Apfel oder das viertgrößte Haus.
Zum Problem der Nutzenmessung und der verschiedenen Messniveaus und Skalen s.
GÄFGEN 1968, S. 144 ff.]
Wenn sich eine solche Nutzeneinheit bestimmen lässt, so kann
man den Nutzen der Alternativen w, x, y und z für ein Individuum A im Verhältnis
zum Status quo (symbolisiert durch sq) folgendermaßen auf einer Achse abbilden:
Kardinale Nutzenskala des Individuums A
minus-10--9--8--7--6--5--4--3--2--1--0--1--2--3--4--5--6--7--8--9--10
> plus
{-168-} Vom Messniveau her gesehen ist eine solche Nutzenskala eine
Intervall-Skala. [[39] Zur Intervall-Skala vgl. auch GÄFGEN 1968, S.156f.] Auf ihr sind die Abstände bzw.
die
Intervalle zwischen verschiedenen Punkten messbar und damit vergleichbar. "Auf
dieser Skala sind die Abstände zwischen den benachbarten (aufeinanderfolgenden)
Skalenwerten konstant." [[40] CLAUS/EBNER 1970, S. 23.]
Im obigen Beispiel kann man z. B. angeben, ob der
Abstand zwischen den Alternativen sq und x größer oder kleiner ist als der
Abstand zwischen w und y. Man kann sogar angeben, in welchem Verhältnis zwei
Intervalle stehen. Hier wäre das Intervall zwischen w und y doppelt so groß wie
das Intervall zwischen sq und x.
Die hinreichenden Bedingungen für die Existenz einer
Intervall-Skala kann man folgendermaßen formulieren: [[41] S. GÄFGEN 1968, S. 157 f.]
Wenn der Abstand
zwischen zwei beliebigen Punkten a1 und a2 auf der Skala genauso groß ist wie
der Abstand zwischen zwei andern Punkten b1 und b2, und wenn außerdem der
Abstand zwischen den Punkten a2 und a3 genauso groß ist wie der Abstand zwischen
den Punkten b2 und b3, so muss auch der Abstand zwischen den Punkten a1 und a3
genauso groß sein wie der Abstand zwischen den Punkten b1 und b3.
Dies kann
graphisch folgendermaßen veranschaulicht werden: {-169-}
<-|---------------------|-------------------|->
b1
b2
b3
<-|---------------------|-------------------|->
a1 a3
<-|---------------------|-------------------|->
b1
b3
<-|---------------------|-------------------|->
Abb.: 7.4
Eine solche Intervallskala kann übrigens ohne
Informationsverlust in eine andere Intervall-Skala umgewandet werden, indem man
jeden Messwert einheitlich mit einer beliebigen Zahl multipliziert (oder
dividiert) und dann einheitlich eine beliebige Zahl zu jedem Wert hinzuaddiert
(bzw. subtrahiert). [[42] Mathematisch ausgedrückt ist bei einer
Intervall-Skala jede "lineare Transformation" zulässig. Dies bedeutet, dass der
Nullpunkt einer solchen Skala und die Einheit einer solchen Skala beliebig
festgesetzt werden können.] So können z. B. die Temperatur-Skalen von CELSIUS
und FAHRENHEIT ohne weiteres ineinander umgewandelt werden, da es sich bei ihnen
um Intervall-Skalen handelt. Man erhält den FAHRENHEIT-Wert zu dem
entsprechenden CELSIUS-Wert, indem man den letzteren mit 9 multipliziert und
anschließend 32 Einheiten hinzuzählt. {-170-}
Wenn sich die individuellen Nutzen der zur Entscheidung
stehenden Alternativen auf einer solchen Intervall-Skala messen lassen und wenn
außerdem die Werte für die verschiedenen Individuen vergleichbar sind, so kann
der Gesamtnutzen der verschiedenen Alternativen durch eine Addition der individuellen Nutzen ermittelt werden. Das Problem
ist nun, wie sich eine solche Nutzen-Skala mit kardinal messbaren
Nutzendifferenzen konstruieren lässt, wobei die Nutzeneinheiten für verschiedene
Individuen miteinander vergleichbar sein sollen.
2. Die Wahl des Nullpunktes der Nutzen-Skala
Wie oben ausgeführt wurde, ist der Nutzen einer Alternative
für ein Individuum gleichbedeutend mit den Veränderungen des Nutzenniveaus, die
durch diese Alternative im Verhältnis zu einem Ausgangspunkt hervorgerufen
werden. Auf der Nutzenskala werden also eigentlich Nutzenniveaus abgetragen.
Wenn man nach derjenigen Alternative mit dem größten individuellen Nutzen sucht,
so ist das gleichbedeutend mit der Suche nach derjenigen Alternative, bei der
das höchste Nutzenniveau für das betreffende Individuum erreicht wird. Um diese
Alternative zu bestimmen, muss jedoch nicht für alle Alternativen das absolute Nutzenniveau bestimmt werden. Es genügt, wenn man die
Nutzenniveaudifferenzen aller Alternativen zu einem gemeinsamen Bezugspunkt
bestimmt, indem man einen beliebigen Punkt - z. B. den Status quo - als
Nullpunkt wählt und die Nutzenniveau-Differenzen aller Alternativen zu diesem
Nullpunkt bestimmt. {-171-}
Wenn man nun diejenige Alternative sucht, die den größten
Gesamtnutzen besitzt, so müssen die individuellen Nutzen jeder Alternative
zusammengezählt werden.
Genau genommen wäre es nun sinnvoll, ein bestimmtes
Nutzenniveau für alle Individuen als gemeinsamen Nullpunkt zu setzen, z. B. Das
Nutzenniveau des Individuums A im Status quo, um dann für jedes Individuum und
jede Alternative zu messen, wie groß die Nutzendifferenz zu diesem Nutzenniveau
ist. Man kann jedoch auch ohne Einfluss auf das gesuchte Ergebnis für jedes
Individuum den Nullpunkt auf einem unterschiedlichen Nutzenniveau festsetzen, z.
B. als Nullpunkt für jedes Individuum dasjenige Nutzenniveau festzusetzen, das von ihm im Status quo erreicht wird.
Wenn man den Nullpunkt der Nutzenmessung bei einem
Individuum verändert, so hat das keinen Einfluss auf die Nutzendifferenzen
zwischen den Alternativen, da diese unverändert bleiben. Wenn man z. B. bei
einem bestimmten Nullpunkt für ein Individuum die kardinalen Nutzenwerte 106,
109, 132 und 177 erhält, so ändert sich an den Nutzendifferenzen nichts, wenn
man den Nullpunkt der Nutzenmessung um 100 Nutzeneinheiten heraufsetzt. Man
erhält dann die Nutzenwerte 6, 9, 32 und 77. Der Vorteil bei einer solchen
Verschiebung des Nullpunktes ist die dadurch erzielte Vereinfachung der
Rechnung. Im folgenden wird deshalb jeweils das Nutzenniveau, das ein Individuum
im Status quo erreicht, als Nullpunkt für die Messung des individuellen Nutzens
genommen. Diejenige Alternative, die die größte Summe der individuellen Nutzen
erreicht, ist dann die Alternative mit dem größten Gesamtnutzen.{-172-}
Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist bei einer
Intervall-Skala die Wahl des Nullpunktes und die Wahl der Maßeinheit beliebig,
denn jede Intervall-Skala kann durch die Multiplikation der Werte mit einer
Konstanten und durch die Addition mit einer weiteren Konstanten in eine andere
Intervall-Skala mit anderem Nullpunkt und anderer Maßeinheit linear
transformiert werden. Man kann z. B. die Differenz zwischen zwei beliebigen
Nutzenniveaus eines Individuums als Maßeinheit des Nutzens heranziehen. In dem
obigen Beispiel von Abb. 7.2 wurde als Nutzeneinheit die Differenz genommen
zwischen dem Nutzenniveau, das Individuum A im Status quo erreicht, und dem
Nutzenniveau, das A bei der Alternative x erreicht. Da das individuelle
Nutzenniveau im Status quo verabredungsgemäß gleich Null gesetzt wird, muss die
Alternative x dann einen Nutzen von 1 Nutzeneinheit besitzen.
Der kardinale Nutzen einer beliebigen Alternative x für ein beliebiges Individuum
A wird
jetzt bestimmt, indem man fragt: Das Wievielfache dieser Nutzeneinheit
ist gleich der Differenz ist zwischen dem Nutzenniveau von A bei der Alternative
x und dem Nutzenniveau von A im
Status quo? {-173-}
Wenn der Gesamtnutzen einer Alternative als die Summe der
individuellen Nutzen dieser Alternative konstruiert werden soll, so ergeben sich
daraus für die Nutzenmessung bestimmte Voraussetzungen. Bei einer Addition der
individuellen Nutzen werden sämtliche positiven und negativen Nutzeneinheiten
für eine Alternative zusammengezählt, wobei es keine Rolle spielt, von welchem
Individuum wie viele Nutzeneinheiten stammen. Wenn z. B. eine Alternative für ein
Individuum einen Wert von + 5 Nutzeneinheiten hat, so fällt dies bei einer
Addition genauso ins Gewicht, als wenn diese Alternative für 5 andere Individuen
den Wert von +1 Nutzeneinheit besitzt. Allgemeiner ausgedrückt ergibt sich aus
der additiven Konstruktion des Gesamtnutzens folgende Vorschrift für die
Nutzenmessung: "Wenn der Nutzen einer Alternative für 1 Individuum n
Nutzeneinheiten beträgt, so muss dieser Nutzen genauso stark ins Gewicht fallen,
als ob n Individuen bei einer Alternative einen Nutzen von 1 Nutzeneinheit
haben."
Entsprechend dieser additiven Zusammenfassung der
individuellen Nutzen zu einem Gesamtnutzen sind nun den einzelnen Alternativen
individuelle Nutzwerte zuzuordnen. Wenn man also bestimmen will, wie groß der
Nutzwert einer bestimmten Alternative x für ein bestimmtes Individuum B ist, so
muss man sich die Frage vorlegen: "Bei wie vielen Individuen muss eine
Veränderung der Nutzenniveaus um eine Nutzeneinheit erfolgen, um gleichgewichtig
zu sein mit der Veränderung des Nutzenniveaus, die beim {-174-} Individuum B durch die Alternative x erfolgt?" Entsprechend
dieser Fragestellung müssen allen Alternativen, die zur Entscheidung stehen,
individuelle Nutzwerte zugeordnet werden. [[43] Damit ist auch ARROWS Einwand gegen die Konstruktion des
Gesamtnutzens als Summe der individuellen Nutzen entkräftet. ARROW hatte
eingewandt, dass man - statt einer Summierung -ja ebenso gut eine Quadrierung oder
Multiplikation der individuellen Nutzen fordern könne, um den Gesamtnutzen zu
erhalten. Die additive Konstruktion des Gesamtnutzens geht demgegenüber hier
bereits in die Art der Nutzenmessung ein. Vgl. ARROW 1963, S. 9.]
Mit dieser Formulierung ist vorerst nur festgelegt, welche
Frage bei der Messung der individuellen Nutzen der Alternativen gestellt werden
muss. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie diese Frage beantwortet werden
kann. Dies setzt ja voraus, dass man den Nutzen verschiedener Individuen
gegeneinander "abwägen" kann. Wie ist ein solcher intersubjektiver
Nutzenvergleich möglich? Wie ist ein argumentativer Konsens möglich über
Behauptungen wie: "Der Nutzen der Alternative x für das Individuum B beträgt 3
Nutzeneinheiten, d. h. er wiegt genauso schwer, als ob 3 Individuen einen Nutzen
von 1 Nutzeneinheit haben?" Wie kann man sich argumentativ darüber einigen,
dass der Nutzen der Alternative x für B dreimal so groß ist wie für A? {-175-}
1. Interpersonaler Nutzenvergleich durch "Sich-hineinversetzen
in die Lage des andern"
Gesucht wird nach Kriterien für die Gültigkeit von
Behauptungen wie: "Der Nutzen der Alternative x für Individuum A ist genauso
groß wie der Nutzen der Alternative y für das Individuum B" oder "Der Nutzen der
Alternative x für das Individuum A ist dreimal so groß wie der Nutzen der
Alternative y für das Individuum C". Wie ist ein Konsens über die relative
Gewichtigkeit der Interessen verschiedener Individuen möglich?
Vorweg sei festgestellt, dass sich die folgenden
Ausführungen zum interpersonalen Nutzenvergleich auf die prinzipielle Lösbarkeit
dieser Problematik unter dem Gesichtspunkt des Solidaritätsprinzips beziehen. Sie
können noch kein praktikables Verfahren der Nutzenmessung darstellen. Sie geben
jedoch einen Maßstab ab, an dem später verschiedene konkrete Verfahren der
Interessenermittlung und -aggregation kritisch beurteilt werden können.
Dabei ist festzuhalten, dass gemäß dem Solidaritätsprinzip
der individuelle Nutzen einer Alternative für ein bestimmtes Individuum nicht
nur durch dieses Individuum selber, sondern im Prinzip durch alle Individuen bestimmbar
sein muss. Denn wenn jeder die Interessen des andern wie
seine eigenen berücksichtigen soll, so muss er sie auch kennen können. Über den
individuellen Nutzen einer Alternative für ein Individuum müssen {-176-} also prinzipiell alle Individuen befinden können und nicht
nur das betroffene Individuum selber.
Es handelt sich zwar um einen individuellen Nutzen in dem
Sinne, dass es der Nutzen für ein bestimmtes Individuum ist; dieser Nutzen muss
aber nicht in dem Sinne "individuell" sein, dass er nur rein subjektiv bestimmt
werden kann. Es bedarf also zur Anwendung des Solidaritätsprinzips eines
Verfahrens, mit dem verschiedene Individuen in Bezug auf den Nutzen der zur
Entscheidung stehenden Alternativen für die einzelnen Individuen zu gleichen
Ergebnissen kommen können. Die Nutzenwerte müssen intersubjektiv
nachvollziehbar sein, um als Daten in die Bestimmung des Gesamtnutzens eingehen
zu können, ähnlich wie die individuellen Wahrnehmungen in den
Erfahrungswissenschaften.
Wie oben ausgeführt wurde, bedeutet der individuelle Nutzen
einer Alternative die Steigerung oder Senkung des Nutzenniveaus des betreffenden
Individuums, die durch die Realisierung der Alternative gegenüber dem Status quo
bewirkt wird. Damit erhebt sich die grundsätzliche Frage, wie man überhaupt das
Nutzenniveau eines andern Individuums kennen kann. Die Antwort, die hier erstmal
ganz allgemein gegeben wird und die im Folgenden ausgeführt werden soll, lautet:
Ein Individuum kann das Nutzenniveau eines andern Individuums kennenlernen, indem es sich in die Lage dieses Individuums hineinversetzt. [[44]
Zum Folgenden s. HARSANYI 1955, S. 278f.] {-177-}
Die "Lage" eines Individuums, durch die sein Nutzenniveau
bestimmt wird, ergibt sich zum einen aus den äußeren Lebensbedingungen des Individuums. Diese äußeren Lebensbedingungen lassen sich durch
eine empirische Beschreibung erfassen wie andere Tatbestände auch. Man kann z.
B. mit Methoden der empirischen Wissenschaft bestimmen, wie viel Geld jemand zur
Verfügung hat, welche Lebensmittel und sonstigen Konsumgüter er gebraucht oder
verbraucht, wie lange jemand arbeitet und wie seine Arbeit beschaffen ist,
wie viel Freizeit er hat und wie er sie verbringt, wie groß seine Wohnung ist,
welche Kontakte er zu andern Menschen hat usw. usw. Die äußeren Tatbestände, von
denen das Wohlergehen eines Menschen abhängt, sind also im Prinzip durch
empirische Forschung erfassbar und werfen keine größeren Probleme auf als andere
empirische Fragestellungen. [[45] Solche für das Wohlergehen bzw. die Lebensqualität
der Individuen relevanten Tatbestände können durch entsprechend konstruierte
soziale Indikatorensysteme auch im gesamtgesellschaftlichen Maßstab erfasst
werden und damit die Informationsbasis für Schätzungen des Nutzenniveaus
verschiedener Bevölkerungsgruppen verbessern. S. dazu z. B. WERNER 1975.]
Das Nutzenniveau eines Individuums wird jedoch durch die
äußeren Lebensumstände keineswegs vollständig bestimmt. Auch die persönlichen Eigenschaften spielen eine Rolle wie z. B. körperliche
Konstitution, Gesundheit, Fähigkeiten oder Belastbarkeiten. Zum Einbezug dieser
persönlichen Eigenschaften schreibt ARROW: "In dieser Form (des intersubjektiven
Nutzenvergleichs aufgrund 'erweiterten Mitgefühls', E. W.) werden die
Eigenschaften, die ein Individuum ausmachen, in den Vergleich einbezogen. {-178-}
In der Tat werden diese Eigenschaften gleichgesetzt mit
den Dingen, die man gewöhnlich als konstitutiv für jemandes Reichtum ansieht.
Der Besitz von Werkzeugen wird gewöhnlich als Teil des sozialen Status
angesehen, warum nicht der Besitz der Fertigkeit, diese Werkzeuge zu benutzen
und die Intelligenz, die hinter diesen Fertigkeiten steht? Individuen, die
wechselseitig ihr Wohlergehen einschätzen, berücksichtigen nicht nur materielle
Besitztümer, sondern begehren auch 'des einen Weitblick und des andern
Kunstfertigkeit' ". [[46] S. ARROW 1963, S. 115.]
Wenn jemand z. B. körperlich beeinträchtigt ist durch
Blindheit oder Verkrüppelung, so sind auch dies Lebensbedingungen, die sein
Nutzenniveau beeinträchtigen, und zwar oft stärker als eine schlechte
Ausstattung mit äußeren Gütern es tut. Man spricht hier auch viel eher von einem "harten Los" oder einem "schweren Schicksal".
Aber auch die äußeren Lebensumstände und die persönlichen
Eigenschaften zusammen ermöglichen noch nicht den Schluss auf das Nutzenniveau
eines Individuums. Hinzu kommen muss noch die eigentliche Bedürfnisstruktur des Individuums. Das Nutzenniveau eines andern Individuums ist zu
bestimmen "unter Berücksichtigung nicht nur seiner objektiven sozialen (und
ökonomischen) Lebensbedingungen, sondern auch seiner subjektiven Einstellungen
und Vorlieben. In anderen Worten soll man {-179-} das Nutzenniveau in der Lage eines andern Individuums nicht
entsprechend den eigenen Einstellungen und Vorlieben beurteilen sondern vielmehr
entsprechend den Einstellungen und Vorlieben desjenigen Individuums, das
tatsächlich diese Position einnimmt." [[47] HARSANYI 1955, S. 277.]
Nur sofern man davon ausgehen
kann, dass die eigene Bedürfnisstruktur mit der des andern übereinstimmt,
braucht diese Unterscheidung nicht gemacht zu werden. Auf vielen Gebieten ist
dies sicherlich der Fall, denn verschiedene Individuen gleichen sich bei einer
Angleichung ihrer äußeren und persönlichen Lebensbedingungen auch in ihren
Interessen an, wie z. B. durch das Entstehen interessenmäßig relativ homogener
sozialer Gruppen aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Lage deutlich wird.
Andererseits ist dieser "Schluss von sich auf andere" nicht immer zulässig, wie
an einem alltäglichen Beispiel veranschaulicht werden kann: Man kann zwei
Individuen in den gleichen Lebensumständen das gleiche Essen vorsetzen, z. B.
Austern, aber dem einen schmeckt es vielleicht vorzüglich, während der andere es
überhaupt nicht mag. Auch auf andern Gebieten gibt es solche individuellen
Besonderheiten der Bedürfnisstruktur, gibt es die Ausbildung individuell
spezifischer Vorlieben und Abneigungen, die sich nur aus der individuellen
Lebensgeschichte oder gar genetischen Unterschieden erklären lassen. Bei diesem
dritten Bestandteil der "Lage" eines Individuums, bei den Vorlieben und
Abneigungen, die seine eigentliche Bedürfnisstruktur ausmachen, liegt die eigentliche {-180-} Schwierigkeit des interpersonalen Nutzenvergleichs,
denn über die äußeren und persönlichen Lebensbedingungen lässt sich durch rein
empirische Argumentation ein Konsens herstellen.
Um die Interessen anderer Menschen nachvollziehen zu
kennen, ist es erforderlich, "sich in deren Lage hineinzuversetzen". Dies kann
wenigstens in Bezug auf die äußeren und persönlichen Lebensbedingungen unter
Umständen sogar real erfolgen. So kann man sich wenigstens annäherungsweise
dadurch in die Lage eines andern Individuums mit einem geringeren Einkommen
versetzen, dass man einmal versucht, mit einem solchen Einkommen auszukommen.
Oft ist eine solche tatsächliche Angleichung der eigenen
Lage an die Lage des zu beurteilenden Individuums jedoch nicht möglich. So kann
sich z. B. ein Weißer nicht tatsächlich in die Lage eines Schwarzen versetzen
und ein Mann kann sich nicht tatsächlich in die Lage einer Frau versetzen. In
andern Fällen erscheint eine solche faktische Angleichung der eigenen Lage an
die Lage des betreffenden Individuums zwar prinzipiell möglich, aber wegen des
Ausmaßes der damit verbundenen Nachteile ausgeschlossen. So wird sich kein
Sehender das Augenlicht nehmen wollen, um sich in die Lage eines Blinden
hineinzuversetzen und dessen Nutzenniveau beurteilen zu können.
In solchen Fällen wird man sich nur vorstellungsmäßig in die Lage des andern hineinversetzen können, d. h. man stellt sich
vor, wie man {-181-} empfinden würde, wenn die eigene Lage so wie die des andern
beschaffen wäre. Nicht zufällig spielt dieses vorstellungsmäßige "Sich-hineinversetzen-in-die-Lage-des-andern"
bei alltäglichen Auseinandersetzungen um Verhaltensnormen eine wichtige Rolle.
Der Appell: "Versetz' dich doch einmal in meine Lage!" wird von einem Individuum
immer dann erhoben, wenn es sich in seinen Interessen falsch oder nicht genügend
berücksichtigt fühlt. Die Rücksichtnahme auf fremde Interessen setzt deren
Kenntnis und damit die Fähigkeit zur "Anteilnahme" oder "Identifikation" mit dem andern voraus.
Diese Fähigkeit zum Mit-Empfinden bzw. Nach-Empfinden
fremder Interessen ist übrigens nicht bei jedem Individuum bereits fertig
vorhanden, sondern bedarf der Förderung durch Erziehung. Ohne die
Entwicklung der Fähigkeit, andere Menschen in der Art und Stärke ihrer
Bedürfnisse und Wünsche "zu verstehen", bleibt das moralische Handeln und
Erkennen orientierungslos, denn man weiß nicht, was das eigene Handeln und seine
Folgen für die andern Individuen "bedeutet". HARE schreibt zur Notwendigkeit
dieser Vorstellungskraft für das Verständnis fremder Interessen: "Er (B, E. W.)
muss bereit sein, A's Neigungen und Interessen mit demselben Gewicht zu versehen
als wären es seine eigenen ... Psychologisch gesehen ist dies für B sehr viel
leichter, wenn er selber tatsächlich gegenüber jemand anderem in eine ähnliche
Situation gerät wie A. Aber dies ist nicht notwendig, vorausgesetzt dass er
genügend Phantasie besitzt, um sich zu vergegenwärtigen, was es bedeutet, A zu
sein. .. In normalen Fällen ist meist eine gewisse Vorstellungskraft {-182-} sowie die Bereitschaft, sie anzuwenden, ein
notwendiger Bestandteil in moralischen Argumentationen." [[48]HARE 1963, S. 94.]
Der Kinderspruch: "Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es
fühlt wie du den Schmerz!" gibt ein Beispiel für das Lehren dieser Fähigkeit,
sich vorstellungsmäßig in die Lage anderer hineinzuversetzen. Oder wenn ein Kind
dem andern schmerzhaft an den Haaren reißt, wird man ihm vielleicht
entgegenhalten: "Soll ich dir auch einmal so an den Haaren reißen, damit du
spürst, wie weh das tut?" Man hilft damit gewissermaßen der Vorstellungskraft
des Kindes nach und zwingt es, sich die Lage des anderen zu vergegenwärtigen.
[[49] Vielleicht steckt auch in dem alten Prinzip "Auge um
Auge", Zahn um Zahn" des Hammurabi diese erzieherische Absicht, den Täter
nachempfinden zu lassen, was er dem andern angetan hat.]
Die Vergegenwärtigung der Interessenlage anderer Individuen
wird oft dadurch erleichtert, dass man sich früher einmal in einer ähnlichen
Lage befunden hat, so dass man mit Hilfe der Erinnerung auf vergangene eigene "Erfahrungen" zurückgreifen kann. [[50] Hier wird der Begriff "Erfahrung" im weiteren Sinne
gebraucht, also nicht eingeschränkt auf die Wahrnehmung der äußeren Welt mit
Hilfe der Sinnesorgane wie beim Erfahrungsbegriff der empirischen
Wissenschaften, "Erfahrung" in diesem weiteren Sinne schließt also auch das
Bewerten und das E r l e b e n der Dinge als angenehm, schön etc. ein, also
gewissermaßen die Beziehung der Dinge zum empfindenden und wollenden Subjekt.
Der Unterschied kann an einem einfachen Beispiel veranschaulicht werden: Man mag
chemisch-physikalisch alles über Alkohol wissen, seine Zusammensetzung,
Herstellung, Wirkung auf andere Stoffe, Verhalten unter verschiedensten
Bedingungen usw. Trotzdem ist in diesen Erkenntnissen der empirischen
Wissenschaft noch nicht die "Erfahrung" enthalten, die der Genuss von Alkohol
vermittelt. {-183-}
Allerdings können diese Erfahrungen in der Erinnerung
verblassen und undeutlich werden, so dass es erst einer Anstrengung bedarf, um
sie wieder nachvollziehen zu können. Es heißt dann vielleicht gegenüber
jemandem, der die Interessen anderer Individuen nicht genügend berücksichtigt: "Du hast wohl vergessen, wie dir damals zumute war, als du dich in einer
ähnlichen Lage befunden hast!"
Wo die eigenen gegenwärtigen oder vergangenen Erfahrungen
nicht identisch sind mit denen des zu beurteilenden Individuums, lässt sich oft
trotzdem über vergleichbare Erfahrungen eine Vorstellung von der Lage des andern
gewinnen. So kann man die Interessenlage eines Schwarzen, der wegen seiner
Hautfarbe diskriminiert wird, annähernd nachvollziehen, wenn man selber einmal -
wenn auch aus anderen Gründen - unter Diskriminierung zu leiden hatte, etwa
wegen eines Dialekts, wegen der sozialen Herkunft der Eltern oder wegen
Besonderheiten des eigenen Aussehens.
In vielen Fällen werden sich solche analogen Erfahrungen finden lassen, die
einem eine annähernde Vorstellung von der Interessenlage des andern vermitteln
können. Wenn ein anderes Individuum z. B. eine bestimmte Tätigkeit nur sehr
ungern ausführt, die einem selber jedoch angenehm ist, so kann man dessen
Interessenlage trotzdem dadurch annähernd nachvollziehen, dass man sich
vorstellt, man müsse eine bestimmte Tätigkeit ausführen, die einem selber
ähnlich unangenehm ist. {-184-}
Selbst wenn man selber sich nur schwer in die Lage eines
andern Individuums hineinversetzen kann, weil diese den eigenen
Lebenserfahrungen sehr fern ist, so ist man trotzdem nicht nur auf die
Äußerungen des zu beurteilenden Individuums angewiesen. Gewöhnlich existieren
immer noch weitere Individuen, deren Interessenlage so ähnlich ist - oder
zumindest so ähnlich war - wie die des zu beurteilenden Individuums. Diese
Individuen können die zu bestimmende. Interessenlage ebenfalls darstellen und
sofern sich hier relevante Unterschiede ergeben, muss das betreffende Individuum
begründen können, warum etwa seine Interessen gewichtiger sind als die von
anderen Individuen in vergleichbarer Lage. Aus dieser Hinzuziehung von
Individuen mit ähnlichen Erfahrungen ergibt sich eine zusätzliche
Informationsbasis und Kontrolle für die Einschätzung des Nutzenniveaus von
Individuen.
Wenn die Bedürfnisstruktur der Individuen auf bestimmten
Gebieten insofern gleichartig ist, dass alle Individuen unter gleichen
Lebensbedingungen auch gleiche Interessen entwickeln, so vereinfacht sich das
Problem der Nutzenmessung erheblich. Die Individuen müssen dann nur Einigkeit
über die Beschaffenheit der Lebensbedingungen des jeweiligen Individuums
erzielen und sich diese mit der Vorstellung, dass sie sich selber in diesen
Bedingungen befinden, voll vergegenwärtigen, um zu einer einheitlichen
Beurteilung des Nutzenniveaus des betreffenden Individuums zu gelangen. {-185-}
Die Tatsache, dass man sich gewöhnlich nur vorstellungsmäßig in die Lage eines andern Individuums hineinversetzen kann und auf der Basis solcher Vorstellungen entscheiden muss,
ist übrigens kein spezifisches Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs.
Auch ein Individuum, das in einer Entscheidungssituation den individuellen
Nutzen verschiedener Alternativen bestimmen muss, kann dies immer nur
vorstellungsmäßig tun. Denn die Alternativen stellen ja - abgesehen vom Status
quo - immer nur Möglichkeiten dar und sind nicht bereits
Realität. Auch die Konsequenzen von Alternativen, die in der Zukunft liegen,
können vom Individuum nur in der Vorstellung bewertet werden, da sie ja noch
nicht eingetreten sind.
Die Frage: "Wie würde ich es finden, wenn ich eine Woche
mehr Urlaub hätte?" ist insofern gar nicht mehr so sehr verschieden von der beim
interpersonalen Nutzenvergleich zu beantwortenden Frage: "Wie würde Individuum A
es finden, wenn es eine Woche mehr Urlaub hätte?" In beiden Fällen erfordert die
Beantwortung der Frage das vorstellungsmäßige Sich-Hinein-Versetzen in bloß
angenommene Situationen und deren Bewertung. Allerdings muss man sich im
letzteren Fall nicht nur in eine andere Situation hineinversetzen als die
gegenwärtige, sondern zusätzlich in eine andere Person.
Aber wenn man zukünftige
Entwicklungen und Konsequenzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen von
den eigenen Interessen her bewerten soll, so stellt sich auch hier ein ähnliches
Problem wie beim interpersonalen Nutzenvergleich, weil man in gewisser {-186-} Weise im Laufe der Zeit selber "ein anderer Mensch" werden
kann und man deshalb nicht ohne weiteres die gegenwärtige Bedürfnisstruktur zur
Bewertung von Zuständen heranziehen kann, die in der Zukunft liegen. [[51] Zum Problem des intertemporalen Nutzenvergleichs
ein und desselben Individuums vgl. HARSANYI 1953/54 sowie unten § 59.]
