Ethik-Werkstatt - Volltexte im HTML-Format - kostenlos

-->Übersicht       -->Alphabetische Liste aller Texte       -->Info zu dieser Website       -->Lexikon       -->Startseite


Methodologie normativer Wissenschaft

 

Inhalt:

Der Werturteilsstreit und das positivistische Wissenschaftsprogramm
Die Konsenstheorie der Wahrheit
Sollen kommt von Wollen
Vertraglicher Konsens und Verallgemeinerbarkeit
Das Solidaritätsprinzip
Der Begriff des Interesses
Die Beschränkung der verfügbaren Alternativen durch Machtverhältnisse
Die Bestimmung der individuellen Interessen




Textanfang

   
Der Werturteilsstreit und das positivistische Wissenschaftsprogramm

Die erkenntnistheoretische Situation in den Wissenschaften ist geprägt durch den Erfolg der Naturwissenschaften und die Übernahme erfahrungswissenschaftlicher Methoden durch die Sozialwissenschaften.

Beispielhaft für diese Wendung zu einer positiven, werturteilsfreien Sozialwissenschaft ist Max Webers Aufsatz aus dem Jahre 1904 mit dem Titel "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis".

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten war das positive Wissenschaftsprogramm in den Sozialwissenschaften weiter auf dem Vormarsch. Vertreter dieses Programms waren im deutschen Sprachbereich Theoretiker wie Geiger, König, Popper, Topitsch oder Albert. Erst seit dem Ende der 60er Jahre begann sich hier eine Wende abzuzeichnen, die im deutschen Sprachraum durch Namen wie Habermas, Apel oder Lorenzen repräsentiert wurde und die eine Wiederbelebung normativer Fragestellungen mit sich brachte.

Ohne auf die einzelnen Theoretiker einzugehen, lässt sich der Kern der positivistischen Argumentation gegen die Möglichkeit einer normative Wissenschaft in folgendem Gedankengang zusammenfassen:

Zum einen wird festgestellt, dass nur Behauptungen positiver Art anhand von Beobachtung überprüfbar sind.

Zum andern gilt, dass mit Hilfe der Logik nur die in den Prämissen bereits enthaltenen Implikationen erschlossen werden können, dass jedoch durch logische Deduktionen keine völlig neuen Bedeutungselemente abgeleitet werden können.

Aus diesen Feststellungen ergibt sich nun, dass es unmöglich ist, aus ausschließlich positiven Prämissen irgendwelche normativen Behauptungen logisch zu deduzieren, da letztere ein völlig neues Bedeutungselement darstellen. Damit ist jeder Schluss von Seins-Aussagen auf Sollens-Aussagen als logisch fehlerhaft nachgewiesen.

Auf diesen unzulässigen Übergang vom Sein auf das Sollen hatte bereits Hume hingewiesen, weshalb in diesem Zusammenhang auch manchmal von 'Humes Gesetz' gesprochen wird. (S. David Hume, A Treatise on Human Nature, Penguin Books 1969, S.521). Aber erst mit der logisch und sprachanalytisch vorgehenden Philosophie des modernen Positivismus erhielt diese Kritik ihre volle Durchschlagskraft.

Die positivistische Kritik am Schluss vom Sein auf das Sollen entzieht vielen traditionellen Begründungsversuchen normativer Systeme die Grundlage. Wer aus der "Natur" der Sache folgern will, wie die Sache beschaffen sein soll, wer aus dem "Wesen" des Menschen oder des Staates folgern will, wie der Mensch bzw. der Staat beschaffen sein soll, wer aus dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte folgern will, wie die Geschichte verlaufen soll, wer aus biologischen Entwicklungsgesetzen folgern will, wie sich die Menschen entwickeln sollen: bei jeder dieser Theorien wird entweder ein logischer Fehlschluss vom Sein auf das Sollen vorgenommen, oder aber es ist bereits unbemerkt ein normatives Element vorausgesetzt worden, was durch die versteckte positiv-normative Doppeldeutigkeit solcher Begriffe wie "Natur", "Wesen", "Notwendigkeit", "Gesetz" "Funktion", "Ziel", "Aufgabe", "Sinn", "Bedeutung" etc. ermöglicht wird.

Indem die Positivisten nun "Wissenschaft" mit "Erfahrungswissenschaft" und "Wahrheit" mit "empirischer Wahrheit" gleichsetzten, zogen die Positivisten den Schluss, dass sich Normen und Werturteile überhaupt nicht wissenschaftlich begründen lassen.

Beispielhaft für diese Argumentation ist die folgende Passage des Organisationstheoretikers und Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaft Herbert A. Simon: "Um zu bestimmen, ob eine Aussage korrekt ist, muss sie unmittelbar mit der Erfahrung - mit den Fakten - verglichen werden, oder sie muss durch logisches Argumentieren zu anderen Aussagen führen, die mit der Erfahrung verglichen werden können. Aber faktische Aussagen können durch keinerlei Argumentationsprozess aus ethischen Aussagen abgeleitet werden, noch können ethische Aussagen unmittelbar mit den Fakten verglichen werden - denn sie behaupten eher ein Soll als ein Faktum. Daher gibt es keinen Weg, auf dem die Korrektheit ethischer Aussagen empirisch oder rational getestet werden kann. Aus dieser Sicht bedeutet dies, dass, wenn ein Satz ausdrückt, dass ein bestimmter Zustand der Dinge sein soll oder dass er vorzuziehen oder wünschenswert ist, dass dann der Satz eine imperative Funktion erfüllt und weder wahr noch falsch, korrekt noch inkorrekt ist." (H.A. Simon, Administrative Behavior, S. 46).

Durch die hier vorgenommene Verengung des Wahrheitsbegriffs auf logische und empirische Wahrheit ist natürlich die Frage nach möglichen Wahrheitskriterien für normative Behauptungen noch keineswegs abschließend  beantwortet, denn es können für normative Behauptungen ja andere Kriterien ihrer Gültigkeit gelten. Sofern die dem positivistischen Wissenschaftsprogramm verpflichteten Sozialwissenschaftler nicht völlig auf die Behandlung normativer Fragestellungen verzichteten und sich jeder expliziten Kritik oder Rechtfertigung gesellschaftlicher Verhältnisse enthielten, blieben ihnen nur die bereits von Max Weber aufgezeigten Möglichkeiten: "Bestenfalls kann man Werturteile noch aus übergeordneten Normen ableiten, die dann ihrerseits nicht beweisbar sind, oder man kann mehrere Normen als logisch unvereinbar oder als angesichts der Zusammenhänge in der Realität nicht gleichzeitig realisierbar nachweisen. Aber es ist nicht möglich, jemandem zu beweisen, dass die von ihm akzeptierten letzten Normen schlechter sind als die unseren sind." (Peter Bernholz, Politische Ökonomie, UTB, Bd.1, S. 26.)

Da Bernholz andererseits davon ausgeht, dass gerade auf politisch-ökonomischem Gebiet normative Fragen nicht eliminiert werden sollten, bleibt ihm nichts andres übrig, "als die von uns in der Folge verwendeten Werturteile explizit hervorzuheben und es dem Leser zu überlassen, ob er sie - als nicht beweisbar - sich zu eigen machen will oder nicht." (S. 26). Bernholz sieht also nur die Möglichkeit, normative Politik- und Wirtschaftswissenschaft auf der Grundlage von letztlich nicht begründbaren, per Dezision eingeführten Wertprämissen zu betreiben. Die Frage ist, ob und wie sich diese unbefriedigende Situation überwinden lässt.

zurück zum Anfang

    Die Konsenstheorie der Wahrheit

Ein wichtiger Schritt zur erneuten Inangriffnahme der normativen Fragestellungen war die Kritik am verengten Wahrheitsbegriff der Positivisten, die Wahrheit nur positiven Aussagen zukommen lassen wollten. Demgegenüber thematisierte vor allem Habermas die "Wahrheitsfähigkeit praktischer (d. h. normativer, E.W.) Fragen" und entwickelte im Anschluss an Theoretiker wie Toulmin eine "Konsenstheorie der Wahrheit", die beinhaltet, dass Behauptungen nur dann Wahrheit zukommt, wenn über sie in einem herrschaftsfreien Diskurs ein Konsens herstellbar ist.