Wenn man nicht gegenwärtig real erfahrene Zustände, sondern
nur vorgestellte Zustände bewertet, so kann es allerdings vorkommen, dass man
rein informationsmäßig vielleicht die Beschaffenheit dieser Situation kennt,
dass man sich diese Situation aber nicht hinreichend realistisch und
eindringlich vorstellen kann und folglich zu problematischen Bewertungen kommt.
Man "weiß" vielleicht , dass ein Atomkrieg Hunderte Millionen von Toten kosten
kann, aber diese Zahl "übersteigt unsere Vorstellungskraft", wie man richtig
sagt. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von "unvorstellbarem Grauen", um
die Problematik der Erfassung solcher Zustände in der Vorstellung deutlich zu
machen.
BRANDT formuliert die Lebendigkeit der Vorstellung als eine Bedingung jeder qualifizierten individuellen
Entscheidung, wobei dies Kriterium ohne weiteres auf das Problem des
intersubjektiven Nutzenvergleichs übertragbar ist: "Manchmal wissen wir
gewissermaßen alle für eine Entscheidung relevanten Vor- und Nachteile, aber wir
haben sie nicht alle vor unserm Bewusstsein. Manchmal fühlen {-187-} wir uns zu einer bestimmten Alternative hingezogen,
wenn wir an einen bestimmten Aspekt davon denken; wenn wir an einen anderen
Aspekt denken, fühlen wir uns abgestoßen. Damit stellt sich die Frage: Was
würden wir vorziehen, wenn wir alle relevanten Aspekte mit voller Lebendigkeit
vor unser Bewusstsein treten lassen würden - so lebendig, als ob wir tatsächlich
alle wahrnehmen könnten?" [[52] BRANDT 1966, S. 264.]
2. Interpersonaler Nutzenvergleich und Introspektion
Wenn man die Annahme identischer Bedürfnisstrukturen nicht
rechtfertigen kann, so reichen die Kenntnisse der Lebensbedingungen des andern
Individuums nicht aus, um durch einen "Schluss von sich auf andere" deren
Interessenlage zu bestimmen. Man kann dann versuchen, aus den Verhaltensweisen
und Äußerungen des betreffenden Individuums seine Interessenlage zu erfassen.
Vor allem die sprachliche Beschreibung dieser Interessen durch das betreffende
Individuum bietet hier eine Möglichkeit.
Ähnlich wie es hochentwickelte und
differenzierte Sprachmittel gibt, um sich mit anderen Individuen über die
subjektiven Wahrnehmungen der äußeren Welt zu verständigen, so gibt es auch
sprachliche Mittel, um sich über "innere" Erfahrungen, über Gefühle,
Empfindungen, Willensregungen, Wünsche, Abneigungen, Einstellungen, Motive etc.
zu verständigen. Die Alltagskommunikation ist voll von Äußerungen wie: "Das
gefällt mir", "Das finde ich abstoßend", "Das macht mir Spaß", "Das schmeckt mir
ausgezeichnet", "Das wünsche ich sehr dringend", "Davor habe ich große Angst", "Das lehne ich entschieden ab", "Das ist mir egal" usw. {-188-}
Vor allem in der belletristischen Literatur ist ein
hoch differenziertes sprachliches Instrumentarium entwickelt worden, um z. B.
über innere Monologe solche inneren Erfahrungen und Erlebnisse mitzuteilen und
damit andern Individuen den Nachvollzug einer fremden Lebenslage auch in ihren
inneren, nicht direkt beobachtbaren Dimensionen zu ermöglichen. Es erscheint
also im Prinzip als möglich, an Freude und Leiden anderer Individuen
teilzunehmen und damit auch ihre Interessenlage kennenzulernen und sich
wechselseitig über die eigene Interessenlage zu "verständigen". [[53] In diesem Zusammenhang ist die Doppelbedeutung des
Ausdrucks "Verständigung" in der deutschen Sprache interessant, der ja sowohl "Einigung über den Sinn von Äußerungen" bedeutet als auch "Einigung über
Normen." ]
Diese Verständigung ist möglich, obwohl sich die
Interessenlage eines andern Individuums in inneren Erfahrungen darstellt,
die im Prinzip nur dem betreffenden Individuum zugänglich sind. Einen Schmerz
kann niemand sonst fühlen als das Individuum, das ihn hat. Aber daraus kann
nicht der Schluss gezogen werden, dass solche nur introspektiv zugänglichen Phänomene nicht berücksichtigt zu werden brauchen. Denn dadurch, dass eine
Empfindung z. B. rein subjektiv ist, wird sie ja nicht weniger wirklich. Zwar
werfen solche introspektiv gewonnenen Tatbestände bestimmte Probleme auf, z. B.
durch die Möglichkeit unaufrichtiger Äußerungen, aber man kann deshalb nicht
einen großen Bereich menschlicher Welterfahrung einfach ignorieren. Die
Subjektivität von Erfahrungen stört solange nicht den Aufbau eines
allgemeingültigen Wissens, wie diese Erfahrungen intersubjektiv nachvollziehbar
sind. {-189-}
Wenn man das Verbot introspektiv gewonnener Erfahrungen
konsequent anwendet, so müssten auch solche Äußerungen wie "Ich sehe eine rote
Flamme" oder "Ich sehe, dass der Zeiger auf 10 Volt steht" eliminiert werden,
wodurch auch die intersubjektive Basis der empirischen Wissenschaften
erschüttert wäre. Denn genausowenig, wie ich empirisch wissen kann, ob jemand
anders tatsächlich Schmerz empfindet, kann ich wissen, ob jemand anders
tatsächlich rot sieht.
Die Tatsache, dass es überhaupt Worte wie "rot" oder "schmerzhaft" gibt, und dass sie von verschiedenen Individuen einheitlich
gebraucht und verstanden werden, lässt darauf schließen, dass es Entsprechungen
zwischen den Wahrnehmungen der äußeren Welt durch die verschiedenen Individuen
gibt, ebenso wie es auch eine Entsprechung zwischen den inneren Erfahrungen, den
Gefühlen, Bedürfnissen und Willensregungen gibt. Diese Entsprechung ist die Basis für einen intersubjektiven Konsens auch über nur von den inneren Sensorien jedes Menschen wahrnehmbare Vorgänge.
Wenn ein Kind z. B. lernt, das Gefühl, das auftritt, wenn
es mit einem sehr heißen Gegenstand in Berührung kommt, als "Schmerz" zu
bezeichnen, so kann es schließlich das Gefühl auch dann benennen, wenn es in
einem andern Zusammenhang ebenfalls auftritt, z. B. wenn es sich den Finger
einklemmt. Im Verlauf der sprachlichen Entwicklung kann dann auch die Art {-190-} und die Intensität eines Schmerzes näher beschrieben
werden, worauf z. B. Ärzte bei ihren Diagnosen oft angewiesen sind. So spricht
man von leichten, kaum wahrnehmbaren Schmerzen oder aber von unerträglichen,
heftigen Schmerzen; man spricht von stechenden oder dumpfen Schmerzen und kann
die Schmerzempfindung auch nach Zeitpunkt und Körperbereich näher bestimmen.
Selbst wo diese sprachliche Verständigungsmöglichkeit nur
eingeschränkt oder gar nicht vorhanden ist, wie z. B. bei Tieren oder Kindern,
lassen sich aus dem differenzierten Repertoire nicht-sprachlicher Äußerungen wie
Abwendung oder Zuwendung, Weinen oder Lächeln, aus der Schnelligkeit und
Entschiedenheit von Wahlhandlungen usw. Wünsche und Bedürfnisse nach Art und
vergleichsweiser Intensität abschätzen.
3. Möglichkeiten einer weiteren Konkretisierung der
Nutzenmessung
Mit den obigen Ausführungen zur Durchführung des
intersubjektiven Nutzenvergleichs ist natürlich noch keine "operationale"
Definition des Nutzens und kein präzises Messverfahren entwickelt worden. Es
ergibt sich aus diesen Überlegungen jedoch eine genauere begriffliche Bestimmung
des Solidaritätsprinzips und damit ein genaueres Kriterium, um
verschiedene konkrete Normsetzungsverfahren auf ihre argumentative
Konsensfähigkeit zu prüfen. Vor allem ergeben sich daraus Kriterien, um
konkrete Verfahren der Nutzenmessung über bestimmte empirisch messbare
Indikatoren auf ihre Akzeptierbarkeit zu überprüfen. [[54] s. dazu u. Kap.
8.] {-191-}
Dabei erscheint der dargestellte Ansatz jedoch noch
weiterer Präzisierung und Vereinfachung fähig, was hier noch kurz skizziert
werden soll. So wäre es z. B. einmal interessant, anhand von Experimenten zu
überprüfen, inwieweit sich etwa in kleinen Gruppen anhand der hier entwickelten
Regeln des intersubjektiven Nutzenvergleichs ein argumentativer Konsens bei
kollektiven Entscheidungen herbeiführen lässt.
Mögliche Differenzen bei der
Bestimmung derjenigen Alternative mit dem größten Gesamtnutzen ließen sich
dadurch näher einkreisen, dass man die dafür verantwortlichen Differenzen in der
Schätzung bestimmter individueller Nutzen heraussucht und dann gezielt darüber
diskutiert, in welche äußere und innere Lage das betreffende Individuum bei
Realisierung bestimmter Alternativen versetzt wird und wie groß die
Nutzendifferenz zum Status quo eingeschätzt wird, gemessen an der vereinbarten
Nutzeneinheit.
Bei weiterhin fehlender Übereinstimmung könnte man
versuchen, den Kern der Uneinigkeit dadurch noch näher zu lokalisieren, dass man
die Alternative in ihre verschiedenen Teilaspekte aufspaltet und sich dann auf
diejenigen Aspekte konzentriert, bei denen die größten Differenzen hinsichtlich
der Interessenlage des betreffenden Individuums bestehen. Hier könnten
diejenigen analytischen Kategorien herangezogen werden, die in der Theorie der
rationalen Entscheidung entwickelt worden sind, wenigstens insofern es um die
empirischen und entscheidungslogischen Aspekte des individuellen Interesses
geht. [[55] Vgl. zur Theorie der rationalen Entscheidung z. B.
die umfassende Darstellung von GÄFGEN 1968 sowie unten § 54.] {-192-}
Während die empirischen und logischen Aspekte
wahrscheinlich methodologisch unproblematisch sein werden, werden die
eigentlichen Bewertungen sicher Probleme aufwerfen. Denn entgegen dem Gebot,
fremde Interessen so zu berücksichtigen, als seien es die eigenen, können sich
doch bewusst oder unbewusst vom eigenen Interesse beeinflusste und verzerrte
Nutzenschätzungen einstellen. Allerdings ist einer völligen Willkür der
Nutzenschätzungen schon durch bestimmte Konsistenzforderungen eine Schranke gesetzt, die es einem Individuum verbieten, "mit zweierlei Maß
zu messen".
Wenn ein Individuum z. B. die eigenen Nachteile (bzw. die Nachteile
für die Individuen "seiner" Gruppe) bei einer ihm unerwünschten Alternative
übertreibt und zu hoch einschätzt, so kommt es in Schwierigkeiten, wenn es bei
einer anderen Entscheidung in Bezug auf andere Individuen in ähnlicher Lage
plötzlich "einen anderen Maßstab anlegt" und deren Nachteile relativ gering
einschätzt. Man kann die Nutzenschätzungen der Individuen also immer anhand
ihrer Nicht-Übereinstimmung mit Präzedenzfällen argumentativ kritisieren. [[56]
S. dazu das 'Gebot der Personunabhängigkeit' § 34.] Allgemeiner kann man feststellen, dass die Nutzenabwägungen
ja nicht bei jeder Entscheidung völliges Neuland darstellen, sondern dass auf
vergangene Ergebnisse zurückgegriffen werden kann, sofern Ähnlichkeiten und
Parallelen zumindest auf Teilgebieten bestehen.
Alle Individuen und damit auch
das Kollektiv als Ganzes sind {-193-} auf eine personunabhängige Konsistenz ihrer gegenwärtigen
Nutzenschätzungen mit früheren bzw. parallelen Nutzenschätzungen festgelegt, es
sei denn, die früheren Schätzungen werden als mit bestimmten Fehlern behaftet
ausdrücklich kritisiert und korrigiert. Insofern stellen alle vergangenen "Güterabwägungen" eine Orientierung und ein Kriterium für die aktuelle
Güterabwägung dar. Dadurch ergibt sich eine erhebliche Entlastung von
Erkenntnisarbeit, die vergleichbar ist mit der Entlastung, die auf empirischem
Gebiet durch den Rückgriff auf in der Vergangenheit gewonnenes faktisches Wissen
stattfindet.
Im Zusammenhang dieser Konsistenzforderung in Bezug auf
Nutzenschätzungen sind Versuche erwähnenswert, den relativen Wert verschiedener
Güter für ein bestimmtes Subjekt - sei es ein Individuum oder aber auch eine
Regierung - aus seinen faktischen Entscheidungen zu rekonstruieren und zu
fragen, ob sich alle Entscheidungen auf ein konsistentes Wertsystem zurückführen
lassen. Das Verfahren kann an einem Beispiel von ALBIN veranschaulicht werden,
bei dem es um die Wertrelation zwischen geretteten Menschenleben und dafür
ausgegebenen Geldbeträgen im öffentlichen Straßenbau geht.
"Eine
Schnellstraßen-Kommission beschließt, die Seitenstreifen auf der Schnellstraße
101 zu pflastern, aber nicht die auf der Schnellstrasse 102. Die Entscheidung
beruhte auf Untersuchungsergebnissen von Sicherheitsingenieuren, die besagen,
dass die Verbesserung der Schnellstraße 101 wahrscheinlich 4 tödliche Unfälle
im Verlauf der Planungsperiode verhindern wird, während eine solche Verbesserung {-194-} auf der Schnellstraße
102 wahrscheinlich 3 Leben retten wird. Beide Verbesserungen kosten 1 Millionen Dollar und haben keine
positiven oder negativen Nebenwirkungen. Können wir aus der Entscheidung der
Behörde schließen, dass ein menschliches Leben für diese einen impliziten Wert
von mindestens 250.000 Dollar, aber nicht so viel wie 333.333.33 Dollar hat?"
[[57] s. ALBIN 1967, S. 95f. Vgl. zur Berechnung solcher impliziten relativen Werte auch WEISBROD 1968 und McKEAN
1968.]
Es kann also der Versuch gemacht werden, aus in der Vergangenheit bzw. auf
andern Bereichen gefällten Entscheidungen zu rekonstruieren, welches nutzenmäßige Gewicht bestimmten Situationen für ein Individuum zukommt. Dann
kann man die Frage stellen, ob bei einer andern Entscheidung derselbe Maßstab
angelegt wurde.
Das Motiv zu eigeninteressierten Verzerrungen der
Nutzenschätzungen wird übrigens auch dann geschwächt, wenn es um generelle
Normen geht, die eine unbegrenzte Zahl von Einzelfällen regeln und bei denen die
Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich jedes Individuum manchmal in der Lage des
Gewinners und manchmal in der Lage des Verlierers befindet. Dies kann an einem
Beispiel verdeutlicht werden. Wenn die Einzelentscheidung zu treffen ist, ob ein
bestimmtes Grundstück zum Zwecke des Straßenbaus enteignet werden soll, so ist
das Eigeninteresse des Eigentümers relativ klar und kann u. U. in der Diskussion
voll durchschlagen und einen argumentativen Konsens blockieren. {-195-}
Wo es jedoch um die "generelle" Norm geht, dass Grundstücke
zum Zwecke des Straßenbaus unter bestimmten spezifizierten Bedingungen enteignet
werden können, ist das Eigeninteresse der Individuen in Bezug auf diese Norm
abgeschwächt, da sie nicht wissen, ob sie überhaupt einmal mit ihrem Grundstück
betroffen sein werden, und da sie andererseits als Verkehrsteilnehmer auf jeden
Fall gewisse Vorteile von dieser Norm erwarten können.
Allerdings wird durch generelle Normen gewöhnlich nur eine
teilweise und keine völlige Angleichung der individuellen Eigeninteressen
erreicht, da die sozialen und persönlichen Lebensbedingungen und damit auch die
Interessen der Individuen unterschiedlich sind. Wenn z. B. nur bestimmte
Individuen Grundstücke besitzen und andere Individuen keine besitzen, so kann
die letztere Gruppe durch eine Enteignungsmöglichkeit niemals verlieren, sondern
höchstens gewinnen, sofern man einmal von den Kosten einer möglichen
Entschädigung der Grundeigentümer absieht.
Eine weitere Erleichterung für die Kalkulation des
Gesamtnutzens ergibt sich daraus, dass es bei einer normativen Entscheidung ja
immer nur darum geht, diejenige Alternative mit dem größten Gesamtnutzen zu
bestimmen. Von dorther erübrigt sich für die große Mehrzahl der Alternativen
eine genauere Berechnung der individuellen Nutzen, weil bereits eine grobe Vorkalkulation anzeigt, dass diese Alternativen nicht als kollektiv beste in
Frage kommen. Von dorther können sich {-196-} die Diskussionen auf die wenigen aussichtsreichen
Alternativen und deren Auswirkungen auf die Interessenlage der Individuen
konzentrieren.
Bei der Bestimmung des Gesamtnutzens der Alternativen ist
also kein Messperfektionismus erforderlich. Wenn sich z. B. eine Alternative
schon aufgrund grober Vorkalkulation allen anderen Alternativen als weit
überlegen erweist, so kann man sich genauere Nutzenschätzungen ersparen. Denn
wenn jemand die anderen um Haupteslänge überragt, wird gleichfalls niemand mit
dem Zentimetermaß ankommen, um festzustellen, wer der Größte ist.
In diesem
Zusammenhang sind auch Überlegungen SENs von Bedeutung, dass auch eine nur teilweise Vergleichbarkeit der Nutzenmaßstäbe für eine
Entscheidung hinreichend sein kann. Auf das obige Beispiel übertragen bedeutet
dies, dass Individuen möglicherweise auch dann übereinstimmend das größte
Individuum ermitteln können, wenn ihre Längenmaße nicht völlig übereinstimmen
und relativ ungenau "geeicht" sind. [[58] Vgl. zum Konzept der "teilweisen Vergleichbarkeit
der Nutzen" SEN 1970, S. 99ff. sowie unten § 42.]
Weitere Vereinfachungen der Nutzenmessung erscheinen
dadurch denkbar, dass die notwendigen Erkenntnisprozesse - vor allem auf
empirischem Gebiet - arbeitsteilig organisiert werden, so dass z. B. nicht mehr
jedes Individuum selber die Auswirkungen der Alternativen auf die Lage der
Individuen untersuchen muss, sondern auf die von andern gewonnenen Erkenntnisse
zurückgreifen kann. [[59] Hier stellt sich allerdings das Problem der
Kontrolle solcher "Wissens-Spezialisten". S. dazu auch unten § 66.] {-197-}
Vor allem bei größeren Kollektiven mit sehr vielen
Individuen wäre die Nutzenbestimmung für jedes Individuum kaum durchführbar.
Hier erscheint es deshalb angebracht, Individuen in ähnlicher Lage und ähnlicher
Interessenstruktur zu Gruppen zusammenzufassen, so dass man jetzt nur noch den
Nutzen der Alternativen für ein repräsentatives Gruppenmitglied bestimmen muss
und diesen dann entsprechend der Größe der Gruppe gewichtet.{-198-}
Wenn z. B. bestimmte
empirisch messbare Indikatoren zur indirekten Messung des Nutzens vorgeschlagen
werden, so bietet die dargelegte Konzeption des solidarischen Nutzenvergleichs
einen Maßstab dafür, ob diese Indikatoren tatsächlich das messen, was wir
meinen, wenn wir von "Nutzen" im normativen Sinne sprechen. Anders ausgedrückt:
Anhand des theoretischen Konzepts der solidarischen Nutzenbestimmung können wir
entscheiden, inwieweit ein bestimmter empirischer Indikator eine brauchbare
Annäherung an einen normativ verwendbaren Nutzenbegriff darstellt.{-199-}
Im Verlauf der ethischen und wohlfahrtsökonomischen
Diskussion sind eine ganze Reihe von Vorschlägen zur intersubjektiv
vergleichbaren Messung des Nutzens mit Hilfe beobachtbarer Indikatoren gemacht worden.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Vorschläge diskutiert werden. [[2] Vgl.
zum Folgenden die Übersichten bei SEN 1970, S.92ff. und GÄFGEN 1968, S.416 - 421]
Diese Form kardinaler
Nutzenmessung wurde von GOODMAN und MARKOWITZ dann auf das Problem des
intersubjektiven Nutzenvergleichs angewandt. [[5] s. GOODMAN/MARKOWITZ 1952.] "In Bezug auf die interpersonale Vergleichbarkeit machen GOODMAN und
MARKOWITZ die normative Annahme, dass die ethische Bedeutsamkeit einer Bewegung
von einer Unterscheidungsschwelle {-200-}zur nächsten für jedes Individuum gleich ist
und dass sie unabhängig ist vom Niveau, von dem aus die Veränderung erfolgt.
Die
Berechnung wird unter dieser Annahme sehr einfach. Wenn die Alternative x mit
der Alternative y verglichen werden soll, so muss man nur berechnen, um wieviele
Unterscheidungsschwellen x gegenüber y überlegen (oder unterlegen) ist; und dann
sind die Abstände in Schwellen einfach mit dem entsprechenden Vorzeichen zu
addieren." [[6] SEN 1970, S.93.]
Die Probleme dieses Verfahrens werden u. a. von ARROW und
SEN benannt. [[7] S. ARROW 1963, S. 115ff.]Abgesehen von den Schwierigkeiten einer praktischen Umsetzung des
Verfahrens entstehen Probleme dadurch, dass bei einer Entscheidung mit einer
begrenzten Anzahl von Alternativen nicht alle Präferenzschwellen ermittelt
werden können. Werden nun weitere Alternativen in die Entscheidung einbezogen,
so können möglicherweise zusätzliche Präferenzschwellen für das Individuum
wahrnehmbar werden, wodurch sich die Nutzendifferenzen zwischen den
ursprünglichen Alternativen verändern würden.
SEN stellt auch aus ethischen Erwägungen die Voraussetzung
in Frage, dass die Veränderung von einer Unterscheidungs-Schwelle zur nächsten
bei allen Individuen die gleiche Gewichtung in Bezug auf den {-201-}
Gesamtnutzen haben soll. "Dies ist nicht nur eine willkürliche Annahme, sie ist
hochgradig problematisch, wenn man es mit Individuen zu tun hat, die sich in der
Empfindlichkeit ihrer Wahrnehmung zu unterscheiden scheinen. Jemand mag eine
kleine Zahl von Unterscheidungsschwellen haben, aber den Unterschied zwischen
einer Schwelle und der andern sehr stark empfinden; und ein anderer mag eine
große Zahl von Unterscheidungsschwellen haben, aber er mag den Unterschied
zwischen einer Schwelle und der nächsten als nicht der Rede wert erachten." [[8] SEN 1970, S. 94.]
Das entscheidende Argument gegen das vorgeschlagene
Verfahren besteht also darin, dass man nicht vom Differenzierungsvermögen eines
Individuums hinsichtlich seiner Interessen auf die Stärke bzw. die Gewichtigkeit
seiner Interessen schließen kann.
Dies Verfahren der
kardinalen Nutzenmessung kann man folgendermaßen veranschaulichen: Wenn für ein
Individuum der Nutzen verschiedener Alternativen x, y und z gemessen werden
soll, so kann man das Individuum zunächst eine Rangordnung nach dem Nutzen der
Alternativen bilden lassen.{-202-}
Angenommen es zieht dabei x gegenüber y und y gegenüber z
vor. Wenn man nun der subjektiv besten Alternative x den Nutzenwert 1 und der
schlechtesten Alternative z den Nutzenwert 0 zuteilt, so fehlt nur noch der
entsprechende Wert für die mittlere Alternative y, wobei dieser Wert zwischen 1
und 0 liegen muss, da y schlechter ist als x aber besser als z.
Den Nutzenwert
für y im Verhältnis zu den vorgegebenen Werten 1 für x und 0 für z kann man nun
dadurch erhalten, dass man das Individuum vor die Wahl stellt zwischen der
Alternative y auf der einen Seite und einer Lotterie aus den Alternativen
x und z als den zwei einzig möglichen Ergebnissen, die also nur aus einer Urne
mit x-Losen und
z-Losen besteht. Wenn man die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein x-Los gezogen
wird, mit p bezeichnet, so muss die Wahrscheinlichkeit für das Ziehen eines
z-loses 1 minus p betragen. [[10] In der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird die
Wahrscheinlichkeit von Ereignissen mit Werten zwischen 0 und 1 ausgedrückt,
wobei die Wahrscheinlichkeit eines sicheren Ereignisses den Wert p=1 erhält,
während ein unmögliches Ereignis den Wert p=0 erhält. Wenn nur zwei Ereignisse x
und z möglich sind, so beträgt die Summe der Wahrscheinlichkeiten 1, da mit
Sicherheit x oder z eintritt. Wenn also x die Wahrscheinlichkeit p hat, so muss
z die Wahrscheinlichkeit 1 minus p haben. Zu Grundbegriffen der
Wahrscheinlichkeitsrechnung vgl. z. B. CLAUSS/ EBNER 1969, S. 227ff.]
Das Individuum ist nun aufgefordert, denjenigen Prozentsatz
von x-Losen, d. h. denjenigen Wert für p zu nennen, bei dem es zwischen der
sicheren Alternative y und der entsprechenden Lotterie aus x-Losen und z-Losen
indifferent ist. Wenn dies z. B. bei p=2/3 der Fall ist, d. h. dass die Lotterie zu
zwei {-203-} Dritteln aus x-Losen und zu einem Drittel aus z-Losen
besteht, so beträgt der Nutzen der Alternative y für das Individuum 2/3. [[11] Zu den Voraussetzungen hierfür s. SEN 1970, S.95ff.] Der
nach der mathematischen Wahrscheinlichkeit zu erwartende Nutzen einer solchen
Lotterie aus 2/3 x-Losen und 1/3 z-Losen wäre ja (2/3 mal 1 plus 1/3 mal 0) =
2/3. Da die Lotterie für das Individuum mit der Alternative y gleichwertig war,
muss auch die Alternative y den gleichen Nutzenwert, nämlich 2/3 erhalten. [[12] Da die anfänglichen Nutzenwerte für x und z
willkürlich gewählt waren, könnte man auch andere Werte als 1, 2/3 und 0
erhalten. Wie man zeigen kann, können die erhaltenen Werte durch jede positive
lineare Transformation ersetzt werdend Diese Nutzenskala ist also eine
Intervall-Skala, bei der zwar eine kardinale Nutzeneinheit existiert, durch die
die Nutzenabstände zwischen den Alternativen messbar werden, bei der jedoch kein "natürlicher" Nullpunkt existiert. S. Dazu § 38/1.]
Die Frage ist nun, inwieweit ein solches Nutzenmaß zur
Annäherung an einen solidarischen Nutzenvergleich Verwendung finden kann.
Eines
der Probleme bei dieser Art kardinaler Nutzenmessung ergibt sich daraus, dass
die Nutzenwerte der Alternativen durch die Präferenzen des Individuums gegenüber
Lotterien, also gegenüber Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Alternativen und
nicht gegenüber den Alternativen selber gewonnen werden. Ob sich ein Individuum
an einer Lotterie beteiligt, hängt jedoch nicht nur vom individuellen Nutzen der
Lose bzw. der Gewinne ab, sondern auch von seiner Einstellung zum Risiko. Wenn jemand lieber "auf Nummer Sicher geht", so wird er sich
vielleicht noch nicht einmal an einer Lotterie beteiligen, die einen Einsatz von
DM 10 {-204-}verlangt und bei der 2/3 der Lose aus Gewinnen von DM 30
und 1/3 aus Nieten besteht, obwohl bei dieser Lotterie der zu erwartende Gewinn
pro Los im Durchschnitt DM 20 beträgt, also doppelt soviel wie der Einsatz.
[[13] Vgl. zur Rolle der Risikoneigung die Kritik bei ARROW 1963, S. 10 und den Kommentar dazu bei SEN 1970, S. 96f.. Die
Risikoneigung spielt hier also eine ähnlich störende Rolle für den
intersubjektiven Nutzenvergleich wie bei der Präferenzschwellentheorie das
Unterscheidungsvermögen der Individuen, denn beides ist nicht für alle
Individuen gleich.]
Für das Problem des intersubjektiven Nutzenvergleichs
bereitet jedoch vor allem der Umstand Schwierigkeiten, dass es sich bei den
erhaltenen Nutzenwerten um völlig subjektive Größen handelt, bei denen
noch keine Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Individuen gegeben ist. Wie
SEN schreibt, ist die kardinale Messbarkeit der individuellen Nutzen nur e i n
Problem bei der Bestimmung des Gesamtnutzens. Das andere Problem ist die
interpersonale Vergleichbarkeit und Aggregation.
Gewöhnlich behandelt man das Problem der intersubjektiven
Vergleichbarkeit solcher rein subjektiv gewonnenen Nutzenwerte durch eine
Normalisierung, d. h. durch eine Anpassung dieser Werte an einen
gemeinsamen Standard. Eine solche Normalisierung der individuellen Nutzenwerte
wirft jedoch Probleme auf.
So argumentiert SEN: "Jede Methode der interpersonalen Normalisierung kann
kritisiert werden. Man könnte argumentieren, dass bestimmte Methoden
intersubjektiv 'fair' sind, z. B. wenn man der schlechtesten Alternative in der
Skala jedes Individuum {-205-} den Wert 0 zuteilt und seiner besten Alternative den Wert
1. Erstens gibt es jedoch andere Methoden mit vergleichbarer Symmetrie, z. B.
die Methode, bei der der schlechtesten Alternative der Wert 0 gegeben wird und
der Wert 1 der Nutzen-Summe aller Alternativen.
Keine der beiden Methoden
ist merklich weniger fair als die andere (die eine nimmt den gleichen
Höchstnutzen für alle Individuen an, und die andere nimmt den gleichen
Durchschnittsnutzen für alle Individuen an), aber sie ergeben unterschiedliche
Ausgangspunkte für die kollektive Entscheidung.
Zum andern kann man beim Vergleich der Nutzenwerte
verschiedener Personen bewusst versuchen, die interpersonal unterschiedliche
Befriedigungskapazität zu berücksichtigen, z. B. mag man benachteiligten
Personen eine besondere Berücksichtigung zukommen lassen, deren
Befriedigungsniveau man für generell niedriger halten mag." [[14] SEN
1970, S. 98] Eine
einheitliche Normalisierung würde jedoch eine solche unterschiedliche Gewichtung
ausschließen. [[15] Die Problematik einer geeigneten Normalisierung
tritt übrigens nicht nur beim spieltheoretischen Nutzenbegriff auf, sondern bei
allen subjektiv gewonnenen Nutzwerten. Wenn z. B. die individuellen Nutzen der
Alternativen über die Stimmen bzw. Punkte bestimmt werden, die die Individuen
dafür abgeben, so erfolgt die Normalisierung über die Anzahl der Stimmen, die
jedes Individuum zu vergeben hat. S. dazu u. Teil III.]{-206-}
Bei einem solchen Verfahren wird gewissermaßen geprüft, wie
empfindlich sich eine bestimmte kollektive Rangordnung gegenüber einer
Veränderung der Normalisierungsverfahren erweist und ob sich sogar bei sehr
unterschiedlichen Normalisierungsverfahren für die individuellen Nutzenwerte
dieselbe Alternative als diejenige mit dem größten Gesamtnutzen behauptet.