Dieser Wahrheitsbegriff war nun auch auf normative Behauptungen anwendbar. Offen blieb bei Habermas jedoch, welche Art von Argumenten bei normativen Streitfragen den Konsens ermöglichen. Für die normative Wissenschaft musste ein Kriterium von ähnlicher Leistungsfähigkeit gefunden werden wie die intersubjektiv übereinstimmende Erfahrung in den positiven Wissenschaft. Die Antworten, die von Theoretikern wie Habermas, Apel und Lorenzen hier gegeben werden, gehen allerdings über allgemeine Prinzipien nicht hinaus.

zurück zum Anfang

    Sollen kommt von Wollen

Um die Frage zu beantworten, wie über normative Behauptungen ein argumentativer Konsens möglich ist, muss zuerst Klarheit darüber geschaffen werden, was der Kern eines normativen Dissens ist. Normative Behauptungen, die die Form eines Soll-Satzes haben wie "Der Zustand x soll sein!" (oder in diese Form gebracht werden können), konstatieren nicht die Beschaffenheit der Wirklichkeit, wie die positive Behauptung: "Der Zustand x ist gegeben", sondern sie drücken ein Willensverhältnis zur Welt aus. Wenn jemand sagt: "Ich will, dass der Zustand x besteht!", so lässt sich der Inhalt dieses Wollens in dem Soll-Satz wiedergeben "Zustand x soll sein!".

Zugespitzt könnte man deshalb sagen: "Sollen kommt von Wollen", und insofern ist der Kern eines Dissens über normative Behauptungen ein Konflikt zwischen Willensinhalten, die miteinander nicht vereinbar sind. (Entsprechend ist der Kern eines Dissens über positive Behauptungen ein Konflikt von miteinander nicht zu unvereinbarenden Erfahrungen.) Ein Konsens über eine normative Behauptung erfordert deshalb die Einigung auf ein allen gemeinsames Wollen. Zugespitzt ausgedrückt liegt der Frage "Was soll sein?" die Frage "Was wollen wir?" zugrunde.

                                                                                                zurück zum Anfang

    Vertraglicher Konsens und Verallgemeinerbarkeit

Aufgrund des Gesagten erfordert die Bestimmung allgemeingültiger normativer Behauptungen die Bestimmung eines argumentativ konsensfähigen Gesamtwillens bzw. Gesamtinteresses angesichts möglicherweise kollidierender individueller oder partikularer Interessen. Zur Lösung dieses Problems hat es in der Geschichte der politischen Philosophie verschiedene Versuche gegeben, die hier allerdings nur kurz gestreift werden können.

Eine Gruppe kann man als "Vertragstheorien" bezeichnen, da sie das Gesamtinteresse durch einen fiktiven vertraglichen Konsens bestimmen lassen wollen. Problematisch daran ist, dass bei Verträgen die Verhandlungsmacht der Beteiligten eine entscheidende Rolle spielt und es sich folglich nicht um einen zwanglosen Konsens handelt. Dies wird z. B. bei Verträgen zur Beendigung von Kriegen deutlich, die ja auch von der Verliererpartei "freiwillig" zur Vermeidung weiterer Verluste unterschrieben werden. Durch die Wirksamkeit der "stummen Gewalt der Verhältnisse" in jedem Vertrag unterscheidet sich der vertragliche Konsens also prinzipiell von einem gewaltfreien, rein argumentativen Konsens.

Zwar drückt der Vertrag ein gemeinsames Interesse der Beteiligten aus, aber dies gemeinsame Interesse am Vertragsabschluss besteht nur im Verhältnis zu der Alternative, überhaupt keinen Vertrag abzuschließen und in den bestehenden Zustand nicht weiter einzugreifen. Der Vertragsabschluss ist also keineswegs die für alle Beteiligten beste denkbare Alternative.

Eine andere Gruppe von Versuchen orientiert sich am Kriterium der "Verallgemeinerbarkeit" von Interessen oder Handlungsmaximen. Hierzu gehört z. B. die so genannte 'Goldene Regel': "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!" und der Kantsche 'Kategorische Imperativ': "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Ohne auf die Interpretationsprobleme des Kategorischen Imperativs hier eingehen zu können, sei nur soviel gesagt, dass z. B. allein die generelle Anwendbarkeit einer Norm wie "Ehefrauen sollen ihren Ehemännern Gehorsam leisten" noch nicht ihre Konsensfähigkeit für jedes Individuum beinhaltet.