Die Arbeitsweise eines Verfahrens der teilweisen
Vergleichbarkeit der individuellen Nutzenmaße kann anhand eines extremen
Beispiels von SEN veranschaulicht werden.
Dabei geht es um die Frage, ob der {-207-} Brand von Rom, der für viele Bürger Roms eine Katastrophe
bedeutete während andererseits Kaiser Nero sich daran erfreute, einen positiven
Gesamtnutzen gegenüber dem Status quo hatte. Wenn man keinerlei Vergleichbarkeit
der individuellen Nutzen akzeptiert, so muss man die Frage offenlassen, aber
sicherlich käme man selbst bei den unterschiedlichsten Normalisierungen der
individuellen Nutzen zu dem Ergebnis, dass der positive Nutzen Neros die Leiden
der römischen Bevölkerung nicht aufgewogen hat.
Mit der nur teilweisen Vergleichbarkeit der individuellen
Nutzen ist die scharfe Alternative zwischen exakter Vergleichbarkeit oder
überhaupt keiner interpersonalen Vergleichbarkeit der Nutzen aufgehoben, und es
ergeben sich auch dort noch Argumentationsmöglichkeiten hinsichtlich der
Alternative mit dem größten Gesamtnutzen, wo keine exakten Messverfahren gegeben
sind, sondern nur mehr oder weniger präzise Schätzurteile abgegeben werden
können. [[17] Damit gewinnt das Prinzip der teilweisen Vergleichbarkeit der
individuellen Nutzen auch eine Bedeutung für die Praktizierung eines
solidarischen Nutzenvergleichs über ein "Sich-hineinversetzen-in-den-andern",
wie er oben vorgeschlagen wurde. Denn das Prinzip bleibt brauchbar auch dann,
wenn man im Rahmen dieser Konzeption keine Messungen im strengen Sinne sondern
nur Schätzungen durchführen kann.]
"Kardinalität und volle interpersonale Vergleichbarkeit der
individuellen Nutzen sind hinreichende aber keine notwendigen Voraussetzungen
für eine rationale Entscheidung entsprechend einer Maximierung des aggregierten
Gesamtnutzens. Deshalb macht die Zurückweisung dieser Annahmen den Ansatz nicht
unbrauchbar, wie stattdessen häufig angenommen wird. Die weite {-208-}Anziehungskraft der Maximierung des aggregierten
Gesamtnutzens als Ansatz für die Bestimmung der kollektiven Entscheidung gründet
sich auf die implizite Verwendung eines weiteren Bezugsrahmens als jenem, der
durch vollständige Vergleichbarkeit und Kardinalität gesteckt wird." [[18] SEN 1970, S.103f.]
Ein auf dem spieltheoretischen Nutzenbegriff aufbauender
Ansatz zur Operationalisierung eines Nutzenmaßstabs, der die Interessen aller
Individuen in solidarischer Weise berücksichtigt, wurde von HARSANYI
vorgeschlagen. [[19] S. HARSANYI 1955. Ähnlich
auch VICKREY 1960a und 1960b.] HARSANYI unterscheidet zwischen den "subjektiven
Präferenzen" eines Individuums, die die Eigeninteressen eines Individuums
wiedergeben, und sogenannten "ethischen Präferenzen", die eine unparteiliche und
überpersönliche Einstellung ("an impartial and impersonal attitude") des
Individuums ausdrücken.
Danach entscheidet ein Individuum dann gemäß seinen "ethischen Präferenzen", wenn es nicht weiß, welches seine Position in den zur
Entscheidung stehenden Alternativen sein wird, sondern wenn die
gleiche Wahrscheinlichkeit besteht, dass es in die Lage irgendeines
Individuums {-209-} gerät. Zur "Lage" eines Individuums gehören dabei nicht nur
die äußeren Lebensbedingungen sondern auch die subjektiven Einstellungen und
Geschmacksrichtungen ("attitudes and tastes") des betreffenden Individuums.
Unter diesen Bedingungen ist jedes Individuum gezwungen, nicht nur sein
Eigeninteresse wahrzunehmen, sondern es muss sich - so wie es vom
Solidaritätsprinzip gefordert wird - in die Lage der andern Individuen
hineinversetzen und ihre Interessen in gleicher Weise berücksichtigen wie seine
eigenen, denn es kann mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Lage
irgendeines Individuums geraten. Insofern fallen unter der Bedingung einer
Auslosung der Positionen für die Individuen Eigeninteresse und Gesamtinteresse
zusammen.
Dies Verfahren soll an einem vereinfachten Beispiel
erläutert werden.
Angenommen fünf Individuen mit etwa gleicher Interessenlage
und gleichem Einkommen beziehen gemeinsam eine Fünf-Zimmer-Wohnung. Die Zimmer
sind unterschiedlich nach Größe, Helligkeit, Lärmbelastung usw.. Diese
Miniaturgesellschaft von fünf Leuten steht nun vor der Entscheidung, wer welches
Zimmer bewohnen soll und welchen Mietanteil er dafür übernehmen soll. Dabei soll
der Mietanteil jedes Einzelnen entsprechend dem Gebrauchswert des Zimmers
festgelegt werden, das er bewohnt.
Wenn man nun zuerst die Aufteilung der Zimmer auf die
Individuen vornimmt und anschließend versucht, den Mietanteil für jedes Zimmer
festzulegen, so wäre es bei einem Eigeninteresse jedes Individuums, möglichst
wenig Miete zu bezahlen, in der Praxis nur schwer möglich, zu einer Einigung zu
gelangen. Jeder würde gemäß seinem Eigeninteresse bemüht sein, den {-210-} Nutzwert des von ihm bewohnten Zimmers möglichst niedrig
darzustellen im Verhältnis zu den andern Zimmern, um seine eigenen Ausgaben
möglichst niedrig zu halten.
Wenn man jedoch umgekehrt vorgeht und erst eine Bewertung
der Zimmer vornimmt und dann die Zimmer durch Verlosung aufteilt, so kann
niemand bei der Bewertung der Zimmer sein Eigeninteresse wahrnehmen, denn er
weiß ja noch nicht, welches er bewohnen wird. [[20] Eine Verlosung der Zimmer ist hier deshalb
unproblematisch, weil jede Verteilung gleichwertig ist, denn es wird eine
gleiche Interessenlage der Individuen hinsichtlich der Wohnbedingungen
angenommen.] Eine solche Situation
würde jedes Individuum zu solidarischen Entscheidungen - oder in HARSANYIs
Terminologie zu "ethischen Präferenzen" - zwingen. [[21] Die Brechung des Eigeninteresses durch die
Einführung von Ungewissheit findet sich auch bei RAWLS 1973 und BUCHANAN/TULLOCK
1969.]
Durch die Einführung des Risikos gleicht die Entscheidung
zwischen zwei Alternativen - z. B. zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen -
der Entscheidung zwischen zwei Lotterien. Für jede Position in einer
Gesellschaftsordnung existiert ein Los. Darauf ist die äußere Lage und die
Präferenzstruktur eines der Individuen in dieser Gesellschaftsordnung
verzeichnet. Diese Inhalte der Lose sind allen Individuen bekannt. HARSANYI
nimmt nun an, dass sich die Individuen gemäß den in der Spieltheorie üblichen
Postulaten der rationalen Entscheidung unter Ungewissheit verhalten. Danach
ergibt sich der Nutzen einer Alternative aus dem Nutzen, den die Alternative als
sicheres Ereignis hätte, multipliziert mit {-211-}der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens. Dieser
Erwartungswert ergibt einen kardinal interpretierbaren Nutzenmaßstab, d. h. mit
ihm lassen sich mathematische Operationen wie Addition und Multiplikation
durchführen. Der Gesamtnutzen verschiedener solcher Lotterien für ein Individuum
lässt sich dann durch das arithmetische Mittel der Nutzenwerte aller
Los-Ergebnisse bestimmen.
Allerdings wäre der Gesamtnutzen, wie ihn ein Individuum
durch seine ethischen Präferenzen bestimmt, damit noch nicht notwendigerweise
für alle Individuen gleich. Die ethischen Präferenzen der Individuen fallen
nämlich nur dann zusammen, wenn die Individuen einen interpersonal
vergleichbaren Nutzenmaßstab bei der Bewertung der Positionen verwenden und wenn
sie außerdem die gleiche Einstellung zum Risiko haben, da die Risikobereitschaft
eines Individuums den als Erwartungswert bestimmten Nutzen beeinflusst. [[22] S.
Dazu PATTANAIK 1968, S.306f.]
Ein Individuum mit hoher Risikoneigung wird eine Lotterie mit großen
Nutzendifferenzen zwischen den Los-Ergebnissen - wo es also "Hauptgewinne" und "Nieten" gibt - höher einstufen als ein Individuum mit einer geringen
Risikoneigung, selbst wenn die sicheren Los-Ergebnisse für beide Individuen den
gleichen Nutzen hätten.
Die praktische Anwendbarkeit des von HARSANYI
vorgeschlagenen Verfahrens ist allerdings nur beschränkt. Es gibt eher eine
theoretische Vorstellung {-212-} von der Beschaffenheit "unparteiischer" und "solidarischer" ethischer Präferenzen. In den meisten Fällen lässt sich ein
kollektiver Entscheidungsprozess nicht so konstruieren, dass die Individuen
nichts über ihre Position in den zur Auswahl stehenden Alternativen wissen.
Bestimmte Positionen etwa im System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind
an bestimmte Fähigkeiten intellektueller Art gekoppelt. Andere Situationen wie
z. B. Schwangerschaft treten nur nur für Individuen weiblichen Geschlechts auf.
Wer seine Vorlieben und Interessenschwerpunkte kennt, weiß, dass er diese unter
allen alternativen Systemen haben wird, sodass er auf deren Befriedigung
besonderes Gewicht legen kann. All dies sind Gründe, warum ein Individuum gar
nicht tatsächlich in die Lage bestimmter anderer Individuen kommen kann ,
sodass sich dann auch keine Entscheidung nach Art einer Auslosung der Positionen
real konstruieren lässt.
In bestimmten Fällen lässt sich jedoch eine Situation des "fairen Risikos" auch praktisch zur Gewinnung normativ gültiger Entscheidungen
verwenden. MUELLER will z. B. Durch den Einbau eines Risikomoments das
Wirksamwerden von partikularen Interessen bei Verfassungsänderungen abschwächen.
[[23] Vgl. MUELLER 1973.] Er schlägt vor, dass Verfassungsänderungen erst nach einer längeren
Zeitspanne von fünf oder gar zwanzig Jahren in Kraft treten.
Eine
parlamentarische Mehrheit kann dann nicht mehr ohne weiteres ihre eigene Macht
durch {-213-} verfassungsrechtliche Kompetenzerweiterungen der Regierung
vergrößern, weil das Risiko besteht, dass sie bei Wirksamwerden der
Verfassungsänderung gar nicht mehr an der Regierung ist. Dann würde die
Kompetenzerweiterung u. U. der Konkurrenzpartei zugute kommen, die dann die
Regierung stellt.
Allerdings hätte eine solche Regelung den Nachteil, dass
dadurch der Prozess der Verfassungsentwicklung außerordentlich schwerfällig
gemacht würde. Eine Anpassung an unvorhergesehene Entwicklungen, die keinen
Aufschub duldet, wäre damit z. B. unmöglich gemacht. Außerdem würde durch eine
derartig lange Frist für das Wirksamwerden von Verfassungsänderungen jeder
verfassungsrechtliche Status quo notwendig gestärkt, gleichgültig ob dieser
Status quo befriedigend ist oder nicht.
Mit den physischen
Gütermengen hat man {-214-} dann einen empirischen Nutzenindikator, der selber
kardinale Eigenschaften besitzt, denn Gütermengen lassen sich nach der Zahl der
Gütereinheiten messen, aus denen sie bestehen, z. B. 20 Äpfel oder 10 Gramm
Gold.
Bei einem solchen Verfahren drückt man den individuellen
Nutzen der zur Entscheidung stehenden Alternativen indirekt durch den Nutzen
aus, den das als Maßeinheit genommene Gut für das betreffende Individuum
besitzt. Im Prinzip kann man für dies Verfahren alle möglichen Dinge nehmen, die
für Individuen einen positiven oder negativen Wert haben und zugleich
quantifizierbar sind, wie z. B. Gefängnisaufenthalt, Hungern, Warten oder
Urlaub, die in Zeiteinheiten messbar sind, oder Gold, 'Apfel, Zigaretten oder
Stockschläge, die sich in Stückzahlen oder Gewichten messen lassen.
Wenn z. B.
einem Individuum die Realisierung der Alternative x 10 Zigaretten wert ist,
während sie dem andern Individuum 20 Zigaretten wert ist, so würde der positive
Gesamtnutzen der Alternative für beide 30 Einheiten betragen. Der Gesamtnutzen
jeder Alternative entspricht also der Gesamtgütermenge, die alle Individuen
zusammen bereit sind, für die Realisierung der Alternative zu opfern. Damit
jedoch eine Messung der individuellen Nutzen über geopferte Gütermengen normativ
akzeptabel wird, müssen eine Reihe von Voraussetzungen gemacht werden, die
gewöhnlich nicht erfüllt sind, selbst wenn man einmal annimmt, dass die
Individuen ihre Interessen aufrichtig, qualifiziert und ohne störende
Nebenbedingungen äußern. [[25] s. dazu u. Kap.10] {-215-}
Die Kardinalität einer solchen Nutzenmessung durch
Gütermengen ist ja nur dann gewährleistet, wenn jeder Mengeneinheit des Gutes
bzw. "Ungutes" auch genau eine Nutzeneinheit für das betreffende Individuum
entspricht, d. h. dass gleiche Gütermengen auch immer einen gleichen Nutzen für
jedes Individuum bedeuten müssen. Eine solche Annahme ist jedoch kaum
aufrechtzuerhalten, denn gewöhnlich sind einem Individuum zusätzliche Einheiten
eines bestimmten Gutes umso weniger Wert, je mehr es schon von diesem Gut
besitzt, da mit wachsendem Verbrauch Sättigungsphänomene auftreten. Wenn man z.
B. dem Verzehr des 1. Apfels im Verlauf eines Tages einen bestimmten Wert zumisst, so wird man dem Verzehr des 5. Apfels schon geringeren Wert beilegen und
der Verzehr des 10. Apfels wird einem bestimmt schon eher zur Qual als zum Genuss.
Solche Sättigungsphänomene treten beim Verbrauch sehr vieler Güter auf und
führen dazu, dass innerhalb eines gegebenen Zeitraums jede zusätzlich
konsumierte Einheit eines Gutes einen umso geringeren individuellen Nutzen
bedeutet, je mehr Einheiten man bereits konsumiert hat. [[26] Dieser
Sachverhalt wird auch als "Erstes GOSSENsches Gesetz" bezeichnet. S. GOSSEN in HOFMANN 1971, S.123f.]
Eine gewisse Komplikation taucht hier dadurch auf, dass man
eigentlich zwischen dem Grenznutzen des Verzehrs einer zusätzlichen Gütereinheit und dem
Grenznutzen des Eigentums an einer zusätzlichen Gütereinheit
unterscheiden muss. Denn wenn es sich um ein lagerfähiges und auf andere übertragbares Gut handelt, so fällt der Grenznutzen des {-216-} Verbrauchs und der Grenznutzen des Eigentums nicht
zusammen. Im letzteren Fall muss das Individuum den 10. Apfel ja nicht selber
konsumieren, sondern kann ihn gegen ein anderes Gut eintauschen. Dann müssen
keine individuellen Sättigungsphänomene auftreten, da diese ja nur beim
Endverbraucher entstehen.
So wird in einer Tauschwirtschaft ein Händler u. U.
tausende von Einheiten desselben Gutes kaufen und trotzdem für das 1000. Stück
noch den gleichen Preis zahlen wie für das erste Stück, sofern er annimmt, dass
bei der Gesamtheit seiner potentiellen Abnehmer noch keine Sättigung eingetreten
ist. Im Gegensatz zum Grenznutzen des Verbrauchs kann der Grenznutzen des
Eigentums praktisch nicht negativ werden, denn notfalls kann man ja Güter, die man nicht mag, verschenken oder einfach vernichten. [[27]
Sofern allerdings die Beseitigung unerwünschter Güter kostspielig ist, kann im
Extremfall auch ein negativer Grenznutzen des Eigentums eines Gutes entstehen.] Aufgrund dieser
Schwierigkeiten muss bei der Nutzenmessung über Gütermengen sichergestellt
werden, dass tatsächlich nur der Nutzen des Verbrauchs gemessen wird und nicht
der Tauschwert des Gutes bei der Entscheidung des Individuums eine Rolle spielt.
Im letzteren Fall fungiert das Gut gewissermaßen als Geld, d. h. als ein
bestimmtes Quantum Kaufkraft, das dies Individuum erhält. [[28] S. dazu u.
§ 45.]
Einen gewissen Hinweis darauf, dass konkrete Güter wegen
solcher Sättigungsphänomene nur einen sehr unvollkommenen kardinalen
Nutzenmaßstab abgeben, erhält man bereits aus der Tatsache, dass der
relative {-217-} Wert zweier Güter für ein Individuum meist nicht
konstant ist. Wenn man den individuellen Wert eines Gutes x im Verhältnis zum
Gut y durch die Bereitschaft des Individuums bestimmt, eine Einheit des Gutes x
durch eine bestimmte Anzahl von Einheiten des Gutes y zu ersetzen bzw. zu
substituieren, so steigt die Menge des für eine Einheit von x zur Kompensation
nötigen Zahl der Einheiten von y mit fortgesetzter Substitution von x durch y,
je mehr sich also der Vorrat des Individuums vom Gut x verringert. [[29] Die
Substitutionsrate zweier Güter für ein Individuum entspricht der Steigung der
Indifferenzkurve. Die typische, vom Nullpunkt gesehen konvex verlaufende Form
der Indifferenzkurve beruht auf solchen Sättigungsphänomenen. Allerdings sind
auch andere Substitutionsbedingungen zwischen den Gütern möglich, z. B. Komplementarität,
die dann zu einem andern Kurvenverlauf führen. Zur Indifferenzkurvenanalyse s. u.
§ 100/2.]
Allerdings sind solche Veränderungen der Substitutionsraten
zwischen zwei Gütern als solche noch kein Beweis dafür, dass für keines der
beiden Güter eine kardinale Entsprechung zwischen Güter- und Nutzeneinheiten
besteht. Da die Veränderung der Substitutionsrate nur etwas über den
relativen Wert beider Güter im Verhältnis zueinander aussagt, könnte diese
Veränderung im Prinzip auch dadurch hervorgerufen werden, dass sich für das
Individuum nur der Grenznutzen des einen Gutes verändert hat, während er für das
andere Gut konstant geblieben ist.
Wenn das Individuum mit wachsendem Vorrat an
x auf immer weniger Einheiten von y zu verzichten bereit ist, um eine
zusätzliche Einheit von x zu erhalten, so kann das einmal bedeuten, dass der
Grenznutzen von x gefallen ist. Es kann aber auch bedeuten, dass der Grenznutzen
von y gestiegen ist. Weitere Möglichkeiten zur Interpretation dieser Veränderung
der Substitutionsrate {-218-} zwischen beiden Gütern wären, dass entweder der Grenznutzen
von x stärker gefallen ist als der Grenznutzen von y oder aber dass der
Grenznutzen von y stärker gestiegen ist als der Grenznutzen von x.
In allen vier
Fällen würde die Substitutionsrate von x gegen y mit wachsendem Vorrat von x
gegen Null gehen. Aus dem Substitutionsverhalten eines Individuums kann man
direkt nur schließen, dass die vom Individuum freiwillig hergegebenen Güter
einen geringeren individuellen Nutzen hatten als die Güter, die es dafür
eingetauscht hat. Man kann aber nicht sagen, ob der Nutzen einer zusätzlichen
Einheit von x bei einem Vorrat von 20 Einheiten von x absolut gesehen kleiner
gewesen ist als der Nutzen einer zusätzlichen Einheit bei einem Vorrat von 10
Einheiten. Eine solche Aussage lässt sich nur dadurch treffen, dass man sich in
die jeweilige Lage des Individuums hineinversetzt - die einmal gekennzeichnet
ist durch einen Vorrat von 20 Einheiten x und das andere Mal durch einen Vorrat
von 10 Einheiten x - und den Nutzen einschätzt, der durch eine zusätzliche
Einheit von x jeweils entsteht.
Selbst wenn jedoch der Grenznutzen des als Nutzenmaßstab
verwendeten Gutes konstant bliebe, wenn also jeder zusätzliche Apfel für jedes
Individuum immer einen konstanten Nutzenzuwachs um eine Einheit bedeuten würde,
so folgt daraus noch nicht, dass der Nutzenzuwachs pro Apfel auch
interpersonal gleich groß ist. Denn vielleicht ist ein Individuum ein
Apfelliebhaber, während das andere Individuum Äpfel nicht so gerne mag. Um den
Nutzen pro Apfel für beide Individuen vergleichbar zu machen, müsste ein
Gewichtungsfaktor ermittelt werden, der angibt, den wievielfachen Nutzenzuwachs
das eine Individuum gegenüber dem andern durch einen zusätzlichen Apfel erhält. {-219-}
Wenn man einmal annimmt, dass die Individuen eine
identische Bedürfnisstruktur in Bezug auf Äpfel haben, dass allerdings der
Grenznutzen zusätzlicher Äpfel sinkt, so hängt der individuelle Nutzen
zusätzlicher Äpfel von der gegebenen Ausstattung der Individuen mit Äpfeln ab,
sodass die substituierten Apfelmengen ebenfalls keinen interpersonal
vergleichbaren kardinalen Maßstab für den individuellen Nutzen anderer
Alternativen abgeben können. Wer gewissermaßen "in Äpfeln schwimmt" und z. B.
1000 Äpfel besitzt, dem ist es ein Leichtes, für die Realisierung einer
Alternative hundert Äpfel zu opfern. Wer jedoch mit Äpfeln knapp ist und
vielleicht nur 10 Äpfel besitzt, dem kann schon die Herausgabe eines einzigen
Apfels eine relativ große Nutzeneinbuße bedeuten. Denn bei sinkendem Grenznutzen
der Äpfel für die Individuen kann es sein, dass für ein Individuum mit 10 Äpfeln
ein Apfel den gleichen oder gar einen größeren Nutzen besitzt als 100 Äpfel für
ein Individuum mit 1000 Äpfeln. Dies hängt ganz vom Verlauf der Nutzenkurve ab.
Insofern ist die Verwendung der geopferten Gütermengen als ein interpersonal
vergleichbares Nutzenmaß problematisch. Und zwar ist dieser Nutzenmaßstab umso
problematischer, je unterschiedlicher die Ausstattung der Individuen mit diesem
Gut ist und je unterschiedlicher die Bedürfnisse der Individuen in Bezug auf
dieses Gut sind.
Bei sinkendem Grenznutzen der Güter gibt die
unterschiedliche Ausstattung der Individuen mit dem als Nutzenmaßstab gewählten
Gut gewissermaßen die Art der Normalisierung der subjektiven Nutzen
vor. Denn die individuelle Nutzensumme für alle Alternativen und damit auch die
Obergrenze des individuellen Nutzens für eine einzelne Alternative {-220-} kann nicht größer sein als die gesamte Gütermenge, über die
das Individuum verfügt. Wer nur 10 Gütereinheiten besitzt, der kann der für ihn
besten Alternative höchstens 10 Nutzeneinheiten zuteilen, während jemand, der
1000 Gütereinheiten besitzt, für seine bevorzugte Alternative 1000
Nutzeneinheiten geltend machen kann. "Was immer auch das Medium sein mag, durch
welches ein Individuum die relative Intensität seiner verschiedenen Begehren
ausdrückt, immer wird ein Vergleich zwischen den Individuen von ihrer
anfänglichen Ausstattung mit dem betreffenden Medium abhängen." [[30] WINCH 1971,
S.186.] Die
individuellen Interessen werden dabei also gewichtet entsprechend der
Gütermenge, die sich im Besitz des betreffenden Individuums befindet, was mit
dem Solidaritätsgebot nicht vereinbar ist.
Trotz dieser recht negativen Ergebnisse hinsichtlich der
Brauchbarkeit geopferter Gütermengen als Nutzenindikator sollte dieses Verfahren
jedoch nicht völlig verworfen werden, denn sein großer praktischer Vorteil ist
die relativ leichte Umsetzbarkeit in ein zuverlässiges Messverfahren. Weitere
Vorteile sind:
1. Das Problem unaufrichtiger Nutzenäußerungen der Individuen ist
insofern behoben, als für die Individuen eine Übertreibung ihrer Interessen mit
entsprechenden Opfern verbunden ist.
2. Die substituierten Güter gehen nicht
verloren sondern können von andern Individuen verwendet werden, sodass die
Kosten der Präferenzermittlung kollektiv gesehen niedrig bleiben. Es käme
deshalb darauf an, Güter zu finden, die den oben genannten Schwierigkeiten
möglichst wenig ausgesetzt sind, die also zum einen einen für alle {-221-} Individuen einen vergleichbaren Nutzen besitzen und mit
denen alle Individuen möglichst gleichmäßig ausgestattet sind bzw. Deren
Grenznutzen möglichst konstant ist. [[31] Genaugenommen ist nicht die quantitativ gleiche
Ausstattung der Individuen mit dem Medium zu fordern, sondern eine Ausstattung
entsprechend dem Umfang der Bedürfnisse. So hat z. B. ein Individuum, das ein Bein verloren hat, allein schon aufgrund seiner
Schwierigkeiten bei der Fortbewegung zusätzliche Bedürfnisse.]
Allerdings ist auch der Nutzen des Geldes nicht ganz
unabhängig von der Bedürfnisstruktur der Individuen. Insofern nämlich nur
bestimmte Arten von Gütern gegen Geld erworben werden können, während andere
über Geld nicht oder nur indirekt verfügbar gemacht werden können wie Zuneigung,
Anerkennung, Ruhm, Gesundheit, Schönheit, Begabung usw., wird manchen Individuen
Geld generell "weniger bedeuten" als anderen, da ihre stärksten Bedürfnisse
nicht im Bereich der käuflich erwerbbaren Güter liegen. Insofern sagt man auch
umgangssprachlich: "Er macht sich nicht soviel aus Geld." Im Prinzip wirken sich
also auch beim Nutzen des Geldes individuell unterschiedliche
Bedürfnisstrukturen aus.
Das entscheidende Problem bei der Verwendung des Geldes als
Nutzenmaßstab liegt jedoch in der Veränderlichkeit seines Grenznutzens, der bei
Individuen mit ähnlicher Bedürfnisstruktur aber sehr unterschiedlicher
Geldausstattung ohne weiteres dazu führen kann, dass für einen Armen der
Verzicht auf 10 Geldeinheiten nutzenmäßig genau so viel bedeuten kann wie für
einen Reichen der Verzicht auf 100 Geldeinheiten.
Allerdings wird der
Grenznutzen des Geldes sehr viel stabiler sein als der Grenznutzen des
Verbrauchs bestimmter naturaler Güter, bei denen meist sehr rasch eine
Sättigungsgrenze erreicht ist, über die hinaus ein weiterer Konsum eher negativ
bewertet wird. Demgegenüber ist Geld ja in den Konsum aller käuflichen
Güter umsetzbar, sodass bei Sättigung in Bezug auf eine Güterart dem Individuum
weiterhin andere Güterarten zusätzlichen Nutzen bringen können. {-223-}
Dass auch der Grenznutzen des Geldes sinkt, kann man sich
an folgender Überlegung klarmachen. Wenn man einem Individuum sagt: "Angenommen
du hast 100 DM zu deiner freien Verfügung. Wie würdest du sie ausgeben?", so
wird das Individuum ein bestimmtes Güterbündel 1 beschreiben, das es erwerben
möchte. Wenn man jetzt die verfügbare Geldsumme auf 150 DM erhöht, so wird das
Individuum ein erweitertes Güterbündel 2 angeben, bei dem jetzt zusätzliche
Gütereinheiten bzw. neue Gütereinheiten auftreten, die im ersten Güterbündel
nicht enthalten waren.
Wenn sich das Individuum rational entschieden hat, so
müssen die im Güterbündel 2 auftretenden Güter für das Individuum einen
geringeren individuellen Nutzen haben als Güter des gleichen Preises, die
bereits im Güterbündel 1 enthalten waren. Denn andernfalls hätte das Individuum
die 100 DM anfangs nicht so ausgegeben, dass es davon den größtmöglichen Nutzen
hat und hätte seinem eigenen Interesse entgegengehandelt. Wenn z. B. im
Güterbündel 2 eine Schallplatte für 15 DM enthalten ist, die im ersten Bündel
nicht enthalten war, so müssen diese 15 DM dem Individuum einen geringeren
Nutzen erbracht haben als z. B. die 15 DM für ein Buch, das bereits im ersten
Güterbündel enthalten war. Daraus lässt sich ein sinkender Grenznutzen des
Geldes folgern.
Ähnlich argumentiert auch MARSHALL: "Zu einem bestimmten
Zeitpunkt mit konstantem Vermögen ist der Grenznutzen des Geldes für ein
Individuum eine feste Größe, sodass die Preise, die es für zwei Güter zu zahlen
bereit ist, in demselben Verhältnis zueinander stehen wie die Nutzen dieser zwei
Güter. Wenn ein Individuum arm ist, muss ein Ding einen größeren Nutzen haben,
um es zum Kauf zu bewegen, als wenn es reich {-224-} ist. Wie wir gesehen haben, wird ein Angestellter mit
100
Pfd. im Jahr noch bei heftigerem Regen zu Fuß ins Geschäft gehen als ein
Angestellter mit 300 Pfd. im Jahr." [[34] MARSHALL 1972, S.80.]
PIGOU schreibt zum Grenznutzen des
Geldes: "Es ist offensichtlich, dass jede Übertragung von Einkommen von einem
verhältnismäßig reichen Mann zu einem verhältnismäßig armen Mann mit
vergleichbarer Persönlichkeit ein Anwachsen der aggregierten Summe der
Befriedigungen bedeuten muss, da es die Befriedigung intensiverer Bedürfnisse
ermöglicht auf Kosten weniger intensiver Bedürfnisse." [[35] PIGOU 1948, S.89.]
Die obige Schlussfolgerung bedarf jedoch noch einer
Einschränkung: sofern Unteilbarkeiten von Gütern eine Rolle spielen, kann der Schluss auf einen sinkenden
Grenznutzen des Geldes nicht einfach gezogen werden, weil sich dann durch
zusätzliches Geld nicht nur eine Erweiterung des bisherigen Güterbündels ergibt, sondern eine völlige Umstrukturierung. Wenn
z. B. das Individuum den dringenden Wunsch nach einem Radio hat, das aber 150 DM
kostet, so lässt sich aus der Tatsache, dass es die 100 DM für andere Dinge
ausgegeben hat, natürlich keineswegs folgern, dass diese Güter ihm wichtiger
waren als das Radio. Es sind also nur Güter gleichen Preises aus beiden
Güterbündeln nutzenmäßig vergleichbar.
Wenn jedoch der Grenznutzen des Geldes entsprechend diesen
Überlegungen nicht konstant ist sondern sinkt, so bedeutet dies, dass der Nutzen
einer Geldeinheit {-225-} für ein Individuum nicht unabhängig von seiner Ausstattung
mit Geld ist. Nimmt man unter Ausklammerung der oben gemachten Einschränkung
einmal an, dass verschiedene Individuen aus der gleichen Geldmenge ungefähr den
gleichen Nutzen ziehen können, so folgt daraus, dass für reichere Individuen, in
deren Eigentum sich relativ mehr Geld befindet, der Grenznutzen einer
zusätzlichen Geldeinheit geringer ist als für ärmere Individuen.
Aus der
Tatsache, dass das reichere Individuum A für die Realisierung der Alternative x
mehr Geld zu geben bereit ist als das arme Individuum B für die Realisierung der
Alternative y, folgt deshalb also keineswegs, dass die Alternative x für A einen
größeren individuellen Nutzen besitzt als die Alternative y für B.
In Tauschwirtschaften richtet sich die Entscheidung
darüber, wer welche Güter konsumiert, nach der zahlungskräftigen Nachfrage der
Individuen.[[36] s. dazu auch unten Kap. 13.] Wenn dieser Zustand als normativ gerechtfertigt angesehen wird, so
impliziert dies die Annahme, dass diese Methode der Konsumverteilung einen
größeren Gesamtnutzen erbringt als irgendeine andere.
Sofern die Verteilung
nicht noch durch andere Auswirkungen gerechtfertigt werden kann wie z. B. durch
eine Vergrößerung der insgesamt verfügbaren Gütermenge durch die Schaffung von
produktiven Anreizen [[37] s. dazu unten § 82.], so impliziert die Güterverteilung an den Meistzahlenden,
dass der individuelle Nutzen des zu verteilenden Gutes für denjenigen am größten
ist, der bereit ist, die größte Geldmenge dafür herzugeben. Das Geld fungiert
hier gewissermaßen als kardinaler und interpersonal vergleichbarer
Nutzenmaßstab.
WINCH drückt dies am Beispiel {-226-}
der Verteilung verschiedener Arten von Früchten durch den Markt folgendermaßen
aus: "Jede Person drückt ihre Präferenzen durch ihre Nachfragepreise für die
verschiedenen Früchtearten aus. Die kardinalen Eigenschaften des Geldes können
dabei als Annäherung an ein kardinales Nutzenmaß fungieren. .. Die Gewichtung
der Präferenzen jeder Person wird einerseits durch seine Vorliebe für Früchte im
Verhältnis zu anderen Gütern bestimmt und andererseits durch sein Einkommen.
Solche ein System hat man als Dollar-Abstimmung auf dem Markt bezeichnet. Es
beruht auf einer von außen vorgegebenen Verteilung der Stimmkraft (Einkommen)
und einem Mechanismus (Tausch), durch den 'Stimmen' als Indikator für die Stärke
der Präferenzen verwendet werden können." [[38]WINCH 1971, S.182.]
Bei einer ungleichen Verteilung der Einkommen bzw.
der
Kaufkraft auf die Individuen kann das Geld jedoch keineswegs annäherungsweise
zur Konstruktion eines kardinalen, interpersonal vergleichbaren
Nutzenmaßstabs herangezogen werden. Dies wäre ähnlich problematisch wie ein
Abstimmungssystem, bei dem die Individuen über unterschiedliche Stimmzahlen
verfügen. Entsprechend problematisch ist auch eine Messung der Kosten bzw.
der negativen Nutzen durch den Maßstab des Geldes.
Wenn Individuum A für 50
Geldeinheiten bereit ist, eine bestimmte Arbeit auszuführen, während Individuum
B erst für 100 Geldeinheiten dazu bereit ist, so bedeutet dies nicht notwendig,
dass damit die Kosten der Arbeit für B zweimal so hoch sind wie für A. Dieser
Unterschied {-227-} kann auch bei einer ähnlichen Bedürfnisstruktur der
Individuen hinsichtlich der auszuführenden Arbeit allein dadurch hervorgerufen
sein, dass A mit Geld sehr knapp ist und deshalb zusätzliches Geld für ihn einen
hohen Grenznutzen besitzt, während für Individuum B aufgrund seiner besseren
Ausstattung mit Geld zusätzliches Geld einen geringeren Grenznutzen im Vergleich
zu A besitzt.
Dazu muss noch genauer bestimmt werden, was unter "geopferter Zeit" zu verstehen ist. Gemeint ist gewöhnlich ja nicht eine
tatsächliche Verkürzung der Lebenszeit der Individuen im Sinne eines früheren
Todes, sondern eine bestimmte Verwendung der Zeit, die insofern für die
Individuen ein Opfer darstellt, als es sich nicht um "Freizeit" handelt, {-228-} die die Individuen entsprechend ihren eigenen Wünschen
verwenden können. Wenn man also die Bereitschaft der Individuen, für die zur
Entscheidung stehenden Alternativen ein bestimmtes Quantum Zeit zu opfern, als
Indikator für die vergleichbare Größe des individuellen Nutzens dieser
Alternative nehmen will, so bleibt dieser Maßstab unvollständig, wenn nicht
zugleich gesagt wird, womit diese Zeit ausgefüllt werden soll. Nicht umsonst
provoziert im Alltag die unspezifizierte Frage: "Hast du eine Stunde Zeit?"
zuerst die Rückfrage: "Zeit wozu?", denn für bestimmte Dinge, die man gern tut,
hat man eher Zeit als für unangenehme Tätigkeiten.
Auch einen Arbeitsvertrag
schließt man nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Arbeitsdauer und Entlohnung
ab, sondern berücksichtigt auch die Art der Arbeit, die man tun muss. Jemand
mag vielleicht bereit sein, für die Karte zu einer Premiere eine Stunde lang an
der Theaterkasse anzustehen, aber er wird vielleicht nicht bereit sein, dafür
eine Stunde lang Kohlensäcke zu tragen.
1. Wartezeit als Nutzenmaßstab
Unter der Voraussetzung, dass
die geopferte Wartezeit ein kardinales, interpersonal vergleichbares Nutzenmaß
darstellt, wird dadurch diejenige aller möglichen Güterverteilungen
verwirklicht, bei der die Summe der individuellen Nutzen und damit der
Gesamtnutzen am größten ist, denn diejenigen, die am längsten gewartet haben und
damit den größten individuellen Nutzen von dem Gut haben, bekommen die Güter.
Die Annahme gleichen negativen Nutzens bei gleicher
Wartezeit für alle Individuen ist jedoch nicht unproblematisch, wie man leicht
zeigen kann. Wenn man z. B. in einer Schlange stehen muss, so ergeben sich für
die Individuen Unterschiede im Ausmaß ihres Opfers z. B. schon dadurch, dass
bestimmte Individuen wie Alte, Gebrechliche, schwangere Frauen usw. langes
Stehen nicht so gut vertragen können wie andere.
Es kann außerdem jeder an sich
selbst feststellen, dass für ihn die Zeit unterschiedlich knapp ist und dass ihm
die Stunden unterschiedlich wertvoll sind, je nach dem individuellen Nutzen der
alternativen Beschäftigung, auf die er verzichten muss. So mag einem bei
herrlichem Wetter die Zeit "zu schade" sein, um in einer Schlange anzustehen,
und man macht stattdessen lieber einen Ausflug ins Grüne. Und wer zu einem
wichtigen Termin eine dringende Arbeit fertig stellen muss, der hat vor dem
Termin weniger Zeit als nach dem Termin, d. h. dass die Stunden für ihn einen
unterschiedlichen Nutzen repräsentieren. Wenn man könnte, würde man nur zu gern
zwei Stunden vor {-230-} dem Termin gegen vier Stunden nach dem Termin eintauschen.
Die Zeit hat dabei nicht nur
intertemporal für
ein und dasselbe Individuum einen unterschiedlichen Nutzen. Man sagt auch von
verschiedenen Individuen, dass ihre Zeit unterschiedlich knapp ist und dass
bestimmte Individuen, wie z. B. Rentner, mehr Zeit haben als andere Individuen,
die noch berufstätig sind, oder dass Hausfrauen ohne Kinder gewöhnlich mehr Zeit
haben als Hausfrauen mit Kindern. Allgemeiner gesprochen bedeutet das: Wenn
jemand sowieso nicht recht weiß, was er mit seiner Zeit anfangen soll, so
bedeutet ihm eine Stunde Wartezeit sicherlich im Verhältnis ein geringeres
Opfer, als wenn jemand deswegen auf die Erreichung ihm wichtiger Ziele
verzichten muss.
Im interpersonalen Vergleich hat die Wartezeit hier sicherlich
einen unterschiedlichen negativen Nutzen für die Individuen, sodass ihre
Verwendung als Nutzenmaß problematisch wird. Zusätzlich problematisch wird die
Wartezeit als Nutzenindikator, wenn die Kosten des Wartens nicht nur das
wartende Individuum betreffen sondern zusätzlich noch weitere Individuen. Dies ist etwa der Fall, wenn
Eltern ihre Zeit dafür verwenden, ihre Kinder zu versorgen und das Einkommen für
die Familie zu erwerben. Dann ist jede Wartezeit nicht nur nachteilig für den
Wartenden sondern auch für die schlechter versorgten anderen Individuen. [[42] Aus den genannten Gründen gibt es in
Warteschlangen-Verfahren meist auch offizielle oder inoffizielle
Sonderregelungen für solche Individuen, denen aufgrund ihrer besonderen Lage das
Warten nicht so zugemutet werden kann wie den andern Individuen.] {-231-}
Ein Vorteil des Warteschlangen-Verfahrens besteht darin,
dass - ähnlich wie bei der Nutzenermittlung durch die Opferung von Güter- oder
Geldmengen - durch den Zwang zum tatsächlichen Erbringen des Opfers die Probleme
einer unaufrichtigen Interessenartikulation ausgeschaltet sind. Allerdings ist
das Verfahren dadurch kollektiv gesehen außerordentlich kostspielig, dass die
Wartezeit für die Individuen gewöhnlich vertane Zeit ist, die von den
Individuen sehr viel besser genutzt werden könnte. Bei der Messung der Nutzen
durch Zahlungsbereitschaft sind dagegen die Kosten der Präferenzermittlung sehr
gering und bestehen eigentlich nur in der Zeit, die zur Ermittlung des
Meistbietenden erforderlich ist. "Der Ökonom wird feststellen, dass verschiedene
Formen des Ausdrucks von Präferenzstärke sich beträchtlich in Bezug auf ihre
Effizienz unterscheiden. Der ungehinderte Tausch ist verhältnismäßig kostenarm,
aber einige Methoden messen die Stärke von Präferenzen eigentlich durch die
Mengen an Ressourcen, die jemand aufbraucht, um damit seine Präferenzen
auszudrücken." [[43] WINCH 1971, S.185.]
Zwei weitere Probleme des Nutzenindikators "Wartebereitschaft" seien abschließend noch erwähnt.
Zum einen muss
sichergestellt werden, dass die Wartebereitschaft bei allen Individuen auf die
gleiche Gütermenge bezogen wird, ähnlich wie bei der Nutzenmessung durch
Zahlungsbereitschaft diese auch pro erworbene Gütereinheit gerechnet wird. Wenn Individuum
A z. B. für 1 Stunde Wartezeit 10 Eintrittskarten erwirbt, {-232-} während Individuum B für die gleiche Wartezeit nur
1 Karte
erhält, so beträgt die Wartezeit pro Karte bei A nur einen Bruchteil der
Wartezeit von B. Damit wäre aber die ganze Nutzenmessung durch Wartebereitschaft
über den Halfen geworfen. Gewöhnlich werden deshalb Mengenbeschränkungen
eingeführt, die z. B. festlegen, dass jeder Wartende nur eine Karte erhalten
kann. [[44] Dadurch kann auch ein Weiterverkauf der Karten eingeschränkt werden, da die Verteilung ja gerade nicht an
den Meistbietenden erfolgen sollte.]
Ein weiteres Problem stellt die Möglichkeit eines
erfolglosen Anstehens dar, bei dem das Individuum die Wartezeit umsonst geopfert
hat, da der Vorrat bereits verteilt war, bevor es an die Reihe kam.
Sofern solche Risiken des erfolglosen Anstehens bestehen, steigen die Kosten des
Verfahrens noch weiter an und können dann im Prinzip sogar den Gesamtnutzen
durch die Verteilung der Güter übersteigen. Es müssen also geeignete Mittel
gefunden werden, um ein aussichtsloses Warten zu verhindern, z. B. durch die
Information der Wartenden über die zur Verteilung kommende Gesamtmenge an Gütern
und die Höchstzuteilung pro Wartenden.
2. Arbeitsbereitschaft als Nutzenmaß
"Sofern sich eine solche Nutzenfunktion exakt ermitteln lässt, d. h.
dass bestimmten Einkommen
bestimmte Nutzen zugeordnet werden können, so müsste sich aus diesen
Nutzenmessungen auch eine Verteilung des Volkseinkommens auf die einzelnen
Menschen ermitteln lassen, die zu einem Nutzenmaximum, also dem
Wohlstandsmaximum führt." [[46] ZINN 1970b, S.112. Dieses
Nutzenmaximum wäre dann
erreicht, wenn für alle Individuen der Grenznutzen einer zusätzlichen Mark
gemessen in Arbeitszeit gleich ist. Allerdings wird dabei von einem konstanten
Volkseinkommen ausgegangen, d. h. es wird vorausgesetzt, dass sich aus der Art
der Einkommensverteilung keine Rückwirkungen auf die Höhe des Volkseinkommens
ergeben. S. dazu unten § 82.]
Bei der Verwendung der Arbeitsbereitschaft der Individuen
als Nutzenindikator ergeben sich im Prinzip die gleichen Schwierigkeiten wie bei
der Wartebereitschaft. Die Unterschiede in der Dauer, die Individuen bereit
sind, für ein bestimmtes Einkommen zu arbeiten, müssen nicht unbedingt einen unterschiedlichen {-234-} Nutzen des Einkommens anzeigen. Sofern es sich um
verschiedenartige Arbeiten handelt, ist die Vergleichbarkeit überhaupt nicht
gegeben.
Aber selbst dieselbe Arbeit kann verschiedenen Individuen je nach ihrer
körperlichen und nervlichen Konstitution, nach ihren Interessen und Fähigkeiten
unterschiedlich große Mühen oder Freuden bereiten. So mag für den einen eine
Schreibtischtätigkeit angenehm sein, während der andere das Stillsitzen und die
reine Kopfarbeit nur schwer erträglich findet. Die Kosten derselben Arbeit
können also für verschiedene Individuen unterschiedlich groß sein, wodurch eine
Verwendung der Arbeitszeit als interpersonal vergleichbarer Nutzenmaßstab
problematisch wird.
Zum andern spielt auch hier die alternative Verwendung der
Zeit eine Rolle in Bezug auf das Maß an Arbeitsbereitschaft der Individuen. Wenn
Individuum A sich in seiner Freizeit sowieso langweilen würde während Individuum
B gerne seinem Hobby nachgehen würde, so mag deswegen die Arbeitsbereitschaft
von A höher sein als die von B, ohne dass deshalb auch der individuelle Nutzen
des Einkommens für A höher sein muss als für B. Für A ist vielleicht nur der
negative Nutzen der Arbeitszeit niedriger, die hier als Nutzenindikator genommen
wird.
Hier tritt ein Problem auf, das
bei allen Verfahren besteht, die aufgrund von Wahlhandlungen der Individuen den
Nutzen bestimmen wollen. "Wenn ein Individuum die Situation x gegenüber der
Situation y vorzieht, während ein anderes Individuum y gegenüber x vorzieht, ist
dies so, weil das erstere Individuum der Situation x einen höheren Nutzen
zuschreibt oder weil es der Situation y einen niedrigeren Nutzen zuschreibt {-235-} als es das letztere Individuum tut - oder ist dies
vielleicht das Ergebnis beider Faktoren gleich?" [[47] HARSANYI 1955, S.279.]
Wenn ein bestimmtes Gut wie
Freizeit bzw. Arbeitszeit als Nutzenindikator genommen wird, so können
die Unterschiede zwischen den Individuen in Bezug auf einzelne Alternativen
einen individuell unterschiedlichen Nutzen der Alternativen anzeigen. Sie können
jedoch auch einen unterschiedlichen Nutzen des als Nutzenindikator genommenen
Gutes, in diesem Fall der Arbeitszeit, anzeigen oder aber einen
unterschiedlichen Nutzen beider Elemente.
Auch die Arbeitszeit hat - ähnlich wie
andere Güter - keinen konstanten Grenznutzen. Die 10. Arbeitsstunde
hintereinander wird einem Individuum schwerer fallen als die 1. Arbeitsstunde,
und dem einen Individuum fällt eine bestimmte Arbeit generell leichter als einem
anderen. Insofern kann die Bereitschaft der Individuen, Arbeitszeit für die
Realisierung der zur Entscheidung stehenden Alternativen einzusetzen, ebenfalls
höchstens eine Annäherung an einen interpersonal vergleichbaren Nutzenmaßstab
darstellen. Ob diese Annäherung im Einzelfall besser ist als bei anderen
vorgeschlagenen Nutzenindikatoren, wäre unter dem Gesichtspunkt des oben
entwickelten Nutzenvergleichs durch Identifikation mit dem andern in Form eines "Sich-hineinversetzens-in-den-andern" näher zu prüfen. {-236-}
3. ZINNs Begründung für die Zeit als Nutzenmaß
Zum andern kann man im allgemeinen
davon ausgehen, dass für jeden Menschen die Verkürzung seiner Lebenszeit einen
ähnlich großen negativen Nutzen bedeutet und eine vergleichbare Beeinträchtigung
seiner Interessen darstellt. Allerdings stellt sich auch hier bereits für einen
unheilbar Leidenden oder einen zu lebenslänglicher Haft Verurteilten das Problem
anders, wie man schon aus der Tatsache des Freitodes schließen kann. Denn bei
der Wertschätzung ihres Weiterlebens durch die Individuen spielt natürlich auch
die Art des Lebens, das sie zu erwarten haben, eine Rolle. [[49] ZINN leitet die Annahme, "dass alle Menschen
prinzipiell ihr Leben gleich stark lieben", aus der generellen Ähnlichkeit der
Individuen ab. S. ZINN 1970a, S.75f.]
Allerdings kann ein Opfer an Lebenszeit nicht unmittelbar
gleichgesetzt werden mit einem Opfer an Freizeit durch Arbeit, wie es ZINN tut,
wenn er {-237-}ausführt: "Die endliche Dauer des Lebens macht es sinnvoll,
die Arbeit als Hingabe von Lebenszeit zu verstehen." [[50] ZINN 1970a, S.75f.] Denn unter
bestimmten Umständen kann Freizeit "langweilig" sein und Arbeit befriedigen.
Die
Problematik einer solchen Gleichsetzung von Arbeitszeit mit verlorener
Lebenszeit kann man sich verdeutlichen, wenn man sich einmal die hypothetische
Frage vorlegt, ob man lieber eine um die Arbeitszeit verkürzte Lebensdauer ohne
Arbeit will oder lieber eine normale Lebensdauer unter Einschluss der
Arbeitszeit. Nach der Konstruktion von ZINN müsste man gegenüber beidem
indifferent sein.
Auch die Ableitung der Lebenszeit als Nutzenmaß aus dem
Gleichheitsprinzip, wie sie ZINN vornimmt, ist nicht unproblematisch. "Unterstellt man als Verfassungsgrundsatz, ja als weltweit anerkannte Norm, dass
alle Menschen gleichwertig sind .., so gilt dies auch für die Leben der Individuen. .. Die Wertgleichheit
der Menschenleben impliziert auch die Wertgleichheit aller einzelnen
Lebensstunden verschiedener Menschen. .. (Daraus, E.W.) ergibt sich, dass als
plausibles Nutzenmaß die Zeit, genauer die Lebenszeit, verwendet werden müsste."
[[51] ZINN 1970b, S.113.]
Mit dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen in seiner
allgemeinen Form sind sicherlich auch andere Entscheidungsverfahren logisch
vereinbar. Man denke etwa an die Auffassung, dass dem Gleichheitsprinzip dadurch
entsprochen wird, dass alle Individuen gleiche Rechte haben, z. B. das gleiche
Recht auf Erwerb und Veräußerung {-238-} von privatem Eigentum. Aus der ganz allgemeinen Form
des Gleichheitsprinzips lassen sich die verschiedensten Entscheidungsverfahren
logisch "deduzieren", je nachdem in Bezug auf welchen Aspekt man Gleichheit
fordert.
Trotz dieser kritischen Einwände zur Verwendung der
Arbeitszeit als interpersonal vergleichbaren Nutzenmaßstab erscheint jedoch ein
solcher Maßstab dann geeigneter als der Geldmaßstab, wenn das Geldvermögen der
Individuen sehr unterschiedlich ist. Denn dann kann man in der Regel davon
ausgehen, dass Individuen durch dieselbe Arbeit vergleichbareren Nachteilen
unterliegen als durch die Zahlung derselben Geldsumme. {-239-}
Die Nutzenterminologie ist im Zusammenhang der normativen
Methodologie nichts anderes als eine geeignete Ausdrucksweise, um die Willens-
bzw. Interessenstruktur von Individuen möglichst genau wiederzugeben. Zu sagen,
dass eine Alternative für ein Individuum einen größeren Nutzen hat als eine
andere, bedeutet also nichts anderes, als dass die Realisierung dieser
Alternative dem Willen des Individuums mehr entspricht als die Realisierung der
andern Alternative.
Aus diesem Grunde wäre es auch unzulässig, "Nutzen"
definitorisch gleichzusetzen mit irgendwelchen Empfindungen des
Glücks oder der Lust. Der Satz: "In diesem Zustand empfinde ich Glück" ist nicht
gleichbedeutend mit dem Satz: "Ich will diesen Zustand".
Das eine Mal handelt es
sich um die Beschreibung eines Gefühls, während der andere Satz Ausdruck
eines Willens ist. Insofern impliziert der Gebrauch des Begriffs "Nutzen" hier
auch nicht den ethischen Hedonismus, der behauptet, dass nur die Empfindungen
des Glücks oder der Lust Nutzen haben können. In dem hier gemeinten Sinn kann
alles individuellen Nutzen haben, was von einem Individuum gewollt wird. [[1] Zum Hedonismus s. z. B. FRANKENA
1972, S.102f.] {-240-}
Die Beziehung zwischen der Beschreibung einer Empfindung
und dem Ausdruck eines Willens ist also nicht logischer Natur. Allerdings kann
sich aus einer solchen Empfindung ursächlich ein Wollen ergeben, wenn
z. B. die empirische Regelmäßigkeit besteht, dass alle Menschen bzw. bestimmte
Gruppen von Menschen Zustände, die ihnen Glücksgefühle bereiten, gegenüber
anderen vorziehen. Dies ist jedoch im Prinzip eine empirische Frage und die
These des psychologischen Hedonismus: "Alle Menschen streben nur nach Glück"
kann dann im Prinzip an der Erfahrung scheitern. [[2] Das setzt allerdings
voraus, dass die Variable "Glück" unabhängig von der Variable "Wille" definiert
wird, sodass beide unabhängig voneinander messbar sind.] Demgegenüber wäre der Satz: "Alle Menschen streben nach größtem Nutzen" rein tautologisch; er enthält nur
die Definition des Nutzens als das, was die Individuen wollen, und ist deshalb
per Definition wahr.
Auf der allgemeinen Ebene bedeutet der Satz: "Die
Alternative x hat einen größeren Gesamtnutzen als die Alternative y"
entsprechend: "Die Realisierung der Alternative x entspricht dem solidarischen
Willen aller Individuen mehr als die Alternative y". Die explizite Norm: "Alternative x soll realisiert werden!" ergibt sich dann aus diesem Willensausdruck, das "Sollen" ergibt sich also aus einem "Wollen". Damit ist
auch dem möglichen Vorwurf begegnet, dass hier unzulässigerweise aus
Tatsachenaussagen logisch-deduktiv auf Sollensnormen geschlossen wird und damit
das HUMEsche Gesetz verletzt wird. [ [3] Vgl. hierzu die Kritik von MOORE an den
Utilitaristen in MOORE 1970, S.108ff. sowie die Kommentare in FRANKENA 1939 und
WARNOCK 1966, S .19ff.] {-241-}
Der Übergang von einem Willensausdruck zu einer
Sollensforderung bedeutet dabei nur eine Umformulierung, wie bereits oben
dargelegt wurde. Statt zu sagen: "Ich will, dass du x tust!" kann man auch
sagen: "Tue x!" bzw. "Du sollst x tun!". Dabei wird nur die normsetzende
Instanz nicht noch einmal ausdrücklich erwähnt, der Sinn ist jedoch derselbe.
[[4] S. oben § 4] Es findet also im Argumentationsgang kein logischer Schluss vom "Sein"
auf das "Sollen" statt. Wenn der Wille der Individuen ermittelt wird und gemäß
dem Solidaritätsgebot zu einem Gesamtwillen zusammengefasst wird, der
schließlich in eine explizite Norm umformuliert wird, so bildet von Anfang an
ein Sollens-Element in Form der individuellen Willen den Ausgangspunkt. Der
Anschein eines naturalistischen Fehlschlusses entsteht hier vor allem dadurch,
dass Nutzenbestimmungen als gewöhnliche indikative Feststellungen - jedenfalls der
grammatischen Form nach - auftreten, aus denen dann Soll-Sätze abgeleitet werden.
Eine Nutzenbestimmung ist jedoch eine Feststellung über einen Willensausdruck ebenso wie das Ergebnis eine Feststellung über die Gültigkeit einer
Norm ist.
Diese Forderung hat insofern eine gewisse Berechtigung, als
durch soziale Faktoren die Auffassungen der Individuen von ihren
Interessen beeinflusst werden und sie möglicherweise ein falsches
Interessenbewusstsein erhalten, z. B. wenn sie dem Einfluss manipulativer
Propagandaapparate ausgesetzt werden, die mit Unterdrückung oder Verfälschung
von Tatsachen und Argumenten, mit schönfärberischer oder herabsetzender
Rhetorik, mit dem gezielten Appell an vorhandene Vorurteile und Ideologien und
mit allen sonstigen Mitteln der modernen Massenbeeinflussung und Erziehung die
Individuen von der Erkenntnis ihrer wirklichen Interessen abhalten wollen.
Eine solche Verfälschung des
subjektiven Interessenbewusstseins durch die Erzeugung unqualifizierter
Interessenartikulationen wird jedoch durch die Forderung nach einer
Qualifikation der individuellen Interessen und durch die Forderung nach
intersubjektiver Nachvollziehbarkeit der individuellen Interessen korrigiert.
Zum Ausgangspunkt werden ja nicht die Interessen genommen, die die Individuen zu
haben meinen, sondern diejenigen Interessen, die sie bei Kenntnis der
Alternativen und ihrer Folgewirkungen sanktionsfrei artikulieren würden. [[5] S. Dazu unten Kap.
10] {-243-}
Wenn jedoch die qualifizierten Interessen der Individuen
zur Grundlage der Normenbestimmung genommen werden, so ergibt sich darüber
hinaus aus der Tatsache ihrer sozialen Beeinflussung keinerlei Grund, nicht die
individuellen Interessen zum Ausgangspunkt zu nehmen, denn durch die soziale
Abhängigkeit werden diese ja nicht weniger real. Wenn jemand z. B. durch die
schwere und schlechtbezahlte Arbeit, die er unter einem bestimmten
Wirtschaftssystem zu leisten hat, ein Interesse an einem alternativen
Wirtschaftssystem entwickelt, so ist nicht einzusehen, warum nicht auch dies
individuelle Interesse bei der Bestimmung einer argumentativ Konsensfähigen
Wirtschaftsordnung berücksichtigt werden soll. [[6] Zur bewussten Gestaltung der individuellen
Interessen durch soziale Veränderungen s. u. § 50.]
Übrigens bedeutet die durch das Solidaritätsgebot
geforderte Bezugnahme auf die Interessen der Individuen keineswegs, dass es sich
dabei um völlig disparate und unterschiedliche Interessen atomisierter
Individuen handeln muss. Sofern es Gruppen, Klassen oder Schichten von
Individuen gibt, die eine ähnliche Interessenlage entwickeln - und dies ist
immer dann zu erwarten, wenn sie in ähnlichen Lebensumständen leben oder gelebt
haben - , so werden über die individuellen Interessen auch die Interessen
dieser Klassen und Schichten erfasst.
Deutet man die Tatsache, dass die Interessen der Individuen
von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig sind, jedoch in der Weise, dass die
individuellen Interessen mit diesen gesellschaftlichen Verhältnissen immer im
Einklang stehen müssen, so wird {-244-}eine solche These falsch und entspricht keineswegs mehr den
Tatsachen, wie die überall zu beobachtenden Formen von Gesellschaftskritik,
Opposition oder Revolution gegen bestehende Ordnungen zeigen. Dass bestimmten
Lebensumständen bestimmte Interessenlagen "entsprechen", bedeutet also noch
nicht, dass sie sich damit in Übereinstimmung befinden.
Wer für die Bestimmung gültiger Normen einen andern
Ausgangspunkt nehmen will als die wirklichen Interessen der Individuen, gerät
unvermeidlich in ein Dilemma. Denn aus den gesellschaftlichen Verhältnissen als
solchen in ihrer reinen Faktizität lässt sich aus logischen Gründen keine Norm
ableiten, da dies einen unzulässigen Schluss vom Sein auf das Sollen beinhalten
würde. [[7] s. o. § 24.]
Bezugspunkt für die Ableitung von Normen muss also aus logischen Gründen
ein irgendwie gearteter Wille sein. Wenn man diesen Willen nun z. B. in einem
über den Individuen stehenden "Geschichtsplan" sieht, der der Entwicklung der
menschlichen Gesellschaft zugrunde liegt - etwa nach Art des HEGELschen
Weltgeistes oder seiner säkularisierten Nachfolger - , so werden dadurch
die Bedingungen eines argumentativen Konsens der Individuen zerstört. Denn wo
ein Individuum in seinem qualifizierten eigenen Willen keine Berücksichtigung
findet und damit nur Gehorsam gegenüber der historischen "Aufgabe" gefordert
wird, geht es zumindest potentiell um eine gewaltsame und nicht um eine
argumentative Auseinandersetzung. [[8] s. o. § 13]Wenn jedoch behauptet wird, dieser in {-245-} der Menschheitsgeschichte enthaltene "Plan" oder "Sinn"
decke sich in Wahrheit mit den wirklichen Interessen der Individuen, so entfällt
jeder Grund, nicht von den individuellen Interessen auszugehen und stattdessen sich auf den Willen überindividueller
Wesenheiten zu beziehen.
Andererseits würde eine solche Selektion von zulässigen und
unzulässigen Interessen bereits die Gültigkeit von Werturteilen und Normen
voraussetzen, die ja erst durch die solidarische Zusammenfassung der
individuellen Interessen bestimmt werden sollen.