Auch die Goldene Regel erweist sich als unzureichend, z. B. wenn die Interessenstruktur der Beteiligten unterschiedlich ist. So mag es sinnvoll sein, einem Liebhaber von Zwölftonmusik eine Schönberg-Platte zu schenken, obwohl man selber vielleicht die Platte nicht geschenkt haben möchte.

zurück zum Anfang

    Das Solidaritätsprinzip

Wenn vertraglicher Konsens und Verallgemeinerbarkeit als Kriterien zur Bestimmung des Gesamtinteresses methodologisch unzureichend sind, bleibt die Frage, wie sonst ein argumentativer Konsens über das Gesamtinteresse zu finden ist.

Die These, die hier vertreten wird und im Folgenden näher begründet werden soll, lautet:

Ein argumentativer Konsens über die Bestimmung eines Gesamtinteresses ist dann möglich, wenn jeder die Interessen jedes andern so berücksichtigt, als seien es zugleich seine eigenen.

Eine derartige wechselseitige Interessenberücksichtigung kann als "solidarische" Interessenberücksichtigung bezeichnet werden, weshalb das Prinzip als "Solidaritätsprinzip" bezeichnet werden soll
.

Das Solidaritätsprinzip verlangt bei einem Streit um normative Behauptungen, dass man sich in die Lage jedes der Beteiligten hineinversetzt, um dessen Interessen zu erfassen. Die so bestimmten individuellen Interessen müssen dann gegeneinander abgewogen werden, um diejenige Alternative zu bestimmen, die den interessen aller Individuen gemeinsam am besten entspricht.

Ähnliche Konzeptionen wurden in der Geschichte der Ethik und Sozialphilosophie bereits verschiedentlich formuliert. Insofern beansprucht dies Solidaritätsprinzip keine Originalität. Zu nennen wäre etwa das utilitaristische Prinzip des "größten gesellschaftlichen Nutzens", wie es von Jeremy Bentham oder John Steward Mill vertreten wurde, oder auch das "Abwägungsprinzip" des deutschen Philosophen Leonard Nelson (1882-1927). Allerdings unterscheiden sich die Begründungen, die von den genannten Theoretikern für das Prinzip gegeben werden, z. T. erheblich von dem hier entwickelten Gedankengang.

 zurück zum Anfang

    Der Begriff des Interesses

Das Solidaritätsprinzip, das bei Vorliegen eines Interessen- bzw. Willenskonflikts einen argumentativen Konsens ermöglichen soll, verlangt von allen Beteiligten, dass für die normative Regelung solcher Konflikte jeder die Interessen jedes andern so berücksichtigt, als seien es zugleich seine eigenen. Die Brauchbarkeit eines solchen Prinzips steht und fällt natürlich mit der Frage, inwieweit sich ein Interessenbegriff bestimmen lässt, der auch quantitative Vergleiche der Interessen verschiedener Personen zulässt. In der Sprache des Utilitarismus formuliert, muss also ein "intersubjektiver Nutzenvergleich" vorgenommen werden. Hier liegen noch erhebliche Probleme, die auch von den folgenden Ausführungen nur ansatzweise gelöst werden können.

Zur Klärung des Interessenbegriffs ist es als erstes nötig, sich klarzumachen, dass sich die Interessen eines Individuums je nach Situation ändern können und dass Interessen insofern immer nur situationsbezogen formuliert werden können. Jemand mag z. B. in einer bestimmten Situation ein Interesse daran haben, dass eine bestimmte Buslinie zu seinem Arbeitsplatz häufiger verkehrt, aber dies Interesse mag dadurch verschwinden, dass er sich ein Auto anschafft und damit zur Arbeit fährt. Daran wird deutlich, dass Interessenbestimmungen nur sinnvoll sind, wenn sie auf eine bestimmte Situation bezogen sind.