Dies Dilemma ist jedoch nur scheinbar, denn die
Berücksichtigung "bösartiger" Interessen wie Mordlust oder Missgunst hat
keinerlei negative Auswirkungen auf die Entscheidung über die beste
Norm. Wenn die Bösartigkeit von Interessen gerade dadurch bestimmt ist, dass sie
auf die Schädigung und den Nachteil anderer Individuen gerichtet sind, so {-246-} sind Alternativen, die solchen bösartigen Interessen
entsprechen, von vornherein zur Aussichtslosigkeit verurteilt, da der
individuelle Nutzen des "bösen" Individuums durch den Schaden der betroffenen
Individuen in jedem Falle aufgehoben wird. Anders ausgedrückt: Wenn sich bösartige
Interessen gerade dadurch auszeichnen, dass durch ihre Realisierung mehr Schaden
als Gutes angerichtet wird, so kann sich aus ihrer Berücksichtigung niemals eine
Entscheidung zugunsten ihrer Befriedigung ergeben, denn der Gesamtnutzen der
ihnen entsprechenden "bösartigen" Alternativen muss negativ sein.
Wegen dieser Sachlage kann man aufgrund praktischer
Erwägungen solche "bösartigen" Interessen oft von vornherein unberücksichtigt
lassen, zumindest sofern man sicher sein kann, dass der Nutzen ihrer
Befriedigung geringer ist als der Schaden, der anderen dadurch zugefügt wird.
Auf keinen Fall dürfen jedoch Interessen von der Berücksichtigung ausgeschlossen
werden, weil man sie aufgrund vorgängiger moralischer Urteile als "niedrig", "unsittlich" oder "schlecht" abgestempelt hat. Dies muss sich immer erst durch
ihre Unvereinbarkeit mit den überwiegenden Interessen der andern Individuen
erweisen.
Bei der Bestimmung des wirklichen Interesses eines
Individuums muss also der Fehler vermieden werden, dass unbemerkt normative
Prämissen eingeführt werden. Dies wäre z. B. der Fall, wenn man ein normatives Menschenbild voraussetzt, bei dem zwischen "höheren" und "niederen"
Bereichen der Persönlichkeit unterschieden wird. Die höheren geistigen Bereiche
der Persönlichkeit bekommen dann etwa den Vorrang gegenüber den niederen
sinnlichen Bereichen{-247-} und enthalten die "eigentlichen" oder "wesensmäßigen"
Interessen des Individuums. [[9] Zur Kritik des normativen Essentialismus und Finalismus s.o.
§ 24/2.]
Eine andere Form, um unzulässiger Weise in die Bestimmung
der individuellen Interessen normative Prämissen einzuführen, besteht in der
Abqualifizierung bestimmter Wünsche als "krankhaft" oder pathologisch.
Dass bestimmte Bedürfnisse vielleicht nicht mit dem Gesamtinteresse und dem
System gültiger Normen vereinbar sind, darf keine Rolle bei der Beantwortung der
Frage spielen, ob sie im Eigeninteresse eines bestimmten Individuums sind.
Ebenso darf es keine Rolle spielen, dass diese Bedürfnisse vielleicht
ungewöhnlich oder "unnormal" sind. Damit wäre der Streit um gültige
Normen nur auf die Ebene verdeckt normativer Begriffe wie "Krankheit" oder "Normalität" verschoben.
Die aus dem Solidaritätsprinzip ableitbare Forderung nach
Berücksichtigung aller individuellen Interessen, sofern sie qualifiziert sind
und vom Individuum selber wirklich gewollt werden können, entspricht der "Aufforderung zur Offenheit der Beratung" bei SCHWEMMER, die lautet: "Keine vorgebrachte Begehrung soll von der Beratung ausgeschlossen werden! Oder:
Jede vorgebrachte Beratung soll zur Beratung zugelassen werden!" [[10] SCHWEMMER 1971, S.107. Terminologisch
entspricht eine 'Beratung' bei SCHWEMMER etwa einer 'normativen Argumentation',
während eine 'Begehrung' einem 'individuellen Interesse' entspricht.]{-248-}
Aufgrund des Solidaritätsprinzips kann es keine Interessen
geben, die als solche schlecht sind. Sie können es nur insofern sein, als ihre
Befriedigung die Interessen anderer Individuen beeinträchtigt, wodurch eine
Verringerung des erreichbaren Gesamtnutzens herbeigeführt würde. Insofern
entsprechen solche "unharmonischen" Interessen nicht dem Gesamtinteresse. "Die Menschen begehren allerhand Dinge, und an sich genommen sind alle Begierden
gleichberechtigt, d. h. es besteht kein Grund, die Befriedigung der einen
derjenigen der andern vorzuziehen. Betrachten wir aber nicht eine einzelne
Begierde, sondern eine Gruppe von solchen, so besteht der Unterschied, dass
zuweilen alle Begierden einer Gruppe befriedigt werden können, während in andern
Fällen die Befriedigung von einigen aus der Gruppe mit derjenigen von andern
unvereinbar ist. Wenn A und B sich gegenseitig heiraten möchten, so können beide
haben, was sie wünschen; aber wenn sie einander zu töten begehren, so kann
höchstens einer an sein Ziel gelangen. ... Daher ist das erste Paar von Begierden
in sozialer Beziehung dem zweiten vorzuziehen." [[11] RUSSELL 1971, S.193]
Dieser Gesichtspunkt ist vor allem von Bertrand RUSSELL in
seinen ethischen Schriften betont worden. [[12] RUSSELL sagt von sich selber: "Der Wunsch, Begehren
in Einklang miteinander zu bringen, ist das Hauptmotiv meiner politischen und
sozialen Auffassungen, von der über die Kindererziehung bis zu der über den
internationalen Staat." RUSSELL 1971, S.203. ] "Unter Entlehnung eines
Leibnizschen Ausdrucks bezeichne ich eine Anzahl von Wünschen als 'miteinander
verträglich' (compossible), wenn sie sämtlich durch denselben Zustand befriedigt
werden können; wenn sie sich nicht miteinander vertragen, so bezeichne ich sie
als miteinander unvereinbar. ... Die Wünsche derer, die einander wohlwollen, sind
miteinander verträglich; diejenigen aber, die sich gegenseitig übelwollen, sind
miteinander unvereinbar. Es versteht sich, dass ein größeres Gesamtmaß an
Wunschbefriedigung dort erreicht wird, wo Wünsche miteinander verträglich sind
als wo sie unvereinbar sind." [[13] RUSSELL 1956, S.61f.]
Da RUSSELL von der These ausgeht: "Ein Geschehen ist besser
als ein anderes, wenn es mehr Wünsche oder {-250-} einen stärkeren Wunsch befriedigt" [[14]RUSSELL 1956, S.57], so ergibt sich
zusammen mit dem oben gesagten die Regel: "Handle so, dass du eher harmonische
als widerstreitende Begierden erzeugst. Diese Regel gilt für das ganze Gebiet,
auf das sich der Einfluss eines Menschen erstreckt: sein eigenes Inneres, seine
Familie, seine Stadt, sein Land und sogar die Welt als Ganzes, wenn er imstande
ist, sie zu beeinflussen. Es wird zwei Hauptmethoden zur Erreichung dieses
Zieles geben: erstens solche soziale Einrichtungen herzustellen, dass die
Interessen der verschiedenen Individuen unter ihrer Herrschaft so wenig wie
möglich kollidieren; zweitens die Individuen derart zu erziehen, dass ihre
Begierden unter sich und mit den Begierden der Nachbarn harmonieren." [[15]RUSSELL
1971, S.195.]
Bei dieser Betrachtungsweise werden also die individuellen
Interessen als veränderbar betrachtet, und es wird gefragt: Welche politischen,
ökonomischen und pädagogischen Bedingungen müssen geschaffen werden, um die
Ausbildung miteinander möglichst verträglicher und gleichzeitig zu befriedigender Interessen zu
fördern und dadurch einen Zustand höheren Gesamtnutzens zu erreichen.
Wenn gesagt wurde, dass es die Aufgabe der Erziehung und
der politischen Gestaltung der sozialen Institutionen ist, unvereinbare
Interessen zu beseitigen und möglichst harmonische Interessen zu erzeugen, so
ist dies Ziel allerdings nicht dadurch zu erreichen, dass {-251-}gegenüber unharmonischen Interessen nun in den betreffenden
Individuen Gegenmotive wie Schuldgefühle oder Strafängste aufgebaut werden. Denn
dadurch bleiben die unverträglichen Interessen ja als solche erhalten und werden
nur in das Innere des Individuums zurückgedrängt. Der Konflikt ist also nur in das
Individuum hineinverlegt worden, aber nicht beseitigt worden.
Dementsprechend
fordert SCHWEMMER: "Auch die Konflikte zwischen den Zwecken einer Person -
'innere Konflikte' - sollen dabei mitberücksichtigt werden: sonst würde die
Aufgabe der Konfliktbeseitigung zu einer sozialen Befriedung degenerieren, die
dadurch zu lösen wäre, dass man die sozialen Konflikte zu psychischen
verinnerlicht und so einen äußeren 'Frieden' herstellt." [[16] SCHWEMMER 1973, S.78.] Gefordert ist also
nicht eine Verdrängungspädagogik, die die nicht mit dem Gesamtinteresse
vereinbaren individuellen Interessen nur unterdrückt und aus dem Bewusstsein
verdrängt, sondern eine Erziehung, die die Ausbildung veränderter harmonischer
Interessen der Individuen bewirkt.
Ähnlicher Meinung sind auch BIRNBACHER und HOERSTER: "Nur
über eine zentrale Unzulänglichkeit der utilitaristischen Ethik besteht so gut
wie Einigkeit: dass sie unvermögend ist, Prinzipien der Gerechtigkeit,
insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit, aus sich heraus zu begründen. Das
Prinzip der Nutzenmaximierung sagt nichts über die Kriterien der Nutzenverteilung. [[18]
BIRNBACHER/HOERSTER 1976, S.202. Siehe auch BARRY
1960/61.]
Nicht zuletzt dies Problem der Verteilungsgerechtigkeit hat
auch RAWLS veranlasst, sich gegen das utilitaristische Modell der
Nutzenaggregation zu wenden und ausdrücklich eine Theorie der Gerechtigkeit {-253-} zu entwickeln: "Ein ins Auge fallender Zug der
utilitaristischen Sicht der Gerechtigkeit besteht darin, dass es keine Rolle
spielt, ausgenommen indirekt, wie diese Summe von Befriedigungen auf die
Individuen verteilt wird. ... Die richtige Verteilung ist in jedem Fall die,
welche die größte Befriedigung ergibt. ... Deshalb gibt es im Prinzip keinen
Grund, warum der größere Gewinn einiger nicht die geringeren Verluste anderer
kompensieren könnte, oder was wichtiger ist, warum die Verletzung der Freiheit
weniger Individuen nicht gerechtfertigt sein könnte durch ein von vielen
geteiltes größeres Gutes." [[19] RAWLS 1973, S. 26. Seine stattdessen entwickelte
Theorie der Gerechtigkeit kann hier nicht diskutiert werden. S. dazu ausführlich
BARRY 1973.]
Was die mögliche Verletzung der Freiheit einzelner
Individuen zum Zwecke einer Erhöhung des Gesamtnutzens betrifft, so besteht
dieser Einwand gegen den klassischen Utilitarismus wahrscheinlich zu Recht,
nicht jedoch gegenüber der hier entwickelten Theorie. Bei dieser ergibt sich das
Prinzip der Maximierung des Gesamtnutzens als eine Präzisierung des
Solidaritätsgebots. Dies wiederum leitet sich ab aus der grundlegenden Forderung
des Intersubjektivitätsgebots, nach einem argumentativen Konsens über Normen
zu suchen.
Wo jedoch durch eine Norm jene grundlegenden Freiheiten des
Individuums verletzt werden, die überhaupt erst die Bedingung für einen
argumentativen Konsens darstellen, wie z. B. die Freiheit der
Meinungsäußerung, da ist das Intersubjektivitätsgebot verletzt, und es kann
keinerlei Rechtfertigung dieser Norm mehr geben - auch nicht mit dem Hinweis {-254-} auf eine Maximierung des Gesamtnutzens - , denn durch die
Verletzung der Argumentationsbedingungen ist die Allgemeingültigkeit der Norm
im wahrsten Sinne des Wortes "indiskutabel" geworden. [[20] S. oben §
20] Das Problem der "unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Individuums"
ist bei dem hier vorgetragenen Ansatz also durch die Einbindung des
Nutzenkalküls in das Intersubjektivitätsgebot gelöst worden.
Damit ist jedoch noch nicht das generelle Problem der
möglicherweise ungerechten Verteilung der individuellen Nutzen gelöst, das sich
ja nicht nur auf unmittelbar aus dem Intersubjektivitätsgebot ableitbare Rechte
bezieht. Seine Plausibilität gewinnt dieser Einwand aus der Betrachtung des
Nutzens in Analogie zu dinglichen Gütern, die auf die Individuen verteilt
werden. Bei solchen Gütern, wie z. B. Brot, ist es offensichtlich, dass man
alternative Situationen nicht nur danach bewerten kann, wie viel von diesem Gut
insgesamt vorhanden ist, sondern auch danach, wie diese Gesamtmenge auf
die Individuen verteilt ist. [[21] In der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie wurde
versucht, den Verteilungsaspekt auszuklammern, doch gab dies Anlass zur Kritik.
S. dazu unten § 74.]
Demgegenüber ist "Nutzen" jedoch überhaupt
kein Gut sondern eine Bewertungsdimension und verhält sich in seiner Größe auch
nicht proportional zu irgendwelchen physischen Gütermengen. [[22] Vgl. dazu
oben § 44.]. Insofern
kann man höchstens bildlich von einer Nutzen" menge" sprechen, die auf die
Individuen "verteilt" wird, so {-255-} als sei sie eine Gütermenge. Was ist aber dann mit einer "ungerechten Nutzenverteilung" gemeint?
Es kann einmal damit gemeint sein, dass die Realisierung
derjenigen Alternative mit dem höchsten Gesamtnutzen bestimmten Individuen u. U.
beträchtliche Vorteile bringt, während andere Individuen davon große Nachteile haben. Diese starke Veränderung der individuellen
Nutzenniveaus gegenüber dem Status quo in entgegen gesetzte Richtungen würde
danach eine Alternative "ungerecht" und damit normativ unakzeptabel machen. Eine
solche Einschränkung der normativ zulässigen Alternativen auf solche, die eine
relativ ähnliche Veränderung der Nutzenniveaus beinhalten, erscheint jedoch
problematisch.
Das kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wenn z. B. einige
Leute gemeinsam mit dem Auto zu einem Fest fahren, so ist u. U. derjenige gegenüber den
andern im Nachteil, der das Auto nach Hause fahren muss und deshalb keinen
Alkohol zu sich nehmen darf. Trotzdem wird man nicht annehmen, dass es eine
normativ akzeptablere Lösung wäre, wenn nun alle auf Wein oder Bier verzichten,
um in gleicher Weise schlechter gestellt zu werden.
Solche Situationen, wo irgendeiner ein Opfer bringen muss,
um für viele andere einen großen Vorteil zu bewirken, sind relativ häufig; und
es hält uns auch kein elementares Gerechtigkeitsempfinden davon ab, dies
besondere Opfer für gerechtfertigt zu halten. Wir empfinden es im Gegenteil eher
als eigentlich moralische Haltung, wenn jemand einsieht, dass das eigene Opfer
wegen des vergleichsweise größeren Nutzens des andern Individuen gerechtfertigt
ist. Man denke etwa an einen Kapitän, der beim Schiffbruch sein eigenes Leben
opfert, um das vieler Passagiere zu retten. {-256-}
Allerdings bedeutet dies nicht, dass solche aufgrund des
größeren Gesamtnutzens gerechtfertigten Opfer systematisch nur bestimmten
Individuen auferlegt werden dürfen. Dies wäre eine "ungerechte" Behandlung, da
nicht mehr personunabhängig ohne Ansehen der Identität verfahren würde, wie es
vom Solidaritätsprinzip geboten ist. Wenn irgendjemand ein solches Opfer für die
andern auf sich nehmen muss und dieses Opfer für alle Individuen gleich groß ist
und es deshalb allen in gleicher Weise zugemutet werden kann, so folgt daraus ja
noch nicht, dass ein bestimmtes Individuum dies Opfer zu tragen hat. In
einem solchen Fall wäre eine solidarische Interessenberücksichtigung z. B.
dadurch gewährleistet, dass derjenige ausgelost wird, der das Opfer übernehmen
soll.
Weiterhin kann mit einer "ungerechten Nutzenverteilung"
gemeint sein, dass zwischen den absoluten Nutzenniveaus der Individuen große
Differenzen bestehen, d. h. Dass es den einen Individuen sehr viel besser geht
als den andern Individuen. Der Einwand gegen das Prinzip des größten
Gesamtnutzens würde dann lauten, dass dadurch nur das höchste durchschnittliche
Nutzenniveau angestrebt wird, dass aber die Streuung der
individuellen Nutzenniveaus um diesen Durchschnitt nicht berücksichtigt wird.
[[23]Zum logischen Verhältnis von "Nutzen" und "Nutzenniveau" s.o.
§ 31/1. Bei gegebener Zahl der Individuen hat diejenige Alternative mit dem
höchsten Gesamtnutzen auch immer die höchste Summe der Nutzenniveaus und das
durchschnittlich höchste Nutzenniveau. Probleme ergeben sich allerdings, wenn
man die Zahl der Individuen nicht mehr als konstant betrachtet, sondern z. B.
nach der besten Wachstumsrate der Bevölkerung sucht. S. hierzu kritisch MYRDAL
1963, S.32.]
Dazu ist vorweg festzustellen, dass in bestimmten Fällen {-257-} eine Gleichheit der Nutzenniveaus überhaupt nicht
realisiert werden kann, weil die Bedingungen, die das Wohlergehen bestimmter
Individuen auf ein niedrigeres Niveau drücken, nicht beeinflussbar sind. Wenn
jemand z. B. unheilbar an Krebs erkrankt ist, so kann keine Macht der Welt sein
Nutzenniveau dem Niveau eines gesunden Individuums angleichen. [[24] Etwas anderes wäre es jedoch, wenn von Menschen
veränderbare Bedingungen dafür verantwortlich sind, dass bestimmte Menschen mit
größerer Wahrscheinlichkeit erkranken als andere. Dies ist dann kein "Schicksal"
mehr, sondern Auswirkung einer möglicherweise ungerechten sozialen Ordnung.] Das
Problem der Angleichung der individuellen Nutzenniveaus stellt sich also immer
nur im Rahmen des Menschenmöglichen als Entscheidung zwischen tatsächlich
verfügbaren Alternativen.
Wäre jedoch im Rahmen des Menschenmöglichen eine
Angleichung der individuellen Nutzenniveaus in dem Sinne anzustreben, dass
Alternativen mit einer geringeren Streuung vorzuziehen sind? Diese Frage muss
verneint werden, denn ein solches Verfahren könnte im Endeffekt darauf
hinauslaufen, dass alle Individuen gleich schlecht gestellt
werden. Auch ein das Maximierungskriterium ergänzendes zusätzliches
Gerechtigkeitskriterium erscheint nicht notwendig, weil bei der Bestimmung der
individuellen Nutzen das vorhandene Interesse an einer Angleichung der
Güterausstattung und der Nutzenniveaus bereits berücksichtigt wird.
Dies kann am Problem der Verteilung eines von allen
Individuen begehrten knappen Gutes veranschaulicht {-258-} werden. Um diejenige Verteilungsalternative mit dem größten
Gesamtnutzen zu bestimmen, müssen zuerst die individuellen Nutzen der
verschiedenen Güterverteilungen bestimmt werden. Dabei ist zu beachten, dass die
verschiedenen Alternativen verschiedene Gesamtzustände der Welt darstellen und
dass die Individuen nicht nur ihre eigene Güterausstattung beurteilen. [[25] In der Terminologie von ARROW geht es also um ihre "values" und nicht um ihre "tastes". Während die "tastes" eine isolierte
Bewertung des E i g e n konsums darstellen, drücken die "values" die
Wünschbarkeit der alternativen Gesamtzustände aus. Vgl. ARROW 1963, S.18 sowie
oben § 79.]
In die Bestimmung des individuellen Nutzens einer bestimmten Güterverteilung
geht also nicht nur ein, was das betreffende Individuum selber von dem Gut
bekommt, sondern auch, wieviel im Verhältnis dazu die andern Individuen
bekommen. Wenn ein Individuum A z. B. Wert darauf legt, nicht schlechter
gestellt zu werden als andere, so kann der individuelle Nutzen zweier
Alternativen für A unterschiedlich groß sein, obwohl A bei beiden Alternativen
dieselbe Gütermenge bekommt. Bei der einen Alternative war die Verteilung der
Güter jedoch gleich, während bei der andern Alternative bestimmte Individuen
einen größeren Anteil dieses Gutes bekamen als A. [[26] Zu nutzenmäßigen Interdependenzen zwischen den
Einkommen s. auch BERNHOLZ 1972, S.153f.]
Wenn die Individuen es
stark negativ gewichten, in der Güterausstattung gegenüber andern Individuen
zurückzustehen, so muss sich dies vorhandene Interesse auch im stark gesenkten
Gesamtnutzen von Alternativen mit ungleicher Güterverteilung ausdrücken. In
diesem Fall werden Alternativen {-259-} mit einer großen Streuung der Güterausstattung kaum zu
denjenigen gehören können, die in Bezug auf den Gesamtnutzen gut abschneiden.
Dabei ist anzumerken, dass bei der Bestimmung der
individuellen Nutzen von Alternativen zwar die Güterausstattung der andern
Individuen mit einbezogen wird, sofern z. B. Regungen wie Neid, Stolz,
Unterlegenheitsgefühle, Schadenfreude, Mitleid usw. vorhanden sind. Dabei ist
jedoch immer nur der eigene Nutzen des betreffenden Individuums zu
berücksichtigen und nicht die normative Bewertung der Alternative durch das
Individuum. [[27] Andernfalls wäre FRANKENA recht zu geben, der
meint, dass die Einbeziehung der Verteilung in die individuelle Bewertung zwei
unterschiedliche Fragen durcheinanderbringt, nämlich ob die Verteilung für
jemanden gut ist oder aber ob sie ihm richtig im Sinne von normativ
akzeptabel erscheint. Vgl. FRANKENA 1972, S.61]
Außer durch derartige nutzenmäßigen Interdependenzen
zwischen den Individuen kommt eine sehr unterschiedliche Güterausstattung der
Individuen auch noch dadurch negativ zum Ausdruck, dass der Nutzen pro
Gütereinheit mit wachsender Ausstattung damit sinkt. [[28] Zur Veränderlichkeit des Grenznutzens s. o.
§ 44] Den Gütereinheiten
entsprechen in diesem Fall also sehr unterschiedliche Nutzenbeträge, wodurch die
Tendenz zu einer Angleichung der individuellen Güterausstattung bereits in der
Bestimmung des Gesamtnutzens enthalten ist. Nicht jede Steigerung der Gesamtgütermenge, die die
Individuen konsumieren, bedeutet deshalb auch eine {-260-} Steigerung des Gesamtnutzens. Wenn die zusätzlichen
Gütereinheiten z. B. Individuen zugute kommen, für die der Grenznutzen aufgrund
ihrer reichen Güterausstattung sowieso sehr gering ist, so kann dieser
zusätzliche Nutzen durch den Schaden bei andern in Form ihrer gesteigerten
Gefühle der Benachteiligung mehr als aufgehoben sein, sodass in diesem Fall eine
Steigerung der Gütermenge zu einer Senkung des Gesamtnutzens führt. [[29]
Einen Ansatz zur Berücksichtigung solcher Interdependenzen findet sich in LEIBENSTEIN
1962]
Gesichtspunkte der Gerechtigkeit sind in der Bestimmung der
individuellen Nutzen und damit auch in der Bestimmung des Gesamtnutzens immer
schon dadurch erhalten, dass der Nutzen solidarisch bestimmt werden
muss. Damit eine Situation mit starken Unterschieden in der Güterausstattung der
Individuen einen maximalen Gesamtnutzen besitzt, müssen alle Individuen diese
dann für die beste halten, wenn sie zugleich in der Lage jedes andern
Individuums wären. Wenn sich bei einer Alternative mit maximalem Gesamtnutzen
also Unterschiede in der Güterausstattung bzw. in den Nutzenniveaus der
Individuen ergeben, so sind diese gerechtfertigt durch eine derartig große
Zunahme der gesamten Gütermenge, dass damit trotz dieser Unterschiede - die sich
ja im allgemeinen senkend auf den Gesamtnutzen auswirken - eine Anhebung des
durchschnittlichen Nutzenniveaus der Individuen herbeigeführt wird.
In den vorangegangenen Ausführungen wurde dargelegt, dass
das Kriterium des größten Gesamtnutzens eine Tendenz zur Angleichung der
Nutzenniveaus insoweit enthält, {-261-} als diese Angleichung ein tatsächliches Interesse von
betroffenen Individuen ist und dass außerdem eine Tendenz zur Angleichung der
Güterausstattung bei solchen Gütern besteht, bei denen Sättigungsphänomene und
damit ein sinkender Grenznutzen auftritt. Insofern ist "Gerechtigkeit" auch kein
normatives Prinzip, das mit dem Prinzip des größten Gesamtnutzens in Konflikt
geraten könnte, wie z. B. FRANKENA meint, wenn er feststellt: "Es gibt
mindestens zwei grundlegende, voneinander unabhängige Prinzipien der Moral, das
Prinzip der Wohltätigkeit oder Nützlichkeit, das eine Maximierung des Guten in
der Welt (d. h. genauer des Übergewichts von Gutem gegenüber Schlechtem) fordert,
und das Prinzip der Gerechtigkeit." [[30] Frankena 1972, S.61. Nach ihm ist "Gerechtigkeit"
dann gegeben, wenn die Alternativen "denselben relativen Beitrag" zum Glück der
Individuen leisten. s. FRANKENA 1972, S.62]
Die Schwierigkeit einer solchen Auffassung, die FRANKENA
auch selber sieht, liegt darin, dass man jetzt zwei unabhängige Kriterien für
die Gültigkeit von Normen hat, die u. U. miteinander in Konflikt geraten können,
wenn die eine Alternative den größeren Gesamtnutzen besitzt, während die andere "gerechter" ist. Um dennoch zu einer Entscheidung zu kommen, müssten beide
Kriterien letztlich doch zu einem gemeinsamen Maßstab zusammengefasst werden, und
dabei "mag es sich als unmöglich erweisen, die Bedingungen, unter denen der
Gerechtigkeit der Vorrang gebührt, im einzelnen anzugeben." [[31]
S. FRANKENA 1972, S. 62]
Auch für
BARRY,{-262-} der eine ähnliche Position vertritt, bleibt das normative
Problem letztlich ohne Entscheidung: ".. Wenn wir uns mit Interessen befassen, so
sind dabei zwei miteinander im Konflikt liegende Prinzipien wirksam: ein
aggregatives und ein distributives. Sie arbeiten, so scheint es mir, im
Bewusstsein der meisten Menschen voneinander unabhängig; und wo sie
widersprechende Antworten geben, gibt es kein höheres Prinzip, an das man den
Konflikt verweisen könnte." [[32] BARRY 1960/61, S.191] Dann bleibt jedoch unklar, welche normativen
Fragen mit einer solchen Methodologie überhaupt beantwortet werden können, wenn
diese kein widerspruchsfreies Gültigkeitskriterium entwickeln kann. {-236-}
§ 52 Der Übergang von der intersubjektiven Bestimmung der
individuellen Interessen zu
individualistischen Entscheidungs-Systemen
Wie oben bereits ausgeführt wurde,
ist zur Bestimmung des Gesamtinteresses bzw. des Gesamtnutzens im Prinzip ein
intersubjektiver Konsens über die Interessen jedes Individuums erforderlich.
Damit die individuellen Nutzen überhaupt berücksichtigt werden können, müssen
sie von den Individuen auch erkannt werden können.
Ein solches Verfahren würde
jedoch - vor allem bei größeren Kollektiven - in der Praxis einen ungeheuren
Entscheidungsaufwand bedeuten, da jeder die Interessen jedes andern kennen
müsste, um die kollektive Entscheidung zu bestimmen. Außerdem müsste für den
Fall eines nicht erreichten Konsens über irgendeinen individuellen Nutzen
zusätzlich ein verbindliches Entscheidungsverfahren existieren, um die
kollektive Entscheidung nicht zu blockieren. [[1] Ähnlich muss auch in den
empirischen Wissenschaften bei fehlendem Konsens ein verbindliches
Entscheidungsverfahren existieren, um überhaupt handlungsfähig zu sein. So
müssen z. B. Gerichte auch dann Urteile fällen, wenn nicht zwischen allen
Gutachtern ein Konsens über die Sachlage besteht] {-264-}
Eine wesentliche Vereinfachung der Interessenermittlung
kann nun dadurch erzielt werden, dass die Bestimmung der individuellen Nutzen
den betreffenden Individuen selber überlassen bleibt. In solchen
Entscheidungs-Systemen, die man als "individualistisch" oder "autonom"
bezeichnen kann, sind die Individuen bei der Formulierung ihrer Interessen
völlig autonom. Wenn sie bestimmte Interessen als ihre eigenen artikulieren, so
brauchen sie diese nicht mehr gegenüber andern Individuen zu rechtfertigen.
Hier
besteht ein wesentlicher Unterschied zu solchen Entscheidungs-Systemen, bei
denen die Bestimmung der individuellen Nutzen eine Angelegenheit des
argumentativen Konsens der gesamten Gruppe einschließlich des betreffenden
Individuums selber bleibt, wie z. B. in informell entscheidenden kleinen
Gruppen, wo es selbstverständlich ist, dass die von einem Individuum
vorgebrachten Wünsche auch von andern Individuen diskutiert, abgeschwächt oder
bekräftigt werden können.
Auf der andern Seite sind individualistische bzw.
autonome Entscheidungs-Systeme zu unterscheiden von autoritären
Entscheidungs-Systemen, in denen die Interessen der Individuen von sozialen
Autoritäten oder Eliten gewissermaßen in stellvertretender fürsorglicher
Herrschaft festgestellt werden.
So selbstverständlich die autonome, rein subjektiv
vorgenommene Bestimmung der individuellen Interessen durch die Betroffenen
selber aufgrund der liberalen Tradition auch erscheinen mag, so wenig
ist diese jedoch unter dem Gesichtspunkt einer normativen Methodologie
selbstverständlich. Denn die Möglichkeit eines argumentativen Konsens über
Normen beruht ja auf der solidarischen Berücksichtigung aller individuellen
Interessen. Damit diese jedoch {-265-} überhaupt erfolgen kann, muss zuvor ein argumentativer
Konsens über die Beschaffenheit dieser individuellen Interessen möglich sein.[[2]Entsprechend
gehen in den empirischen Wissenschaften auch nur die intersubjektiv
nachvollziehbaren Wahrnehmungen in das allgemeine Wissen ein.]
Wenn den Individuen in bestimmten Entscheidungs-Systemen völlige Autonomie in
der Bestimmung ihrer Interessen gegeben wird, so ist dies also kein oberster
methodologischer Grundsatz, sondern ein Verfahren, das aus Gründen der Praktikabilität gewählt werden kann, sofern dadurch eine erhebliche Senkung
des Aufwands der Interessenermittlung erreicht wird und sofern außerdem das
erzielte Ergebnis eine hinreichende Annäherung an die wirklichen individuellen
Interessen darstellt. [[3] Die Forderung nach der Konsensfähigkeit der
individuellen Interessen ist insofern kein Freibrief für Bevormundung, da ja das
betroffene Individuum in diesen Konsens einbeschlossen sein muss.]
Dass die autonome Interessenformulierung durch das
jeweilige Individuum kein oberstes Prinzip sein kann, ergibt sich bereits
daraus, dass auch in individualistischen Entscheidungs-Systemen individuelle
Interessen nur in einem kollektiv gesetzten Rahmen geltend gemacht werden können.
Alle individuellen Interessenäußerungen werden dabei bestimmten "Normalisierungen" unterworfen, bevor sie in die Bestimmung des Gesamtinteresses
eingehen. Diese Normalisierung erfolgt gewöhnlich über die gesellschaftlich
sanktionierte Ausstattung der Individuen mit dem Medium der
Interessenartikulation, sei es in Tauschwirtschaften das Geld, oder sei es in
Abstimmungs-Systemen die Stimme.
Ein Individuum kann in {-266-} Tausch- oder Abstimmungs-Systemen sein
individuelles Interesse eben immer nur mit dem Gewicht geltend machen, wie es seine Ausstattung
mit Kaufkraft oder Stimmkraft erlaubt. An dieser Tatsache einer kollektiv
sanktionierten Normalisierung der individuellen Nutzen auch in
individualistischen Systemen wird deutlich, dass die Bestimmung der
individuellen Nutzen immer vor dem Hintergrund eines kollektiven Konsens
darüber stattfindet.
Zum andern wird auch in individualistischen
Entscheidungs-Systemen die Autonomie der Interessenartikulation niemals allen
Individuen zugesprochen, sondern an bestimmte Bedingungen der Mündigkeit geknüpft. So dürfen gewöhnlich Kinder, Schwachsinnige, Süchtige
oder Geisteskranke ihre Interessen nicht autonom formulieren. Diese Maßnahme
kann jedoch nur damit gerechtfertigt werden, dass die legitimierten Vormünder
die Interessen dieser Individuen besser artikulieren können als diese selber.
Nur unter dieser Voraussetzung kann man bestimmten Individuen überhaupt legitimerweise das
Recht absprechen, ihre Interessen autonom zu bestimmen. [[4] Zum Problem der
Entmündigung s. o. § 14]
Wenn jedoch in individualistischen Entscheidungs-Systemen
den Individuen innerhalb eines gesetzten Rahmens völlige Autonomie der
Interessenformulierung gegeben wird, so ist es besonders wichtig, dass die
Individuen dies unter Bedingungen tun, die ihnen eine Artikulation ihrer
wirklichen Interessen erlaubt. Andernfalls verliert ein individualistisches Entscheidungs-System {-267-} jede Rechtfertigungsgrundlage, denn die
von den Individuen artikulierten Interessen entsprechen dann nicht ihren
wirklichen Interessen und damit fällt die kollektive Wahl nicht mehr auf
diejenige Alternative mit dem größten Gesamtnutzen. Die
Qualifikationsbedingungen der individuellen Entscheidung müssen deshalb genauer
untersucht werden.
Dies kann an einem Beispiel veranschaulicht werden,
bei dem ein
Mann zwischen Bier, Wein und Saft wählen kann. Angenommen die Frau dieses Mannes
ist dagegen, dass er Alkohol trinkt. Er würde also Ärger mit ihr
bekommen, wenn er Bier oder Wein wählen würde. Unter diesen Umständen wählt der
Mann jedoch nicht mehr zwischen den drei Getränken, sondern zwischen den
modifizierten Alternativen "Bier mit Ärger", "Wein mit Ärger" und "Saft (ohne
Ärger)". Seine Wahl zwischen diesen - durch Sanktionierung modifizierten -
Alternativen hat folglich keinerlei Aussagekraft hinsichtlich seines
individuellen Interesses in Bezug auf die ursprünglichen Alternativen der bloßen
Getränkearten. {-268-}
Man kann diese Freiheit von Sanktionen auch als die
äußere Freiheit der Interessenartikulation bezeichnen. Sie ist eine notwendige
Bedingung für die Äußerung des wirklichen Eigeninteresses durch das Individuum.
Eine sanktionierte Interessenäußerung würde das Individuum selber nicht als
Ausdruck seines Willens anerkennen können, sodass ihr die notwendige
Qualifikation fehlt, um sie bei der Bestimmung des Gesamtinteresses
berücksichtigen zu können. [[5] Ein gebräuchliches Verfahren, um eine
Sanktionierung der individuellen Entscheidung zu verhindern, ist die
Geheimhaltung der Interessenäußerung bzw. die Anonymität.]
Der Begriff der "Sanktion" bedarf noch
einer weiteren Präzisierung, denn es kann u. U. schwierig sein zu entscheiden,
ob es sich bei
einem die Interessenäußerung beeinflussenden Ereignis um die unzulässige
Sanktionierung einer Alternative handelt oder ob es sich bloß um eine der
Alternative selber zuzurechnende Folgewirkung handelt.
Dies kann am obigen Getränkebeispiel verdeutlicht werden.
Dort wurde davon ausgegangen, dass der Alkoholgenuss des Mannes von seiner Frau
sanktioniert wird. Dieser Fall könnte jedoch auch anders beschaffen sein,
wodurch die Annahme einer Sanktionierung zweifelhaft würde. Dann wäre die
ärgerliche Verstimmung der Frau keine Sanktion, sondern sie wäre nur die
Folgewirkung auf den Alkoholgenuss des Mannes. Da sich diese Verstimmung auf den
Mann negativ auswirkt, wählt er ein nicht-alkoholisches Getränk. Hat in diesem
Fall die Frau die Entscheidung ihres {-269-} Mannes nun sanktioniert oder ist ihre Verärgerung nur eine
kausale Folgewirkung des Alkoholgenusses, ähnlich wie es vielleicht ein schwerer
Kopf am nächsten Morgen ist?
Negative Folgen einer Alternative stellen keine Sanktion
dar, wenn sie gewissermaßen "naturbedingt" sind, d. h. wenn sie nicht von der
Willensentscheidung eines andern Individuums abhängen. Insofern sind Erkrankungen der Atemwege, die sich bei einem Kettenraucher
einstellen, keine Strafe, sondern eine - negativ bewertete - Folgewirkung des
Rauchens. Eine Sanktionierung liegt nur dann vor, wenn das Verhalten eines
Individuums nach dem Willen eines andern beeinflusst werden soll.
Die Verärgerung der Frau muss in diesem Fall also für sie ein Mittel sein, um
das Verhalten ihres Mannes gezielt zu beeinflussen. Nur wenn sie "beim besten
Willen" ihre Verstimmung nicht vermeiden kann, weil sie sich unwillkürlich
einstellt, handelt es sich um eine bloße Folgewirkung und keine Sanktionierung.
[[6] Da es allmähliche Übergänge zwischen einer bewussten
Willensentscheidung und einer unwillkürlichen Reaktion gibt, kann auch die
Unterscheidung zwischen Sanktion und Folgewirkung nur graduell sein. Vgl. zur
Psychologie des Willens unten § 53.]
Eine Sanktion muss nach dieser Definition der
willensmäßigen Entscheidung eines andern Individuums "zuzurechnen" sein. Dieser
Zusammenhang zum Willen eines andern Individuums kann jedoch auch sehr indirekt
sein. So ist zwar die Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen eine
biologische Folge des Geschlechtsverkehrs, trotzdem kann jedoch eine
unerwünschte {-270-} Schwangerschaft den Charakter einer negativen Sanktion
erhalten. Dies wäre dann der Fall, wenn aufgrund der Entscheidungen anderer
Individuen das betreffende Individuum daran gehindert wird,
Verhütungsmittel anzuwenden. Damit wäre eine Schwangerschaft ein Ereignis, das
dem Willen anderer Individuen zuzurechnen wäre und das insofern eine Sanktionierung
des Geschlechtsverkehrs
darstellt.
Wenn positiv oder negativ bewertete Folgen jedoch
ausdrücklicher Bestandteil der Alternativen sind, so stellen sie kein Problem
für eine qualifizierte Interessenäußerung des Individuums dar, selbst wenn sie
auf den Willen anderer Individuen zurückgehen. Ein Beispiel hierfür wären die
Versprechungen, die die Kandidaten für ein bestimmtes politisches Amt ihren
Wählern machen. Die von ihnen versprochenen Maßnahmen stellen keine unzulässigen
Sanktionierungen der Wahlentscheidung dar, sondern machen gerade den Inhalt der
zur Entscheidung anstehenden Alternativen aus.
Im Falle fehlender oder falscher Information entscheidet
das Individuum eigentlich nicht über die tatsächlich zur Entscheidung stehenden
Alternativen, sondern über modifizierte Alternativen, die seinen eigenen
fehlerhaften Anschauungen entsprechen. Im obigen Beispiel findet die Wahl also
nicht mehr zwischen den Alternativen "Bier", "Wein" und "Saft" statt, sondern
zwischen "Bier", "Traubensaft" und "Saft". Die Wahl des Individuums drückt
deshalb nicht das Interesse des Individuums hinsichtlich der tatsächlich zur
Entscheidung stehenden Alternativen aus.
Auch im Fall von Informationsmängeln wird die
Feststellung, dass die Interessenäußerung des Individuums unqualifiziert ist,
nicht an einem vom betreffenden Individuum nicht nachvollziehbaren Kriterium
festgemacht, sondern auch das Individuum selber wird zu der Ansicht kommen, dass
seine Entscheidung aufgrund von Informationsmängeln falsch war. [[7]Natürlich
kann eine Entscheidung trotz Informationsmängel richtig sein, d. h. dass das
Individuum auch nach der Korrektur der Information zur gleichen Entscheidung
gelangt. Dies ist jedoch nur zufällig. In jedem Fall erfordert die Aufdeckung
von Informationsmängeln eine Überprüfung der Entscheidung.]
In unserm
Fall hätte das Individuum vielleicht gesagt: "Hätte ich gewusst, dass es
sich nicht um Traubensaft sondern um Wein handelt, so hätte ich Wein gewählt." Es
hält also seine eigene Entscheidung nachträglich für falsch.
Im obigen Beispiel war das Informationsproblem sehr krass an
der Verwechslung von Wein und Traubensaft dargestellt worden. Für die
Richtigkeit einer individuellen Entscheidung können jedoch Informationen der
verschiedensten Ebenen relevant sein. Die Informationsproblematik {-272-} wurde in der Theorie der rationalen
Entscheidung bereits sehr detailliert analysiert, sodass hier auf eine
ausführliche Darstellung verzichtet werden kann. [[8] Als ausführliche Darstellung der
Entscheidungstheorie ist GÄFGEN 1968 zu empfehlen. Dort finden sich auch weitere
Literaturhinweise.] Im Folgenden sollen nur
die wichtigsten Aspekte genannt werden.
Wenn die Interessenäußerung eines Individuums ausdrücken
soll, welche der zur Entscheidung stehenden Alternativen den größten
individuellen Nutzen hat, so muss das Individuum alle relevanten Alternativen
bei seiner Entscheidung berücksichtigen. Wenn das Individuum bei der Wahl des
Getränkes z. B. nur die drei Alternativen "Bier", "Wein" und "Saft"
berücksichtigt hat und weitere verfügbare Getränkearten auf einem andern Tablett
übersehen hat, so sagt seine Entscheidung für Bier nichts darüber aus, ob Bier
in dieser Situation die individuell beste Alternative gewesen ist. Vielleicht
hält das Individuum seine Entscheidung nach einer Information über die weiteren
Alternativen für falsch und sagt: "Wenn ich gewusst hätte, dass es auch Sekt
gibt, so hätte ich natürlich Sekt gewählt." Die Berücksichtigung aller
relevanten Alternativen ist also eine notwendige Qualifikationsbedingung der
individuellen Interessenäußerung.
Wenn das Individuum über
entscheidungsrelevante Aspekte der Ausgangssituation nicht oder falsch
informiert ist, so wird es ebenfalls zu Entscheidungen kommen, die das
Individuum letztlich {-273-} selber nicht akzeptieren kann und bereuen wird. Das obige
Beispiel einer solchen Verwechslung von Wein mit Traubensaft stellt eine solche
Fehlbeurteilung der Ausgangssituation dar.
Natürlich sind nicht alle Aspekte der
Ausgangssituation entscheidungsrelevant. Eine vollständige Beschreibung einer
Situation wäre auch im Prinzip unmöglich. Entscheidungsrelevant sind jedoch
solche Aspekte der Ausgangssituation, die zu Konsequenzen führen können, die die
Bewertung der Alternativen durch das Individuum beeinflussen.
Aus der Kenntnis der Ausgangssituation und den empirischen
Gesetzmäßigkeiten lassen sich die Folgen abschätzen, die sich bei
verschiedenen alternativen Handlungsverläufen einstellen werden. Diese
Konsequenzen der verschiedenen Alternativen spielen für deren Bewertung durch das
Individuum eine entscheidende Rolle. Das Individuum muss die möglichen Folgen
seiner Entscheidung bedenken, wenn es seinem Interesse nicht zuwider handeln
will und seine Entscheidung nicht nachträglich bereuen will.
So kann der Genuss von Wein zur Folge haben, dass man am
nächsten Tag Kopfschmerzen hat. Diese Konsequenz kann z. B. dadurch besondere
Bedeutung erlangen, dass man am nächsten Tag eine wichtige, die ganze Leistungsfähigkeit erfordernde Aufgabe zu erfüllen hat. Wenn
das Individuum jedoch die leistungsmindernden Auswirkungen des Weingenusses nicht
kennt, so kann es diese bei seiner Bewertung der Alternativen nicht
berücksichtigen und kommt damit zu Fehlentscheidungen.
Häufig kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine
sichere Prognose aller Konsequenzen möglich ist, sodass unter den Bedingungen
des Risikos oder der Ungewissheit {-274-} entschieden werden muss. Dabei müssen
die Wahrscheinlichkeiten geschätzt werden, mit dem die verschiedenen möglichen
Konsequenzen zu erwarten sind. Auch hier können dem Individuum Fehler
unterlaufen, die seine Interessenäußerung unqualifiziert werden lassen. [[9]S.
hierzu GÄFGEN 1968, Kap.6, 12 u. 13.]
Hierauf weist auch BRANDT hin, wenn er fragt: "Aber was heißt es, ein Ereignis p zu wollen? Dieser Begriff ist schwerer zu
fassen als es auf den ersten Blick scheint, wie jeder weiß, der angesichts einer
schwierigen Entscheidung versucht hat, dem Ratschlag zu folgen: 'Tue das, was du
am meisten willst!' Es erscheint als völlig klar, dass etwas zu wollen kein so
einfacher introspektiver Tatbestand ist wie etwa ein Kitzelgefühl." [[10] BRANDT 1966, S. 263.]
Die in der Entscheidungstheorie gebräuchliche
Nutzenfunktion oder Präferenzrangfolge zur Darstellung {-275-} der Interessenstruktur des Individuums ist eigentlich nur
das dürre und reduzierte Ergebnis eines innerpsychischen Prozesses, über dessen
Kompliziertheit und mögliche Konflikthaftigkeit man sich nur schwer eine
angemessene Vorstellung machen kann. Erst die moderneren psychologischen
Forschungen und Theorien haben mit der Vorstellung eines vollkommen integrierten
Willens des Individuums aufgeräumt. [[11] Dabei kann man davon ausgehen, dass diese
Forschungen noch weitgehend am Anfang stehen und nur einen sehr vorläufigen
Einblick in die komplizierte menschliche Motivationsstruktur und den Prozess der
Willensbildung geben. Wichtige Phänomene, wie z. B. psychische Störungen,
bedürfen noch einer genaueren Erklärung. Vgl. zur Motivationsforschung z. B. BINDRA/STEWART 1966.]
1. Die individuelle Entscheidung in der
psychoanalytischen
Persönlichkeitstheorie
Der Mensch wird danach gewissermaßen zum "Fremdling im eigenen Haus", denn es gibt unbewusste Bereiche und Antriebe
seiner Persönlichkeit, über die er sich keine bewusste Rechenschaft ablegen
kann. Bestimmte Erinnerungen, Wünsche und Gedanken können aus dem Bewussten in
das Unbewusste verdrängt werden und dort unintegriert und unreflektiert
weiterwirken und das Verhalten des Individuums beeinflussen. Schuldgefühle,
Ängste, Aggressionen und Hemmungen können von solchen verdrängten {-276-} Konflikten herrühren und dem Individuum selber als
unerklärlich erscheinen bzw. von ihm nur nachträglich rationalisiert werden.
Nach der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie wird
dies ganze System relativ verselbständigter Motivbündel, die in
unterschiedlichem Maße der Bewusstmachung und der willkürlichen Steuerung
zugänglich sind, durch ein kompliziertes System von Integrationsleistungen und
Abwehrmechanismen des "Ich" in einem Gleichgewichtszustand gehalten, der es dem
Individuum normalerweise ermöglicht, zu einem realitätsgerechten und
willensmäßig koordinierten Handeln zu kommen.
Allerdings kann das "Ich" durch
unverarbeitete Konflikte mit dem "Es" (z. B. bei Angst vor verdrängten
Triebwünschen) und mit dem "Über-Ich" (z. B. bei verdrängten Schuldgefühlen)
geschwächt sein und zu irrationalen Formen der Konfliktbewältigung neigen.
Angesichts eines solchen Persönlichkeitsmodells wird
deutlich, dass man nicht ohne weiteres von "dem" Willen einer Person sprechen
kann und dass sich das Problem einer qualifizierten Entscheidung nicht in
Problemen der Informationsgewinnung und ihrer Verarbeitung erschöpft.
Angesichts
des komplizierten Aufbaus der menschlichen Persönlichkeit bedarf es immer erst
bestimmter psychischer Integrationsleistungen und Identitätsstrukturen, um die
unterschiedlichen Impulse, Motive und Gefühle zu einem zielgerichteten Handeln
zusammenzufassen. Und bei bestimmten schweren Belastungen - vor allem in der
kindlichen Entwicklungsphase - kann diese Fähigkeit des "Ich" nachhaltig
neurotisch gestört werden oder sogar völlig versagen, wie z. B. in der
Schizophrenie und {-277-} anderen Geisteskrankheiten. [[13] Für den
neurotischen Menschen ist typisch, dass er sich nur schwer und mit großem
Aufwand an seelischer Energie entscheiden kann und dass er selber nicht weiß,
was er will und warum er sich unglücklich fühlt.]
Dass die "innere Welt" der eigenen Persönlichkeit für jeden
Menschen ein mindestens ebenso komplexes und unerforschtes Gebiet darstellt wie
die äußere Welt, wird unmittelbar in Kunst und Literatur deutlich. In den
Phantasien, Monologen und Bildern moderner aber auch älterer Literatur und Kunst
werden innerpsychische Vorgänge und Konflikte deutlich, die von den stark
vereinfachten Persönlichkeitsmodellen einer rationalistischen Psychologie
ignoriert wurden. Wenn eine moderne Romanfigur eine Konfliktsituation mit den Worten ausdrückt: "Jedes Teil in mir schrie 'nein!' aber die Summe von allem schrie 'ja!'", so ist das zwar nur eine paradox formulierte Metapher, aber sie
vermittelt einen unmittelbaren Zugang zu den innerpsychischen Konflikten und
macht das Problem einer qualifizierten Interessenartikulation des Individuums
anschaulich.
2. Die individuelle Entscheidung in
lernpsychologisch
orientierten Persönlichkeitstheorien
In
einer Entscheidungssituation mit ihrer Vielzahl von Reizen werden nun
verschiedenartige, sich teilweise widersprechende Impulse nervlicher und
hormonaler Art ausgelöst, die erst über höhere Steuerungszentren bis hin zur
Denktätigkeit des Großhirns in eine einheitliche Reaktion integriert werden
müssen. [[14] Zur Steuerungsfunktion des Zentral-Nerven-Systems
vgl. z. B. HEBB 1967, S.107ff. u. 233ff.]
Die unvollkommene Hierarchisierung des nervlichen Systems
der Verhaltenssteuerung, die sich als entwicklungsgeschichtliches Erbe verstehen
lässt, ist für die Qualifikationsbedingungen der individuellen
Interessenartikulation nicht ohne Bedeutung. Dies kann an einem Beispiel
verdeutlicht werden, bei dem das unmittelbar assoziative Lernen und das durch
Denken vermittelte Lernen in entgegen gesetzte Richtungen wirken.
Wenn man z. B.
am Radio gerade einen heftigen elektrischen Schlag erhalten hat, so ist das
Anfassen des Gerätes mit Schmerz und Schreck assoziiert. Dieses assoziative
Lernen kann auch dann noch weiterwirken, wenn dem Individuum die theoretische
Einsicht sagt, dass jetzt keine Gefahr eines elektrischen Schlages mehr besteht,
da der Netzstecker herausgezogen ist. Trotzdem wird man unwillkürlich mit der Hand zurückzucken und ein ungutes Gefühl haben beim erneuten Anfassen
des Gerätes.
Solche automatischen Reaktionen, die {-279-} durch ein traumatisches Erlebnis oder durch lange
Gewohnheit entstehen können, sind also durch theoretische, über Denkvorgänge
vermittelte Einsicht und logische Argumentation u. U. nur schwer veränderbar. [[15]
Das Beispiel stammt aus DOLLARD/MILLER 1950.]
Während im Idealfall theoretischer Erkenntnis die Erfahrung
eines einzigen kontrollierten Experiments genügt, um die Vorstellung von der
Beschaffenheit der Realität und damit das Verhalten in vergleichbaren Fällen zu
verändern, baut sich das assoziative Lernen in einem langen Prozess von
Bekräftigungen auf und wird nur allmählich durch Nicht-Bekräftigung gelöscht.
Im
Menschen sind gewissermaßen noch die Lernmechanismen früherer Stufen der
stammesgeschichtlichen Entwicklung wirksam, als noch kein entwickeltes Großhirn
mit der Fähigkeit zum logisch-begrifflichen Denken vorhanden war. Beim
assoziativen Lernen werden gleichsam nur Korrelationen intuitiv registriert,
jedoch keine kausalen Gesetzmäßigkeiten. Das assoziative Lernen ist deshalb auch
schlecht geeignet, das Verhalten auf plötzlich geänderte Lebensbedingungen
umzustellen, die besser über begriffliche Denkprozesse bewältigt werden können.
Inwiefern der Mensch als "Gewohnheitstier" zu einer qualifizierten Entscheidung
befähigt ist bzw. welche sozialen und psychischen Bedingungen einer
qualifizierten Interessenartikulation hinderlich oder förderlich sind, bedarf
noch weiterer psychologischer Forschung - insbesondere, was die Entstehung und
Stabilisierung von Vorurteilen und Stereotypen angeht. Dies konnte hier nur als
Problem angerissen werden. {-280-}
Ein
junger Mann möchte gern ein Mädchen kennenlernen, aber aufgrund unverarbeiteter
ödipaler Konflikte ist er sehr schüchtern und gehemmt. Es kostet ihn bereits
einige Überwindung, in ein Tanzlokal zu gehen. Als er dann dort ist, fühlt er
sich wie gelähmt und kann sich nicht dazu bringen, ein Mädchen zum Tanzen
aufzufordern, obwohl er sich dies fest vorgenommen hat. Die Möglichkeit dazu ist
von den äußeren Bedingungen her gegeben, aber die inneren Ängste, die in der
Situation mobilisiert werden, sind zu stark. Völlig niedergeschlagen verlässt er
schließlich unverrichteter Dinge das Lokal. Seine Hemmung und ihre Ursachen sind
ihm selber unerklärlich und hinterher ärgert er sich über sein eigenes
Verhalten.
Hier handelt es sich offensichtlich um willensmäßig nicht
zu überwindende, unwillkürliche Angstreaktionen, die das Verhalten des Individuums
steuern. Reale äußere Sanktionen waren nicht zu befürchten, sodass man eine
solche Angst im Alltag meist als "unvernünftig" bezeichnet. Solche "unvernünftigen" Ängste finden sich häufiger bei Kindern oder in neurotischer
Form als Phobien. Die Wirksamkeit solcher Ängste bei der Steuerung des
Verhaltens ist im allgemeinen nicht so leicht zu erkennen, weil das Individuum
gewöhnlich bereits vermeiden wird, sich überhaupt in solche Konfliktsituationen
zu begeben. Dies Vermeidungsverhalten {-281-} ist übrigens ein Grund, warum sich solche irrationalen
Verhaltensweisen stabilisieren. Sie können dann nämlich nicht verlernt bzw. gelöscht
werden.
Kann man nun im obigen Fall sagen, dass der junge Mann seinem Interesse
entsprechend gehandelt hat? Kann man sagen, dass er lieber unverrichteter Dinge
das Lokal verlässt als ein Mädchen zum Tanzen aufzufordern? Eine solche
Interpretation des Verhaltens ist sicherlich problematisch, denn dabei wird
unberücksichtigt gelassen, dass das Individuum selber sein Verhalten als falsch
und als zwanghaft empfindet, insofern es unwillkürlich und gegen seinen
bewussten Willen verläuft. Das Individuum ist in diesem Fall innerlich unfrei, denn es kann sein Verhalten nicht seinem bewussten Willen
unterwerfen.
Zur Verdeutlichung kann hier ein
längeres Zitat aus der
Neurosentheorie von EYSENCK und RACHMAN dienen: "Neurotisches Verhalten ist
fehlangepasst. Eine Person, die neurotische Verhaltensweisen annimmt, erreicht
nicht, was sie möchte, sondern das, was für sie in hohem Maße unvorteilhaft ist
... MOWRER (1950) bezeichnet das als 'neurotisches Paradoxon'. Der gesunde
Menschenverstand glaubt, dass ein normaler vernünftiger Mensch und selbst ein
Tier innerhalb der Grenzen seiner Intelligenz die Folgen seiner Handlungen
abwägen kann: Ist das Resultat günstig, wird die entsprechende Handlung
fortgesetzt, ist es ungünstig, dann wird die entsprechende Handlung gehemmt,
aufgegeben. Bei der Neurose beobachtet man jedoch Handlungen, die mit vorwiegend
ungünstigen Folgen verbunden sind, und doch überdauern sie Monate, Jahre oder
ein ganzes Leben. Kein Wunder, dass dann der gesunde Menschenverstand sich gegen
eine Anerkennung der Verantwortlichkeit in solchen Angelegenheiten sträubt {-282-} und sie in den Bereich des Geheimnisvollen verweist." [[16] EYSENCK/RACHMAN 1968, S.15.]
Übrigens müssen solche neurotischen Phänomene keineswegs
nur auf den privaten Bereich der Intimgruppen beschränkt bleiben, sondern können
auch zu Massenphänomenen werden, die große Teile der Bevölkerung erfassen, wie
sich an bestimmten politischen und religiösen Bewegungen zeigt, die weitgehend
auf wahnhaften Vorstellungen aufbauen. [[17] Vgl. z. B. die Diskussion des
Antisemitismus bei HORN 1974 sowie die dort angegebene Literatur.]
2. Verführung und Sucht
Hat diese Entscheidung nun sein
Interesse ausgedrückt? Wollte er lieber Alkohol trinken als darauf verzichten?
Am nächsten Tag bereut er vielleicht sehr, dass er "schwach" geworden ist
und verurteilt sein eigenes Verhalten. Auch in diesem Fall kann das tatsächliche
Verhalten sicherlich nicht als Ausdruck der wirklichen Interessen des
Individuums genommen werden. [[18] Es gibt auch die paradoxe Möglichkeit, dass sich
Individuen gewissermaßen selbst verführen, indem sie sich in verführerische
Situationen begeben. Deshalb verlangt man auch, dass von vornherein solche "gefährlichen" Situationen gemieden werden.]
Noch deutlicher wird dies im Fall echter Sucht, z. B.
nach Heroin. Wer einmal an Heroin gewöhnt ist, kann auch mit äußerster
Willensanstrengung kaum davon loskommen und ist insofern innerlich unfrei.
Dass ein Süchtiger nun versucht, sich Heroin zu verschaffen und zu
nehmen, kann man sicherlich nicht als Ausdruck seiner wirklichen Interessen
nehmen. Im Zustand der Ernüchterung verwünscht auch der Süchtige seine
Abhängigkeit von der Droge und es ist nicht selten, dass sich Süchtige aus
Verzweiflung mit einer Überdosis das Leben nehmen.
Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass es
problematisch ist, die faktischen Interessenäußerungen der Individuen ohne
weiteres als Ausdruck ihrer wirklichen Interessen zu nehmen, wenn bestimmte
Qualifikationsbedingungen nicht gegeben sind. Die Möglichkeit, um auch
ohne
normative Voraussetzungen {-284-} inhaltlicher Art zu einer Qualifizierung des individuellen
Willens zu gelangen, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass das Individuum selber seine Entscheidung als falsch bezeichnen und korrigieren kann. Dabei
bleibt der Wille des Individuums letztlich der Bezugspunkt für die Bestimmung
seines Eigeninteresses. Das Individuum "bereut" selber seine Entscheidung und
stellt fest, dass sie nicht seinem wirklichen Interesse entsprochen hat.
Die
Bedingungen, unter denen solche vom betreffenden Individuum selber nicht
anzuerkennende Entscheidungen geschehen, wie Sanktionierung, innere Unfreiheit, Informationsmängel oder mangelnde Reflektion der eigenen Motive, lassen
sich vom konkreten Einzelfall lösen und verallgemeinern. Dadurch ist es auch
möglich, nicht erst im Nachhinein die Korrektur der Entscheidung vorzunehmen,
sondern bereits von vornherein zu sagen, dass man unter diesen Bedingungen
Entscheidungen treffen wird, die man selber nicht anerkennen kann und bereuen
wird.
Die Qualifikationsbedingungen des individuellen Willens lassen sich dabei
nicht nur für ein einzelnen Individuum angeben, sondern treffen auch auf bestimmte
Gruppen von Individuen oder gar alle Individuen zu. So sind z. B. für alle
Individuen Entscheidungen überprüfungsbedürftig bzw. nicht anerkennbar, die sie
im Rauschzustand getroffen haben. In dem Maße, wie ein Konsens über die
Qualifikationsbedingungen des individuellen Willens anhand der Erfahrungen über
Korrekturen eigener Entscheidungen gebildet wird, ist dann auch der
erforderliche Konsens über die wirklichen Interessen der Individuen
herstellbar.{-285-}
Die Klärung der Qualifikationsbedingungen der individuellen
Interessenartikulation ist besonders für individualistische
Entscheidungs-Systeme von zentraler Bedeutung, in denen die Bestimmung der
individuellen Interessen den betreffenden Individuen selber überlassen bleibt.