Zur Präzisierung des Interessenbegriffs ist es weiterhin nötig, sich den engen Zusammenhang des Interesses zum Begriff der Möglichkeit deutlich zu machen. Interessen drücken nicht aus, wie die Welt ist oder wie sie sein wird, sondern sie beinhalten, wie die Welt vom Standpunkt des betreffenden Subjekts her sein sollte. Es wäre aber völlig sinnlos, etwas zu fordern, was unabhängig von menschlichem Wollen und Handeln sowieso eintritt bzw. nicht eintritt, wie etwa der abendliche Sonnenuntergang. Sinnvoll fordern kann man nur das Mögliche im Sinne des Realisierbaren und von dorther bezieht sich ein Interesse immer auf einen Bereich verschiedener Möglichkeiten. In diesem Sinne stellt die Entscheidungstheorie auch das Interesse eines Subjekts in einer gegebenen Situation dar als Bewertung verschiedener Alternativen. (Zur Entscheidungstheorie siehe G. GÄFGEN: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Tübingen: Mohr 1968.) Deshalb besteht ein wichtiges Problem jeder Interessenbestimmung darin, bezogen auf eine gegebene Situation den Bereich des Möglichen, d. h. die in Frage kommenden Alternativen festzustellen.

Weiterhin hängt die Interessenbestimmung natürlich vom Zeithorizont ab, den man anlegt. So unterscheidet man gewöhnlich auch zwischen kurzfristigen und langfristigen Interessen. Eine Alternative, die kurzfristig im Interesse eines Individuums liegen mag, kann aufgrund negativer längerfristiger Konsequenzen ihren Wert einbüßen. Insofern muss bei jeder Interessenbestimmung der Zeithorizont verdeutlicht werden. Die Alternativen dürfen nicht nur als statische Zustände bewertet werden, sondern in die Bewertung müssen die absehbaren zukünftigen Konsequenzen der Alternativen mit einbezogen werden.

Wenn man nun die verschiedenen Alternativen durch Buchstaben symbolisiert (x, y, z usw.), so lassen sich die Interessen eines Individuums z. B. durch die Rangfolge der Alternativen gemäß seiner Interessenlage ausdrücken, z. B. x < y < z. (Das Zeichen "<" bedeutet: "ist mehr im Interesse als" bzw. "ist besser als".) Eine solche Rangfolge der Alternativen, die in der Entscheidungstheorie auch "Präferenzordnung" genannt wird, stellt eine ordinale Bewertung der Alternativen dar, d. h. der Wert - oder wie der in der Entscheidungstheorie gebräuchliche Terminus lautet - der "Nutzen" der Alternative für das Individuum wird auf einer ordinalen Skala gemessen.

Bei einer ordinalen Nutzenmessung kann man nur sagen, ob eine Alternative x für ein bestimmtes Individuum besser ist als eine andere Alternative y. Man kann jedoch nicht sagen, um wie viel x besser ist als y, bzw. wie groß das Interesse des Individuums daran ist, dass x und nicht y realisiert wird. Dazu wäre ein höheres Messniveau erforderlich, z. B. auf einer kardinalen Skala, wo der Nutzen einer Alternative durch Zahlen wiedergeben wird, so dass die Nutzendifferenz zwischen zwei Alternativen größenmäßig bestimmbar ist.

Insofern das Solidaritätsprinzip nun ein Abwägen unterschiedlicher individueller Interessen beinhaltet, ist im Idealfall eine kardinale Messung der Nutzen erforderlich, wobei außerdem noch die interpersonale Vergleichbarkeit dieser Messungen gewährleistet sein muss. Die damit verbundenen Probleme sollen hier jedoch nicht weiter verfolgt werden.

     Die Beschränkung der verfügbaren Alternativen durch die Machtverhältnisse

Nachdem die formale Beschreibung der Interessenlage eines Individuums in einer gegebenen Situation skizziert wurde, soll im Folgenden auf die Rolle von Machtverhältnissen bei der Interessenbestimmung eingegangen werden. Wenn Interessen situationsabhängig sind, so lassen sich offenbar Interessen auch durch Veränderung der Situation verändern. Daraus folgt, das derjenige, der die Macht hat, die Situation zu verändern, damit auch die Interessen der Beteiligten zu seinen Gunsten verändern kann.

Ein einfaches Beispiel soll den Gedankengang verdeutlichen.