Die sozialen Voraussetzungen qualifizierter und mündiger individueller
Entscheidungen liegen in den Bereichen der Erziehung, der Massenkommunikation,
der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst. Dabei lassen sich die
Bedingungen
der Aufklärung nicht ein für allemal bestimmen, sondern stellen sich im Zuge
sozialer und technologischer Entwicklung immer aufs Neue.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde herausgearbeitet,
unter welchen Bedingungen die Individuen ihre Interessen nur unqualifiziert
artikulieren können. Unter diesen Bedingungen kann die Anwendung
individualistischer Entscheidungs-Systeme nicht mehr gerechtfertigt werden, da
nicht die wirklichen individuellen Interessen in die Formulierung des
Gesamtinteresses eingehen.
Deshalb sind im Rahmen individualistischer
Entscheidungs-Systeme Handlungen unzulässig, die die Individuen daran hindern,
zum Bewusstsein und zur Artikulation ihrer wirklichen Interessen zu kommen.
Damit sind alle jenen Handlungen gemeint, die die
Qualifikationsbedingungen der individuellen Entscheidung beeinträchtigen.
Handlungen, die die äußere oder {-286-} innere Freiheit der Interessenartikulation negativ
tangieren, sollen als "Sanktionen" bezeichnet werden, während Handlungen,
die die informationsmäßige und reflektionsmäßige Aufgeklärtheit der Interessen
negativ tangieren, als "Manipulationen" bezeichnet werden sollen.
Beide Arten von Beeinflussung der individuellen
Interessenartikulation sind unvereinbar mit der Anwendung individualistischer
Entscheidungs-Systeme. Dabei ist festzuhalten, dass nicht nur die betroffenen
Individuen das Recht zur Kritik an Sanktionierung und Manipulation von
Interessenäußerungen haben, sondern jedes Individuum.
Gemäß dem
Solidaritätsprinzip ist die Bestimmung der individuellen Interessen im Prinzip
eine Angelegenheit aller Individuen und nicht nur der betreffenden Individuen
selber. Insofern können individualistische Entscheidungs-Systeme nur als
praktikable Annäherungsverfahren an die konsensuale Bestimmung der individuellen
Interessen gerechtfertigt werden. Diese Annäherung ist jedoch hinfällig, wenn
die Bestimmung des Gesamtinteresses aufgrund manipulierter oder sanktionierter
Interessenäußerungen der Individuen erfolgt. Folglich ist ein Zustand der
kollektiven Willensbildung für ein Individuum auch dann nicht akzeptabel, wenn
es zwar selber seine wirklichen Interessen einbringen konnte, aber andere
Individuen dies unter dem Einfluss Dritter nicht konnten, wobei die letzteren
damit zugleich ihre eigenen Interessen in unsolidarischer Weise mit größerem
Gewicht versehen konnten. {-287-}
Bei der Analyse unqualifizierter Interessenäußerungen muss
eine deutliche Unterscheidung gemacht werden zwischen der nachträglichen Korrektur einer unqualifizierten Interessenäußerung und einer bloßen Veränderung des Interesses.
Jemand trinkt z. B. gerne Bier, aber im Laufe
der Zeit kann sich sein Geschmack ändern, sodass ihm Bier jetzt nicht mehr so
gut schmeckt und er lieber Wein trinkt. Dann würde er zwar heute im Falle einer
Wahl zwischen Bier und Wein den Wein vorziehen, aber damit werden seine früheren
Entscheidungen für Bier nicht falsch. Damals hatte er ja tatsächlich lieber Bier
getrunken und er bereut dies auch nicht. Es handelt sich hier also um eine
einfache Änderung der Präferenz, die an sich unproblematisch ist. Solche
Änderungen der Präferenz stellen auch keine Inkonsistenz dar, denn für jeden
Zeitpunkt lässt sich widerspruchsfrei eine Entscheidung formulieren.
Wenn es sich dagegen um die
nachträgliche Korrektur einer
Entscheidung handelt, so wird die frühere Entscheidung nachträglich für falsch erklärt, und zwar wäre sie nicht nur zum gegenwärtigen Zeitpunkt falsch,
sondern sie ist bereits zum damaligen Zeitpunkt falsch gewesen.
Eine solche
Korrektur kann z. B. durch eine Informationsverbesserung erfolgen, indem das Individuum erfährt, dass es bereits seit längerem zuckerkrank ist und schon
damals eigentlich kein Bier mehr hätte trinken dürfen. Die damalige Entscheidung
für Bier beruhte auf einem unqualifizierten Willen, weil entscheidungsrelevante
Informationen fehlten. Hätte das Individuum schon damals {-268-} von seiner Erkrankung gewusst, so hätte es sich bereits
damals anders entschieden.
Unter Umständen verbinden sich jedoch beide Aspekte,
Korrektur und Änderung des Willens, miteinander. Dies ist immer dann möglich,
wenn Entscheidungen zu treffen sind, deren absehbare Konsequenzen sich über
einen längeren Zeitraum erstrecken. In diesem Zeitraum können sich die
Interessen eines Individuums ändern. Das Individuum muss also bei seiner Entscheidung seine
zukünftige Interessenstruktur möglichst vorhersehen und berücksichtigen, wenn es
nicht später diese Entscheidung bereuen will. Wenn sich nämlich die Interessen
in unvorhergesehener Weise ändern, so wird dadurch u. U. eine frühere
Entscheidung falsch.
Ein Beispiel für die falsche Einschätzung zukünftiger
Interessen wäre es etwa, wenn sich ein junges Ehepaar ein relativ kleines Haus
gemäß seinen heutigen Platzbedürfnissen kauft und im Laufe der Jahre mehrere
Kinder bekommt, sodass ein viel größerer Platzbedarf da ist als erwartet. Nachträglich, von den späteren Interessen her gesehen, stellt
sich der Kauf des kleinen Hauses nun als ein Fehler heraus: "Man hätte sich
damals gleich für ein größeres Haus entscheiden sollen!" [[19] Die Veränderbarkeit der eigenen Präferenzen ist
einer der Gründe dafür, warum man folgenschwere Entscheidungen mit kaum zu
revidierenden Konsequenzen nicht impulsiv treffen soll, sondern erst nach einer
gewissen Bedenkzeit. In dieser Zeit kann man prüfen, wie stabil die eigenen
Präferenzen sind, ob es nur eine "Laune des Augenblicks" in Form eines situations- und stimmungsabhängigen Wunsches war oder ob es sich um einen über
die Zeit hinweg stabilen Wunsch handelt. Zum Problem der Veränderung von
Präferenzen und ihrer Berücksichtigung s. a. HARSANYI 1953/54.] {-289-}
In den vorangegangenen Abschnitten wurden Probleme bei der
Bestimmung der individuellen Interessen diskutiert, die auf mangelnder Freiheit
und Aufgeklärtheit der Individuen beruhen. Selbst wenn man diese Probleme jedoch
einmal als gelöst betrachtet, können die von den Individuen geäußerten
Interessen trotzdem eine ungeeignete Basis für die Bestimmung des
Gesamtinteresses bilden. Dies ist dann der Fall, wenn das Individuum - wider
besseres Wissen und ohne äußeren Zwang - nicht seine tatsächlichen Interessen
äußert, sondern absichtlich andere Interessen als seine eigenen ausgibt. Dies
kann als "Unaufrichtigkeit" der Interessenartikulation bezeichnet
werden.
Ein analoges Problem gibt es auch in der empirischen
Methodologie in Form absichtlich falscher Wiedergabe von Wahrnehmungen durch die
Individuen. Wenn man sich z. B. in der Geschichtswissenschaft auf die Berichte
von Augenzeugen stützt, um den wahren Sachverhalt zu ermitteln, so stellt sich
für die Zeugenaussagen unabhängig von den oben erwähnten Qualifikationsmängeln
zusätzlich das Problem der möglichen Unaufrichtigkeit der Aussagen, d. h.
Individuen können wider besseres Wissen nicht ihre tatsächlichen Wahrnehmungen
beschreiben, sondern andere Sachverhalte als ihre eigenen Wahrnehmungen ausgeben.
Die Unaufrichtigkeit von Zeugenaussagen ist auch bei der Wahrheitssuche vor
Gericht ein vorrangiges Problem. Hier sind bereits Verfahren entwickelt worden, um dem Problem der
Unaufrichtigkeit zu begegnen. Diese Verfahren können teilweise von der empirischen auf die
normative Methodologie übertragen werden. {-290-}
1. Eigeninteresse als Motiv zur unaufrichtigen
Interessenäußerung
Das Motiv zur bewussten Fehldarstellungen des eigenen
Interesses ergibt sich daraus, dass man dadurch im Rahmen der gegebenen
Entscheidungsregel sein eigenes Interesse besser durchsetzen kann. Ein
Beispiel mag dies verdeutlichen.
Angenommen zwei Individuen A und B steigen in
einen Bus. Beide würden lieber sitzen als zu stehen, aber es ist nur ein
Sitzplatz frei. Um zu einer für beide anerkennbaren Entscheidung darüber zu
kommen, wer von beiden sich setzen darf, wäre gemäß dem reinen
Solidaritätsprinzip zu fragen, welches Individuum das dringendere Bedürfnis nach
einem Sitzplatz hat. Die Individuen könnten
die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses übertreiben und z. B. sagen: "Ich kann mich
kaum noch auf den Beinen halten und benötige ganz dringend einen Sitzplatz."
Unter diesen Umständen müsste ein aufrichtiges Individuum mit einem schwächeren
Bedürfnis zu sitzen anerkennen, dass das andere Individuum den Sitzplatz
bekommen soll.
Damit stellt sich das Problem, wie man in
individualistischen Entscheidungs-Systemen, wo jedes Individuum in der
Formulierung seiner Interessen autonom ist, derartig unaufrichtige
Interessenäußerungen ausschalten kann, um das wirkliche Gesamtinteresse zu
bestimmen. {-291-}
2. Die Überprüfung der Aufrichtigkeit von
Interessenäußerungen
Eine Möglichkeit zur Aufdeckung unaufrichtiger
Interessenäußerungen besteht darin, dem Individuum Widersprüche in
seinen Äußerungen nachzuweisen. Dabei geht man - wie bei der Überprüfung von
Zeugenaussagen - von der Annahme aus, dass es einer erheblichen
Konzentrationsleistung des Individuums bedarf, wenn es anstelle des wirklichen
ein erfundenes Interesse ohne Inkonsequenz artikulieren will.
Dadurch kann es
vorkommen, dass es in einem Moment der Unkonzentriertheit oder wenn es sich
unbeobachtet glaubt doch sein wirkliches Interesse verrät. Widersprüchlichkeiten
stellen zwar als solche keinen Beweis der Unaufrichtigkeit des Betreffenden dar,
denn widersprüchliche Interessen können auch andere Gründe haben. Sie bilden
aber einen wichtigen Hinweis und stellen im Zusammenhang mit anderen Fakten ein
zusätzliches Indiz dar. Im obigen Beispiel hätte man die Glaubwürdigkeit des als
dringlich geäußerten Wunsches zu sitzen dadurch in Frage stellen können, dass
man z. B. das betreffende Individuum mit der dazu in Widerspruch stehenden
Tatsache konfrontiert, dass es beim Einsteigen einen vorhandenen freien
Sitzplatz nicht {-292-}in Anspruch genommen hat. Folglich kann sein Bedürfnis zu
Sitzen auch nicht so stark sein.
Da sich Interessen nicht nur verbal oder durch
Wahlhandlungen artikulieren sondern auch durch teilweise unwillkürliches Ausdrucksverhalten, so können auch hier Inkonsistenzen zwischen den
verschiedenen Ausdrucksebenen einen Hinweis auf die Unaufrichtigkeit der
geäußerten Präferenzen geben. Wenn jemand etwa aus Höflichkeit gegenüber dem
Gastgeber äußert, dass ihm das servierte Gericht ganz ausgezeichnet schmeckt,
während er gleichzeitig ein mühsames Schlucken und einen verkrampften
Gesichtsausdruck zeigt, so ist dies ein Hinweis darauf, dass ihm das Essen
vielleicht doch nicht so gut schmeckt wie er vorgibt.
Eine weitere Möglichkeit zur Prüfung der Aufrichtigkeit von
Interessenäußerungen ist die Überprüfung ihrer Übereinstimmung mit empirischen Fakten und Gesetzmäßigkeiten, die das geäußerte
Interesse als unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich erscheinen lassen. Der
Ansatzpunkt für eine solche Kritik ist der Umstand, dass Interessen selber
Fakten darstellen, deren Vorhandensein kausaler Erklärung zugänglich ist so wie
andere psychologische Faktoren auch. Art und Stärke von Interessen lassen sich
im Prinzip empirisch-kausal erklären. Eine geäußerte Präferenz, die bekannten
Fakten und Gesetzmäßigkeiten widerspricht, begründet dann einen Zweifel an ihrer
Aufrichtigkeit.
Den Ansatz zu einer solchen ursächlichen Erklärung des
eigenen Interesses hat das Individuum im obigen Bus-Beispiel bereits gemacht,
indem es nicht nur gesagt {-293-} hat, dass sein Wunsch nach einem Sitzplatz sehr
dringend ist, sondern indem es noch darauf hingewiesen hat, dass es kaum noch
stehen könne. Wenn es etwa noch die Ursache dieser Erschöpfung dargelegt hätte -
z. B. stundenlanges Stehen bei der Arbeit als Verkäufer - , so könnte man
aufgrund dieser Fakten und erforschter Kausalzusammenhänge zwischen
Muskelbeanspruchung und Erschöpfung auf das Vorhandensein eines entsprechend
dringlichen Interesses nach Entlastung der Muskulatur schließen.
Dabei bedarf es
übrigens nicht unbedingt eines streng kausalen Erklärungsmodells, sondern es
genügen oft - wie auch bei anderen empirischen Fragen - Argumente von
geringerer Stringenz, wie z. B. der Hinweis auf andere vergleichbare Individuen,
die unter gleichen Umständen andere Interessen äußern. [[20] S. dazu auch §
39 zum interpersonalen Nutzenvergleich] Allerdings sind die
Möglichkeiten einer empirisch gesicherten Argumentation beim gegenwärtigen
Forschungsstand auf diesem Gebiet noch relativ gering. Vor allem die
außerordentlich große Variabilität menschlicher Einstellungen aufgrund
unterschiedlicher Lebenserfahrungen und Lernprozesse kompliziert die Situation
erheblich. [[21] Mit der Suche nach Erklärungen der geäußerten
Interessen ist natürlich nicht ihre inhaltliche normative Rechtfertigung
gemeint. Beides muss deutlich unterschieden werden. Zur empirischen Bedürfnisforschung s. u. § 62.]
Ein weiteres Mittel zur Aufdeckung unaufrichtiger
Interessenäußerungen soll hier noch erwähnt werden, obwohl seine Zuverlässigkeit
sehr zweifelhaft ist. Gemeint ist der Rückschluss von bestimmten Angstsymptomen
auf die Tatsache der Unaufrichtigkeit. Diesem {-294-} Vorgehen entspricht im Alltag der Satz: "Dir sieht man es
doch an, dass du nicht die Wahrheit sagst." Aber die Entwicklung zuverlässiger "Lügendetektoren" erscheint kaum aussichtsreich, weil die emotionalen Reaktionen
auf bewusstes Lügen sehr unterschiedlich sind und weil Angstreaktionen auch
durch andere Faktoren wie die peinliche Befragungssituation selber ausgelöst
werden können.
Aufgrund der angestellten Überlegungen wird deutlich, dass
es meist einen großen Aufwand erfordert, unaufrichtige Interessenäußerungen als
solche zu identifizieren, und dass die vorhandenen Verfahren nicht sehr
zuverlässig sind. Deshalb werden andere Wege zur. Neutralisierung dieser
Problematik notwendig.
Eine Möglichkeit dazu besteht darin,
die
Entscheidungsverfahren selber so zu gestalten, dass das Eigeninteresse der
Individuen zu unaufrichtiger Interessenäußerung möglichst gering ist. Je mehr
Vorteile sich Individuen durch Unaufrichtigkeit verschaffen können, desto
stärker ist ihre Motivation dazu und desto fragwürdiger wird das gesamte
Entscheidungsverfahren.
Wenn man z. B. als Entscheidungsregel
bestimmt, dass
diejenige Alternative als kollektiv gewählt gilt, die bei Abstimmungen die wenigsten Stimmen erhält, so könnten die Individuen die Chancen
für die Alternative, die ihrem
individuellen Interesse am meisten entspricht, dadurch
vergrößern, dass sie gerade nicht für diese sondern für andere Alternativen
stimmen. Eine solche "Minderheitsregel" würde geradezu zu unaufrichtigen
Interessenäußerungen einladen.
Im Unterschied dazu kann bei der Entscheidung
zwischen zwei Alternativen nach dem Mehrheitsprinzip {-295-} niemand die Erfolgsaussichten der von ihm favorisierten
Alternative durch unaufrichtige Präferenzäußerungen verbessern. Wie MURAKAMI in
diesem Zusammenhang feststellt, sind kollektive Entscheidungsregeln mit einer
nicht-negativen Entsprechung zwischen den individuellen Präferenzen und der
kollektiven Präferenz relativ unempfindlich gegenüber einer unaufrichtigen
Präferenzäußerung aufgrund von Eigeninteresse. [[22] S. MURAKAMI 1968, Kap.4, Abschnitt
10.]
Dabei ist mit einer "nicht-negativen Entsprechung zwischen individuellen und kollektiven
Präferenzen" gemeint, dass eine Alternative x in der kollektiven
Präferenzrangordnung gegenüber einer andern Alternative nicht fallen darf, wenn
sie nicht auch in der Rangordnung irgendeines Individuums gegenüber dieser
Alternative gefallen ist. [[23] S. dazu auch unten § 132, wo die verwandte
Bedingung der 'positiven Entsprechung' erläutert wird.]
Eine besonders elegante Lösung des Problems unaufrichtiger
Interessenäußerungen liegt dann vor, wenn das Entscheidungsverfahren so
konstruiert ist, dass gerade die vom Eigeninteresse bestimmte Darstellung der
eigenen Interessen durch die Individuen dazu führt, dass die vom Gesamtinteresse
her gesehen beste Alternative sich durchsetzt. In diesem Fall ist jede
moralische Steuerung und Überwachung der Individuen zur Vermeidung von
Unaufrichtigkeit überflüssig, denn ein eigeninteressiertes, strategisches
Verhalten der Individuen bei ihren Interessenäußerungen ist im Gegenteil gerade
erwünscht.
In dieser Weise funktioniert z. B. das Abstimmungsverfahren
entsprechend der {-296-} Regel der relativen Mehrheit, bei der gerade das
strategische Abstimmungsverhalten der Individuen in Form von
Abstimmungsvereinbarungen dazu führt, dass die Mehrheitsalternative sich
durchsetzt. [[24] s. dazu unten Kap.19.]
Will man das Interesse eines
derart unmündigen Individuums
ermitteln, um dies bei der Bestimmung des Gesamtinteresses zu berücksichtigen, so muss derjenige Wille
theoretisch konstruiert werden, den das Individuum hätte,
wenn es selber zu einem qualifizierten Willen fähig wäre. Die Probleme, die bei
einer derartigen Rekonstruktion individueller Interessen auftreten,
sollen im Folgenden näher analysiert werden. {-297-}
§ 62 Die stellvertretende Rekonstruktion des individuellen
Interesses durch eine Bedürfnistheorie
1. Die intuitive Rekonstruktion fremder Interessen
Die Notwendigkeit zur Rekonstruktion der Interessen kann sich dabei auch dann
ergeben, wenn das betreffende Individuum zwar im Prinzip zu qualifizierten
Willensäußerungen fähig wäre, der dazu notwendige Aufwand für die Qualifizierung
oder für die Ermittlung der Interessenäußerungen jedoch zu hoch ist.
Zum Ausgangspunkt der Überlegungen soll der relativ
einfache Fall genommen werden, dass das betreffende Individuum zwar eine
qualifizierte Willensäußerung abgeben könnte, dass dies aber nicht möglich ist,
weil es nicht erreichbar ist. Dieser Fall, dass das Interesse eines nicht
anwesenden Individuums berücksichtigt werden muss, ohne dass man es fragen kann,
tritt im Alltag relativ häufig auf. Man stellt sich dann die Frage: "Wie würde
der Betreffende selber entscheiden, wenn er anwesend wäre?" und versucht
dementsprechend seine Entscheidung zu rekonstruieren. {-298-}
Eine solche Prognose des Entscheidungsverhaltens ist
zumindest annäherungsweise möglich, wenn man die Bedürfnisse des Individuums aus
früheren, ähnlich gelagerten Entscheidungssituationen her kennt und die dort
gewonnenen Kenntnisse auf den jetzigen Fall überträgt. So kommt es z. B. durch
längeres enges Zusammenleben etwa innerhalb einer Familie oft zu einer ganz
erstaunlichen Kenntnis der Wünsche, Vorlieben und Abneigungen des andern. Eine
solche Kenntnis der Bedürfnisse des andern ist für ein befriedigendes
Zusammenleben innerhalb eines Haushalts, in dem ständig Entscheidungen
stellvertretend für die andern Mitglieder getroffen werden müssen, eine
notwendige Voraussetzung.
Für eine solche intuitive Rekonstruktion des
Interesses eines andern Individuums ist also u. U. noch nicht einmal ein
methodisch kontrolliertes wissenschaftliches Vorgehen erforderlich, denn die
angesammelte Alltagserfahrung reicht hierzu bereits aus. In dem Maße, wie eine
solche Rekonstruktion gelingt, ist auch eine stellvertretende Entscheidung
unproblematisch.
Ob eine Interessenrekonstruktion richtig ist, ließe sich dabei
in diesem Fall relativ einfach dadurch überprüfen, dass man das betreffende
Individuum nachträglich selber befragt, ob es mit der vorgenommenen Rekonstruktion seiner
Interessen einverstanden ist.
2. Die Betroffenheit des Individuums von Entscheidungen
Eine grobe Vorklärung der Interessenlage lässt
sich dabei oft schon dadurch gewinnen, dass man danach fragt,
ob das Individuum
überhaupt durch diese Entscheidung betroffen wird, d. h. ob seine
Interessen überhaupt tangiert werden.
Wenn die anstehende Entscheidung z. B. Veränderungen in
einem andern Land betreffen, zu dem das Individuum keine besonderen Beziehung
hat, sodass praktisch keine Veränderung seiner eigenen Lebensumstände zu erwarten
ist, so reichen bereits sehr einfache Annahmen über die Interessenstruktur von
Menschen aus, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die
Entscheidung dem Individuum "gleichgültig" ist bzw. dass sie das
Individuum "gar nicht
betrifft".
Eine derartige Grenzziehung zwischen Betroffensein und
Nicht-Betroffensein von einer Entscheidung ist jedoch nicht ganz
unproblematisch. So gibt es z. B. Interessen von Individuen, die praktisch
unabhängig von einer direkten faktischen Betroffenheit wirksam sind, weil sie -
vermittelt über die Identifikation des Individuums mit einer "Idee" - an ganz
allgemeine Zielvorstellungen geknüpft sind. So wird es z. B. einem engagierten
Alkoholgegner nicht gleichgültig sein, ob in einem andern Land die
Alkoholwerbung eingeschränkt wird oder nicht, selbst wenn er selber keine
unmittelbare Beziehung zu diesem Land hat und keine Rückwirkungen auf ihn selber
zu erwarten {-300-} sind.
Bei solchen "idealistischen" Interessen kann folglich
das Fehlen unmittelbarer Auswirkungen auf das betreffende Individuum nicht den
Schluss auf seine Indifferenz gegenüber der Entscheidung rechtfertigen. Hier
liegen sicherlich noch erhebliche theoretische Probleme, die insofern wichtig
sind, als sie das Konzept des "individuellen Interesses" überhaupt betreffen. So
hat z. B. BAIER den Versuch gemacht, zwischen einer wirklichen Betroffenheit des
Individuums, die auf faktischen Folgewirkungen der zur Entscheidung stehenden
Alternativen beruht, und einer nur scheinbaren Betroffenheit, die allein durch
das Wissen von den Alternativen vermittelt ist, eine Unterscheidung zu treffen.
[[25] S. dazu BAIER 1967, S.128.]
Zu klären wäre dabei vor allem, inwiefern es sich bei solchen "idealistischen" Interessen nicht eigentlich um individuelle Interessen handelt,
sondern um eine engagierte Form des moralischen Urteils - etwa dass die
Einschränkung des Alkoholkonsums im Gesamtinteresse jeder Gesellschaft liegt.
Der "Idealist" wäre dann jemand, der in engagierter Form für die Durchsetzung
normativer Vernunft Partei ergreift, wobei nur die psychologische Form der
Identifikation mit einer Idee den Eindruck erweckt, als handele es sich dabei um
sein individuelles Interesse. [[26] Zur Rolle von "Idealen" im Verhältnis zu "Interessen"
vgl. das Kapitel hierzu in HARE 1965, S.137ff.] {-301-}
3. Die Erforschung der menschlichen
Bedürfnisstruktur
- ihr Leben erhalten wollen,
- Krankheit und Schmerzen vermeiden
wollen,
- in bestimmten Abständen ein Bedürfnis
nach Nahrung und Schlaf haben,
- extreme Hitze und Kälte zu meiden suchen,
- ein Bedürfnis nach körperlichem
Kontakt und sexueller Lust haben,
- ein Bedürfnis nach Kommunikation mit
andern Menschen haben usw. usf.
Solche allgemeinmenschlichen Bedürfnisse lassen sich vor
allem für den Bereich bestimmen, wo es um die Bedingungen menschlichen Überlebens,
um das Existenzminimum geht. Allerdings kann auch dieses Existenzminimum je nach
Umweltverhältnissen und individueller Konstitution schwanken. [[27] Vgl. hierzu und zur Bedürfnistheorie allgemein ARNASZUS 1974, S.84ff.] Wenn man
annimmt, dass das Interesse des Individuums an der Erhaltung seines eigenen
Lebens dominierend ist, so lässt sich daraus schließen, {-302-} dass alle Alternativen nicht im Interesse eines
Individuums sind, die sein Überleben verhindern. Solche Existenzminima können
deshalb zumindest als normative Grenzwerte, d. h. als Beschränkungen des
Spielraums angesehen werden, innerhalb dessen sich eine Alternative befinden
muss, die dem Interesse eines Individuums entsprechen soll.
Derartige konkrete Maßstäbe von Grundbedürfnissen oder
Mindesttoleranzgrenzen fordert auch KNAPP: "Mindesttoleranzgrenzen sind nichts
anderes als maximale Belastungsgrenzen des Menschen, die auf empirisch
überprüfbaren Kriterien beruhen und als solche Gegenstand wissenschaftlicher
Bestimmung sein können. Quantitative Maßstäbe dieser Art gibt es bereits in Form
von Grenzen tolerierbarer Luft- und Wasserverunreinigung, der Radioaktivität der
Atmosphäre, der tragbaren Konzentration von gesundheitsschädlichen Chemikalien
zur Konservierung von Nahrungsmitteln usw. Auch auf dem Gebiet menschlicher
Ernährung hat unser Wissen erhebliche Fortschritte gemacht, indem wir heute die
minimal erforderlichen Quantitäten und Qualitäten von verschiedenen Nährstoffen
für verschiedene Arten menschlicher Tätigkeiten und Umgebungen bestimmen können.
Auch für das Wohnungs- und Verkehrswesen und die Lebensbedingungen in den
heutigen Großstädten sowie das Gesundheitswesen arbeitet man heute an der
Vorbereitung von empirisch überprüfbaren Indikatoren der Belastung bzw.
Überlastung des Menschen."
Allerdings betont KAPP selber, "dass
Mindesttoleranzgrenzen keine Maßstäbe optimaler Lebensbedingungen sind, und zwar
aus zwei Gründen. Erstens umfassen sie nur einen Teil menschlicher Bedürfnisse
und zweitens sind sie Mindestgrenzen mit Bezug auf diese Bedürfnisse. Sie
stellen erstrebenswerte Zustände höchstens insofern dar, als {-303-} eine Vernachlässigung bzw. Überschreitung solcher Grenzen
eine tatsächliche Gefährdung des Menschen bedeuten würde. ... In diesem
spezifischen und im Grunde relativ bescheidenen Sinne kann man derartige
Toleranzgrenzen gleichzeitig als wirkliche Mindesterfordernisse des menschlichen
Lebens, das heißt als existentielle Grundbedürfnisse bezeichnen." [[28]
KAPP 1968, S.12ff.]
Allerdings
ergeben sich schon bei der Aufstellung von
Existenzminima Probleme. So kommt es ja vor, dass Menschen bewusst ihr Leben
opfern, sei es, weil ihnen ein Weiterleben noch unerträglicher erscheint, oder
sei es, weil ihnen ein anderer Zweck noch wichtiger ist.
Außerdem bleibt unklar, wie Alternativen zu bewerten sind, die mit einem
erhöhten Überlebensrisiko verbunden sind, denn das Bedürfnis zu überleben
kann schwerlich so weitgehend interpretiert werden, dass bereits die geringste
Risikoerhöhung eine Alternative unakzeptabel macht. Dann dürfte z. B. auch kein
Mensch mehr Auto fahren.
Ein weiteres Problem solcher allgemeinen Aussagen über
menschliche Bedürfnisse besteht darin, dass diese immer am Beispiel von Menschen
eines bestimmten Kulturkreises und einer bestimmten Epoche gewonnen wurden,
womit ihre Verallgemeinerung auf alle Menschen problematisch wird. Die
Stichprobe, die eine solche induktive Verallgemeinerung erlauben würde, ist
nicht repräsentativ für die Gesamtmenschheit sondern selektiv. Man hätte also jedes
Mal zu überprüfen, ob eine Verallgemeinerung im speziellen Fall zulässig
ist.[[28] KAPP 1968, S.12ff.] {-304-}
Isolierte Feststellungen über einzelne Bedürfnisse
reichen jedoch dann nicht mehr zur Bestimmung des individuellen Interesses aus,
wenn zwei oder mehr Arten von Bedürfnissen von der Entscheidung in
entgegen gesetzter Weise tangiert sind. Ein banales Beispiel wäre die
Entscheidung über die Entfernung eines
Weisheitszahns, der die Gesundheit der andern Zähne gefährdet, dessen Entfernung
aber mit Schmerzen verbunden ist. In einem solchen Fall müssen die beiden
Bedürfnisse nach Gesundheit und Schmerzfreiheit gegeneinander abgewogen werden,
um das individuelle Interesse zu bestimmen.
Das bedeutet aber, dass man die
Bedürfnisse gegeneinander gewichten muss, dass also die Bedürfnistheorie
Aussagen über intraindividuell vergleichbare Bedürfnisintensitäten machen muss,
um die verschiedenen tangierten Bedürfnisse zu einem individuellen Interesse zu
aggregieren. {-305-} Solche komplexen Gewichtungen verschiedener
Bedürfnisbereiche sind jedoch vom gegenwärtigen Stand der Motiv- und
Bedürfnisforschung nur sehr grob zu leisten, obwohl hier in den letzten Jahren
erhebliche Fortschritte erzielt worden sind. Die Bedürfnisse und ihre Stärke
sind von Individuum zu Individuum verschieden und unterscheiden sich selbst beim
gleichen Individuum von einem Zeitpunkt zum andern. Insofern können
Rekonstruktionen von Interessen mittels einer Bedürfnistheorie nur mit Vorsicht
vorgenommen werden.
5. Die Annahme einer
Hierarchie der Bedürfnisse
Unter
dieser Bedingung erfolgt die individuelle Entscheidung zwischen verschiedenen
Alternativen in der Weise, dass zuerst das wichtigste Bedürfnis als Kriterium
herangezogen wird. Erfüllen mehrere Alternativen dies Bedürfnis gleich gut, so
wird das zweitwichtigste Bedürfnis zur Entscheidung herangezogen. Wenn auch dies
keine Entscheidung bringt, so zieht man das drittwichtigste Bedürfnis heran usw.
bis schließlich nur noch eine Alternative übrig bleibt, die dann dem Interesse
des Individuums am besten entspricht.
Wenn im obigen Beispiel das Bedürfnis nach
Gesundheit einen höheren Rang besitzt als das Bedürfnis nach Schmerzvermeidung,
so würde die Alternative: "Weisheitszahn ziehen" dem Interesse des Individuums am besten
entsprechen, denn sie erfüllt {-306-} das vorrangige Kriterium "Gesundheit" besser.
Solche lexikographischen Modelle menschlicher
Bedürfnishierarchien sind sicherlich einfacher zu erstellen als eindimensionale
Intensitätsskalen oder Nutzenfunktionen, und sie spielen bei der Vereinfachung
von Entscheidungsproblemen sicherlich eine gewisse Rolle. Mit einer
lexikographischen Ordnung kann man jedoch keinen Vergleich zwischen Bedürfnissen
verschiedener Stufen vornehmen. Es können also nicht geringe Unterschiede im
Befriedigungsgrad eines höheren Bedürfnisses durch große Unterschiede im
Befriedigungsgrad weniger wichtiger Bedürfnisse kompensiert werden. Damit stellt
sich jedoch die Frage, ob ein derartig vereinfachtes Modell noch eine
hinreichende Annäherung an die reale Beschaffenheit der menschlichen
Bedürfnisstruktur darstellt und für eine Rekonstruktion der individuellen
Interessen geeignet ist. In vielen Fallen existiert keine derartig fixierte
Prioritätenskala der Bedürfnisse, die ein starres Nacheinander in der
Befriedigung der verschiedenen Bedürfnisse erfordert. [[30] Zu den Möglichkeiten solcher hierarchischer
Bedürfnismodelle s. BAY 1970, S.12f. u. 327f. sowie die dort diskutierte
psychologische Literatur.]
6. Methodologische Probleme der Bedürfnistheorie
Der Begriff "Bedürfnis" bezeichnet in der empirischen
Psychologie kein unmittelbar der Beobachtung zugängliches Phänomen, sondern
stellt ein theoretisches Konstrukt dar. Theoretische Konstrukte haben nur einen
indirekten Bezug zur beobachtbaren Realität, insofern sich mit ihnen Aussagen
formulieren lassen, aus denen wiederum Hypothesen deduktiv ableitbar sind, die
dann unmittelbar der Beobachtung zugänglich sind. Wenn man sagt: "Individuum A
hat ein Bedürfnis zu trinken", so drückt man damit nicht einen in gleicher Weise
beobachtbaren Sachverhalt aus wie wenn man sagt: "Individuum A hat eine trockene
Zunge". Die Frage ist, wie man trotzdem die erstere Aussage empirisch überprüfen
kann und wie der Ausdruck "Bedürfnis zu trinken" (Durst) mit erfahrbaren
Phänomenen verknüpft ist.
In der
erfahrungswissenschaftlichen Theoriebildung dienen Bedürfnisfeststellungen dazu,
bestimmte Verhaltensweisen damit zu erklären, dass sie der Befriedigung dieses
Bedürfnisses dienen. Wenn man z. B. jemanden etwas trinken sieht, so kann man
dies Verhalten mit dem Vorhandensein von Durst erklären. Die Frage ist jedoch,
ob man durch eine solche bedürfnistheoretische Erklärung überhaupt irgendwelche
zusätzlichen Erkenntnisse über die Wirklichkeit gewonnen hat oder ob es sich
dabei nur um eine tautologische Formulierung handelt. Die Feststellung: "Individuum A hat getrunken, weil es Durst hat" hat {-308-} dann keinerlei zusätzlichen Erkenntniswert gegenüber der
Aussage "Individuum A hat getrunken", wenn sich die Tatsache des Durstes nicht
logisch unabhängig von der Tatsache des Trinkens feststellen lässt.
Es darf also
nicht der Zirkelschluss gemacht werden, dass man auf die Frage: "Wie stellt man
fest, dass A Durst hat?" antwortet "Am Trinken", und dass man auf die Frage: "Warum trinkt A?" antwortet: "Weil er Durst hat".[[31] Solcherart "hoffnungslose Zirkularität" bescheinigt
Joan ROBINSON dem Nutzenbegriff der neoklassischen erklärenden Preistheorie. S.
ROBINSON 1966, S. 148.]
Eine Möglichkeit, um das Bedürfnis unabhängig vom
Befriedigungsverhalten zu bestimmen und damit eine Tautologie zu vermeiden,
liegt darin, dass man als beobachtbaren Indikator für das Bedürfnis die verbalen
Äußerungen des Individuums nimmt, die sich auf seine introspektiv wahrnehmbaren
Empfindungen des Durstgefühls beziehen. Allerdings hätte eine solche "Theorie"
über die Ursachen des Trinkens weiterhin eine sehr geringe Erklärungskraft, denn
man könnte damit nur vorhersagen, dass ein Individuum, das das Bedürfnis zu
trinken äußert, trinken wird, sofern etwas Trinkbares verfügbar ist und keine
andern Bedürfnisse dem entgegenstehen.
Aussagekräftiger würde eine empirische
Theorie des Trinkbedürfnisses erst dadurch, dass man den Faktor 'Durst' in den
Zusammenhang weiterer theoretischer Aussagen stellt, indem man z. B. formuliert: "Wenn ein Mensch mehrere Stunden keine Flüssigkeit aufgenommen hat, so verspürt
er ein Durstgefühl, das mit wachsender Dauer stärker wird" oder "Je höher die
Außentemperatur ist, desto stärker entwickelt sich das Durstgefühl" oder "Wenn {-309-} Menschen starken Durst haben, suchen sie nach etwas
Trinkbarem" usw.
So ließe sich eine erfahrungswissenschaftliche Theorie des
Trinkbedürfnisses aufbauen, die für die Erklärung und Prognose menschlichen
Verhaltens brauchbar ist. Die Brauchbarkeit einer bestimmten Bedürfnistheorie in
erklärender Absicht lässt sich dabei im Prinzip daran beurteilen, wie gut diese
Theorie zur Erklärung und Prognose menschlichen Verhaltens geeignet ist und
unsere diesbezüglichen Fragen beantwortet. Durch das Kriterium der Erklärungskraft wird also in der empirischen Psychologie willkürlichen
Begriffsbestimmungen und Behauptungen über menschliche Bedürfnisse
entgegengewirkt.
Das Kriterium der Erklärungskraft kann jedoch nicht ohne
weiteres zur Bestimmung eines normativ anwendbaren Bedürfnisbegriffs
herangezogen werden. Während die empirische Bedürfnistheorie ein
Befriedigungsverhalten erklären soll, soll die normative Bedürfnistheorie
die Befriedigung fordern, d. h. sie dient zur Rekonstruktion des zu
berücksichtigenden individuellen Interesses angesichts einer
Entscheidungssituation. Eine erklärende Bedürfnistheorie wäre nur dann auf die
normative Problemstellung unverändert übertragbar, wenn gilt, dass sich die
Individuen immer gemäß ihren wirklichen Interessen verhalten. Wenn eine
erfahrungswissenschaftliche Bedürfnistheorie prognostizieren kann, wie sich ein
bestimmtes Individuum in einer Entscheidungssituation verhalten wird, so wäre
unter dieser Bedingung immer auch zugleich bestimmt, welche Entscheidung dem
Interesse des Individuums am besten entspricht. {-310-}
Wie jedoch oben ausgeführt wurde, entspricht das Verhalten
des Individuums nicht notwendig seinem wirklichen Interesse in Bezug auf die zur
Entscheidung anstehenden Alternativen, sondern tut dies nur, wenn bestimmte
Qualifikationsbedingungen erfüllt sind. Eine Bedürfnistheorie in normativer
Absicht müsste deshalb so beschaffen sein, dass sie die Entscheidung des
Individuums bei Erfüllung der Qualifikationsbedingungen der
Entscheidung bestimmt.
Damit ist für eine Bedürfnistheorie in normativer
Absicht
zugleich ein intersubjektiv zugängliches Falsifikationskriterium formuliert, das
einen Schutz gegen die beliebige Postulierung "wirklicher Bedürfnisse" bietet.
Die bedürfnistheoretische Rekonstruktion eines individuellen Interesses ist
dadurch überprüfbar und falsifizierbar, dass sich das Individuum tatsächlich für die bedürfnistheoretisch bestimmte Alternative entscheidet, sofern
die Qualifikationsbedingungen gegeben sind.
Wenn also irgendwelche Bedürfnisse eines Individuums
postuliert werden, so müssen diese letztlich durch die qualifizierten
Interessenäußerungen des betreffenden Individuums überprüfbar sein. Nur dann ist
gewährleistet, dass das Individuum diese von andern postulierten Bedürfnisse als
seine eigenen akzeptieren kann. Werden die individuellen Bedürfnisse jedoch über
Kriterien bestimmt, die vom qualifizierten Willen des betreffenden Individuums
unabhängig sind, so ist damit die Konsensfähigkeit in Bezug auf die
individuellen Interessen in Frage gestellt, die ja die grundlegende
Voraussetzung für die normative Anerkennbarkeit eines derart bestimmten
Gesamtinteresses und für die Gültigkeit der gewonnenen Normen darstellt. {-311-}
Ein Beispiel für eine unzulässige Abtrennung der
postulierten Bedürfnisse vom qualifizierten Willen des betreffenden Individuums
wäre etwa die Verbalhornung des psychoanalytischen Verdrängungskonzeptes. Dabei wird ein bestimmtes Verhalten beliebig als Ausdruck eines
verdrängten Wunsches interpretiert und diese Behauptung wird geschickt gegen
eine mögliche Widerlegung immunisiert, wie etwa im folgenden Beispiel.
Angenommen eine Frau zeigt sehr starke Besorgnis, wenn ihr
Mann mit dem Auto unterwegs ist. Sie ermahnt ihn häufig zu vorsichtiger
Fahrweise, zum Anlegen des Sicherheitsgurtes, zur Vermeidung von Fahrten während
der Dunkelheit, macht sich große Sorgen, wenn er später als erwartet kommt usw.
Dies Verhalten interpretiert nun jemand vulgär-psychoanalytisch als Ausdruck
eines verdrängten Wunsches der Frau. Er sagt etwa: "Diese außergewöhnliche
Besorgnis der Frau dient nur zur Verdeckung der verdrängten entgegen gesetzten
Motive der Frau und verrät, dass sie eigentlich ihren Mann hasst und den
unbewussten Wunsch hat, er möge verunglücken".
Die Frau mag diese
Motivunterstellung empört zurückweisen und ihre Besorgnis mit dem Hinweis
begründen, dass tatsächlich viele Autofahrer verunglücken und dass ihre Sorge
also berechtigt ist. Der "Psychoanalytiker" wird entgegnen, dass ihr entrüsteter
Protest nur wiederum beweise, dass sie einen starken Widerstand gegen die
Bewusstwerdung dieser Todeswünsche gegen ihren Mann hat und dass ihr
Rechtfertigungsversuch nur eine entsprechende 'Rationalisierung' darstellt.
Ob die Frau also den behaupteten Wunsch zugibt oder
abstreitet, jedes mögliche Verhalten dient nur der Bestätigung des theoretisch
postulierten Bedürfnisses {-312-} Die Frau befindet sich also in einer
Zwickmühlensituation: gibt sie den Wunsch zu, so wird die Behauptung bestätigt,
streitet sie ihn ab, so wird die Behauptung über den Todeswunsch ebenfalls
bestätigt. Damit hat sich eine solche Annahme von Bedürfnissen gegen jede
mögliche Widerlegung immunisiert und ist damit argumentativ unzulässig.
Da der Wille der Frau bei der Bestimmung ihrer eigenen
Bedürfnisse überhaupt keine Rolle spielt, stellt eine Norm, die aufgrund einer
derartigen Bestimmung des Bedürfnisses formuliert wird, nur ein bloßes
Gewaltverhältnis dar und ist nicht konsensfähig. {-313-}
Eine erste erhebliche Vereinfachung dieser Aufgabe ergibt
sich durch die Einführung individualistischer Entscheidungs-Systeme, in denen
für die Bestimmung der individuellen Interessen nur noch das betreffende
Individuum selber zuständig ist und kein direkter Konsens aller notwendig ist.
Trotzdem bleibt der Aufwand zur Ermittlung des Gesamtinteresses noch erheblich,
denn es müssen ja für sämtliche Alternativen jeder Entscheidung Informationen
über die individuellen Interessen aller Beteiligten erfasst und verarbeitet
werden.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass zwischen dem
Auftauchen des normativen Problems und dem Abschluss des Informations- und
Entscheidungsprozesses Zeit verstreicht. In dieser Zeit bleibt die Umwelt
jedoch nicht unverändert und auch die Interessen der Individuen sind zeitlichen
Veränderungen unterworfen. {-314-} Dadurch veralten die eingeholten Informationen, sodass eine
Entscheidung schon in dem Augenblick überholt sein kann, wo sie schließlich
getroffen wird. Oft sind relevante Alternativen, die anfänglich bestanden
hatten, nach Ablauf einer bestimmten Zeit z. B. überhaupt nicht mehr verfügbar.
Ein Alltagsbeispiel kann die
Bedeutung der Zeitbeschränkung im
Entscheidungsprozess verdeutlichen. Angenommen es gibt zu einem Ziel zwei
Verkehrsverbindungen: die Eisenbahn, die um 13 Uhr abfährt, und das Flugzeug,
das um 15 Uhr fliegt. Wenn man sich um 11 Uhr die Frage stellt, welches der
beiden Verkehrsmittel man wählen soll, so muss die Entscheidung spätestens
innerhalb von 2 Stunden getroffen sein, denn danach ist die Entscheidung bereits
von den Ereignissen überholt, da nur noch das Flugzeug bleibt.
Oft duldet eine Entscheidung keinen Aufschub oder eine
Entscheidung "drängt", wie man sagt. Ein bestimmtes Handeln muss innerhalb einer
bestimmten Frist normativ geregelt werden, wenn man nicht relevante Alternativen
vergeben will, die zwar anfänglich bestanden haben, deren Realisierung aber nach
einer bestimmten Zeit unmöglich wird. Schließt man den Entscheidungsprozess
später ab, so hat man sich damit praktisch gegen diese entgangenen Alternativen
entschieden. Die Kosten der Entscheidung bestehen neben dem Aufwand für
Information, Kommunikation und Organisation also auch in den durch die Dauer des
Entscheidungsprozesses bereits entgangenen Alternativen, von denen man erst im
Nachhinein erkennt, dass sie eigentlich hätten gewählt werden müssen.
Aus diesem
Grund spielen in der Praxis Verfahren zur Senkung des Aufwands und zur
Beschleunigung bei der {-315-} Ermittlung der individuellen Interessen und der Bestimmung
des Gesamtinteresses eine erhebliche Rolle. Viele Verfahren, die unter dem
Gesichtspunkt einer perfekten Messung der individuellen Nutzen vielleicht Mängel
aufweisen, erweisen sich aufgrund ihres geringen Aufwands und ihrer
Schnelligkeit als beste aller möglichen Verfahren der kollektiven Entscheidung.[[1] Zur Vereinfachung von Entscheidungsproblemen s. a. GÄFGEN 1968, Kap.9.]
Vor allem wenn es sich um
individualistische Entscheidungs-Systeme handelt, bei denen die Bestimmung der
individuellen Interessen durch die betreffenden Individuen selber erfolgt,
bedeutet eine derartige Dezentralisierung der Entscheidungsaufgaben eine
erhebliche Senkung des Entscheidungsaufwands. Es muss sich dann immer nur eine
begrenzte Anzahl von Individuen über die zur Entscheidung anstehenden
Alternativen informieren und ihr Interesse artikulieren, während sich die
übrigen Individuen damit gar nicht befassen {-316-}müssen. Zugleich wird die Menge der zur Aggregierung des
Gesamtinteresses nötigen Daten entsprechend verringert.
Das Problem ist jedoch, wie sich rechtfertigen lässt, dass
kollektive Entscheidungen, die für jedermann normative Gültigkeit beanspruchen,
nur von einem Teil der Individuen gefällt werden.
Die mögliche
Rechtfertigung für eine derartige Abgrenzung dezentraler Verfügungsbereiche
besteht darin, dass deren Einteilung entsprechend der Betroffenheit der Individuen vorgenommen wird.
Die Individuen
werden von einer Entscheidung in ihren Interessen nicht immer gleich stark
betroffen und bei vielen Entscheidungen werden die Interessen bestimmter
Individuen praktisch überhaupt nicht berührt. Für diese Individuen ist die
Entscheidung dann im wahrsten Sinne des Wortes "gleichgültig" und "uninteressant", denn sie haben für keine der Alternativen eine Präferenz. In
einem solchen Fall braucht die Interessenstruktur dieser Individuen gar nicht
erst berücksichtigt zu werden. Insofern diese der Entscheidung gegenüber
indifferent sind, wird die Gültigkeit der getroffenen Entscheidung auch dann
nicht problematisch, wenn diese Individuen an der Entscheidung nicht beteiligt
waren. [[2] ähnlich auch SCHWEMMER 1973, S.89f.]
Insofern sich die meisten natürlichen Prozesse mit Zunahme
der zeitlichen und räumlichen Entfernung in ihren Auswirkungen abschwächen,
liegt eine entsprechende Zusammenfassung der jeweils Betroffenen nach zeitlichen
und räumlichen Kriterien nahe. Vor allem die räumliche, territoriale Gliederung
der Individuen als Bewohner bestimmter Regionen ist ein verbreitetes Verfahren
der Vereinfachung kollektiver Entscheidungen. Man denke nur an die nach
räumlichen Kriterien bestimmten Staaten und ihre weiteren regionalen
Untergliederungen bis hinunter zur Zusammenfassung einer Siedlung zu einer
Gemeinde mit bestimmten Selbstverwaltungsrechten.
Je weiter ein Individuum
räumlich von einem bestimmten Eingriff entfernt ist, desto weniger ist es in der
Regel von der Entscheidung betroffen.[[3] Natürlich gibt es hier ganz wesentliche Ausnahmen, die
dann eine spezielle überregionale Organisation der Entscheidungsfindung
erforderlich machen. Man denke etwa an nukleare Explosionen in der Atmosphäre
oder die Verschmutzung von Flüssen, die Auswirkungen über tausende von
Kilometern haben können.]
So sind z. B. vom Bau eines Flughafens
vor allem die Bewohner der umliegenden Region betroffen, sei es als Benutzer
oder nur als Anwohner. Und von der Beschaffenheit des Schulsystems einer Region
sind vor allem die Bewohner dieser Region betroffen. [[4] Hier findet eine gezielte Einschränkung der Betroffenen
insofern statt, als die Schulgesetzgebung nur an die Bevölkerung einer
bestimmten Region adressiert ist und nur für diese Geltung besitzt.] Auch unterhalb der
Gemeindeebene lassen {-318-} sich räumlich bestimmte Gruppen gemeinsam betroffener
Individuen zusammenfassen, etwa die Bewohner von Ortsteilen, Straßenzügen,
Häusern oder Wohnungen bis hin zur Abgrenzung von Entscheidungsbereichen, von
denen vorwiegend ein einziges Individuum betroffen ist. [[5] Zur individuellen Verfügungssphäre s. u. § 78.] Zusätzliche
Vorteile solcher räumlich zusammenhängenden Entscheidungseinheiten bestehen in
der Minimierung der für die Entscheidungsfindung notwendigen Wege von
Informationen und Personen, wodurch eine Beschleunigung des
Entscheidungsprozesses erreicht wird.
Die zeitliche Gliederung der Individuen nach dem
Kriterium der Betroffenheit ergibt sich in individualistischen
Entscheidungs-Systemen automatisch dadurch, dass nur die jeweils lebenden
Individuen jedoch nicht die zukünftigen Generationen am Entscheidungsprozess
beteiligt sind. Oder es werden nur die jeweiligen Mitglieder einer
Entscheidungseinheit hinsichtlich ihrer Interessen berücksichtigt und nicht auch
diejenigen Individuen, die vielleicht zukünftig einmal zu dieser
Entscheidungseinheit gehören werden. [[6] Allerdings gibt es auch viele Eingriffe mit
außerordentlich langfristigen Auswirkungen für die folgenden Generationen. Als
Beispiele wären die Erschöpfung der natürlichen Bodenschätze oder
Aufforstungsmaßnahmen zu nennen.]
Neben den recht groben raum-zeitlichen Kriterien zur
Abgrenzung des Kreises der Betroffenen sind natürlich noch die verschiedensten
andern Gesichtspunkte heranzuziehen. So lassen sich etwa die Benutzer derselben {-319-}
sozialen Einrichtung oder die Beschäftigten desselben
Wirtschaftsbetriebes zu einem Kreis spezifisch Betroffener zusammenfassen.
Durch eine solche Beratung kann auch die Qualität der
individuellen Entscheidung erhöht werden, da sich nicht jedes Individuum selber
seine Informationen beschaffen muss, sondern auf bereits vorhandenes Wissen
zurückgreifen kann. Angesichts einer Vielzahl zu treffender Entscheidungen und
der Komplexität vieler Probleme könnte eine solche Information durch isolierte
Individuen bei der vorhandenen Zeitbeschränkung immer nur sehr oberflächlich
erfolgen.
Die Beratung muss dabei übrigens nicht notwendig durch "professionelle" Berater erfolgen, sondern kann von allen dafür geeigneten
Individuen gegeben werden, sei es, dass ein Individuum zufällig über den
anstehenden Entscheidungskomplex Bescheid weiß, oder sei es, dass es selber
früher einmal vor einer ähnlichen Entscheidung gestanden hat und bereits über
entsprechende Erfahrungen {-320-} verfügt.
Eine solche Beratung beinhaltet natürlich immer die
Möglichkeit, dass der Experte nicht nur die Interessen der zu Beratenden
verfolgt, sondern auch seine eigenen Interessen durch eine entsprechend
zurechtgemachte Information einfließen lässt. Diese Macht zur Beeinflussung der
kollektiven Entscheidung aufgrund eines Informationsvorsprungs kann jedoch durch
bestimmte institutionelle Mechanismen beschränkt werden. So besteht eine Form
der Kontrolle darin, dass der Ratsuchende sich den Berater seines Vertrauens
selber aussuchen kann und diesen auch wechseln kann, wenn der Berater sein
Vertrauen verloren hat. [[7] Natürlich muss es auch einen Mechanismus geben, der den
ausgewählten Berater dann dazu motiviert, diese Beratung für das betreffende
Individuum auch nach besten Kräften zu leisten. Wo dies durch Bezahlung
geschieht, mag es sein, dass Individuen zwar das formale Recht, aber nicht die
faktische Möglichkeit zur Wahl eines qualifizierten Beraters haben, da ihnen das
notwendige Geld fehlt.]
Ein anderer Mechanismus zur Kontrolle der Berater ist die
Existenz einer Mehrzahl voneinander unabhängig tätiger Berater, die durch ihre
unterschiedlichen Informationen und Ratschläge wechselseitig eine Kontrolle
aufeinander ausüben. Diese Kontrolle ist jedoch gefährdet, wenn es ein
Wissensmonopol auf dem betreffenden Gebiet gibt. Außerdem ist die wechselseitige
Kontrolle der Berater auch dann unwirksam, wenn die Berater selber eine Gruppe
mit spezifischer Interessenlage sind. Denn - wie der Volksmund sagt - "Eine Kräher
hackt der anderen kein Auge aus." {-321-}
Dabei können die Vertretungsbefugnisse des Repräsentanten
je nach konkretem Entscheidungsverfahren unterschiedlich weit reichen. So kann
der Repräsentant einmal nur die Funktion haben, die Entscheidung der vertretenen
Individuen zu übermitteln und die Argumente hierfür vorzutragen; oder aber der
Interessenvertreter hat die Befugnis, innerhalb festgelegter Grenzen selbständig
zu entscheiden. Auch eine völlige Übertragung der Entscheidungsvollmacht für
einen bestimmten Zeitraum oder bis auf Widerruf ist denkbar.
Bei der Interessenvertretung stellt sich das Problem der
möglichen Interessenverfälschung natürlich in noch schärferem Maße als bei der
bloßen Beratung. Denn der Repräsentant mit Entscheidungsvollmacht formuliert ja
selber die Interessen der von ihm vertretenen Individuen. Diese greifen in den
kollektiven Entscheidungsprozess - abgesehen von der Ernennung der
Repräsentanten - nicht mehr aktiv ein. Sie sind u. U. über die getroffenen
Entscheidungen gar nicht mehr informiert, weil sie ja in räumlicher Trennung und
ohne ihre Anwesenheit formuliert und gefällt werden. {-322-}
Dadurch ist die
Möglichkeit zur Verselbständigung der
Repräsentanten von den Interessen der von ihnen Repräsentierten besonders groß.
Die Interessenvertreter können sowohl durch verzerrte Interessenformulierung die
Entscheidung in ihrem individuellen Sinne beeinflussen wie auch durch eine
gezielte Informationsauswahl, wenn nicht entsprechende Kontrollen der
vertretenen Individuen dem entgegenwirken. Diese Kontrolle ist vor allem dadurch
wichtig, weil mit der Benutzung von Repräsentationsverfahren immer auch die
Möglichkeit der Bestechung der Repräsentanten gegeben ist.
Ebenso wie bei der Einschaltung von Beratern ist es eine
entscheidende Bedingung der Kontrolle, dass die Interessenvertreter von den
betreffenden Individuen oder Gruppen selber bestimmt werden und dass sie einen
neuen Repräsentanten bestimmen können, wenn der alte ihr Vertrauen verloren hat.
Allerdings bringt eine solche generelle Formulierung auch
Probleme mit sich, weil kein Fall dem andern völlig gleicht, diese aber trotzdem
durch die generelle Norm gleich behandelt werden.[[8] s. o. § 27 zu generellen Normen.] "Die Rechtsnorm ist eine
generalisierte Entscheidung, durch die verbindlich das Verhalten von Kollektiven
und Einzelpersonen mit staatlicher Sanktion vorgeschrieben wird. Sie begründet
subjektive Rechte und Pflichten. Dabei sieht die Rechtsnorm, und darin besteht
ihr Gehalt als generalisierte Entscheidung, von den Besonderheiten des
Einzelfalles ab." [[9] HEUER u. a. 1971, S.26.]
Wenn z. B. die generelle Norm gilt: "Fußgänger dürfen
bei roter Ampel nicht die Straße überqueren", so stellt sich die Frage, ob diese
Norm auch dann noch sinnvoll ist, wenn z. B. nachts so gut wie gar kein
Autoverkehr mehr herrscht. Muss der Fußgänger z. B. auch dann warten, wenn durch
einen technischen Defekt die Ampel dauernd "rot" zeigt? Soll er auch warten,
wenn er gerade jemanden verfolgt, der ihm die Brieftasche gestohlen hat?
Einem Teil dieser Fälle kann man sicherlich durch die
Aufstellung spezieller ergänzender Normen gerecht werden, indem z. B. bestimmt
wird, dass die Ampel nicht beachtet zu werden braucht, wenn der Verkehr durch
einen Polizisten per Handzeichen geregelt wird. Für solche generellen
Ausnahmeregelungen gibt es jedoch ebenfalls Grenzen ihrer Anwendbarkeit, weil
dadurch {-324-} der Aufwand der Normsetzung wieder ansteigt.
Vor allem wird
durch eine Vielzahl solcher Ausnahmeregelungen die Anwendung und Durchsetzung
des betreffenden Normensystems sehr erschwert, denn es ist für die Adressaten
unübersichtlicher. Dadurch ist diesen die Kenntnis und damit notwendigerweise
auch die Befolgung der Normen erschwert. Dies wiederum kann nur durch einen
erhöhten Aufwand an Belehrung der Adressaten ausgeglichen werden. [[10] Eine gewisse Anpassung einer generellen Norm an den
Einzelfall kann durch die Instanzen erfolgen, die Normverletzungen feststellen
und Sanktionen festsetzen. Hier können dann "mildernde" oder "erschwerende"
Umstände berücksichtigt werden.]
Das Problem der Starrheit solcher generellen Normen
ergibt sich auch durch die Geltungsdauer über einen längeren Zeitraum hinweg.
Einerseits ist diese unter dem Gesichtspunkt der Aufwandssenkung und der
Normdurchsetzung vorteilhaft, andererseits ändern sich jedoch mit der Zeit auch
die Umstände, und oft konnten diese Veränderungen bei der Aufstellung der Norm
noch nicht berücksichtigt werden. So kann z. B. eine im Laufe der Zeit
gestiegene Verkehrsdichte die Senkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
erforderlich machen. Auch hier ist also zwischen den Vorteilen einer möglichst
genauen Anpassung der Normen an die jeweiligen Verhältnisse und den dabei
auftretenden Umstellungskosten abzuwägen. [[11] Man denke etwa an die gewaltigen Umstellungskosten
bei der Umstellung eines Landes von Linksverkehr auf Rechtsverkehr, wie sie in
Schweden vollzogen wurde.]
Eine gewisse Milderung der Starrheit genereller Normen kann
durch allgemeine Formulierungen erreicht werden, bei denen Begriffe Verwendung
finden, deren {-325-} deskriptiver Gehalt weitgehend unbestimmt bleibt, also
sogenannte Leerformeln benutzt werden. Deren inhaltliche Ausfüllung
und Präzisierung bleibt dabei jenen Instanzen überlassen, die Normverletzungen
festzustellen haben. [[12] Die positiven Aspekte solcher Leerformeln auf der
Verfassungsebene nennt DENNINGER 1973, S.26f. Zu Leerformeln s. a. oben § 26.]
Allerdings werfen derartige Leerformeln andere
Probleme auf, z. B. Das Problem der Rechtssicherheit, die für die Durchsetzung
von Normen von erheblicher Bedeutung ist. Außerdem entsteht das Problem der
Legitimation derjenigen Instanzen, die die Leerformeln ausfüllen und dadurch
nicht nur Normen interpretieren, sondern genaugenommen erst schaffen. Eigentlich
wird das Problem der Anpassung von Normen an die Besonderheiten des Einzelfalles
durch die Verwendung von Leerformeln nicht gelöst, sondern nur von der normsetzenden auf die
auslegende Instanz verschoben.
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Methodologie normativer
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Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse"
Letzte Bearbeitung 29.03.2011 / Eberhard Wesche