Wenn einem Individuum eine Pistole an die Schläfe gehalten wird mit den Worten: "Geld her oder ich schieße!", so hat der Überfallene nur die Wahl zwischen den beiden Alternativen "Geld herausgeben und überleben" und "Geld nicht herausgeben und erschossen werden". Da ihm sein Leben wichtiger ist als der Inhalt seiner Brieftasche, zieht der Überfallene die Alternative "Geld herausgeben und überleben" der Alternative "Geld nicht herausgeben und erschossen werden" vor. Es liegt jetzt also im Interesse des Überfallenen, sein Geld herauszugeben. Die eigentlich von ihm bevorzugte Alternative "Geld behalten und überleben" ist wegen der Drohung des Räubers für den Überfallenen nicht mehr verfügbar.

Allgemein gesprochen heißt das: Durch Androhung negativer Konsequenzen kann ein Mächtiger eine bestimmte Alternative für ein anderes Individuum nicht mehr wünschenswert machen, obwohl diese Alternative eigentlich den Interessen dieses Individuums am besten entsprochen hatte. Der Mächtige kann so die Interessen anderer Individuen mit seinen eigenen zur Übereinstimmung bringen: Im obigen Beispiel ist es sowohl im Interesse des Räubers wie des Überfallenen, dass das Geld herausgegeben wird.

Einige weitere Beispiele können dies Problem und seine Bedeutung veranschaulichen. Wenn z. B. ein Unternehmer einen Arbeiter nach Stücklohn bezahlt, so ist es auch im Interesse des Arbeiters, möglichst viele Stücke zu produzieren und damit entsprechend mehr Lohn zu erhalten. Hier stellt ein Belohnungssystem eine partielle Interessenübereinstimmung her.

Um ein letztes Beispiel zu geben: Unter der Voraussetzung, dass eine kapitalistische Wirtschaftsordnung gegeben ist, kann es im langfristigen Interesse der Beschäftigten eines Betriebes liegen, die eigenen Lohnforderungen zu beschränken, um die Rentabilität des Kapitals und damit die zukünftige Existenz des Betriebes und ihrer Arbeitsplätze nicht zu gefährden. Auch hier ergeben sich unerwartete Übereinstimmungen der Interessen, weil der Kapitalbesitzer die Macht hat, auf Lohnforderungen mit Betriebsstilllegungen zu reagieren.

Die angeführten Beispiele zeigen, dass eine normativ akzeptable Bestimmung der individuellen Interessen problematisch ist, solange man nicht präzisiert, was in einer Situation an Ausgangsbedingungen und Konsequenzen als gegeben hingenommen werden muss und was zur Disposition steht.

Beim Beispiel des Überfalls bleibt genau genommen auch die Alternative möglich und realisierbar, dass der Überfallene sowohl sein Geld als auch sein Leben behält. Dazu muss der Räuber nur seine Pistole wegzustecken und von dem Überfall Abstand zu nehmen, was ihm grundsätzlich möglich ist. Die Realisierung der Alternative "Geld und Leben behalten" ist also zwar dem Überfallenen mit seinen Mitteln nicht möglich, aber sie ist "menschenmöglich", d. h. sie kann bei entsprechendem Willen aller Beteiligten realisiert werden und ist deshalb bei normativen Überlegungen zu berücksichtigen.

Ohne auf die Probleme näher einzugehen, die mit der Abgrenzung des Bereichs "menschenmöglicher" Alternativen verbunden ist sind, soll hier nur festgehalten werden, dass der Bereich der Alternativen nicht durch Machtausübung bestimmter Individuen eingeschränkt sein darf. Sanktionen bzw. Sanktionsdrohungen in Form negativer oder positiver Konsequenzen auf bestimmte Handlungen dürfen hei der Interessenbestimmung nicht als gegeben hingenommen werden, sondern müssen selber zur Disposition gestellt werden. Solche Konsequenzen ergeben sich ja nicht naturnotwendig, sondern aufgrund menschlichen Handelns. Insofern sind sie bei entsprechendem Willen der Beteiligten auch vermeidbar. Nur wenn die individuellen Interessen im Bereich des Menschenmöglichen bestimmt werden, ergeben sie eine Grundlage für die Bestimmung derjenigen Alternative, die dem normativ verbindlichen Gesamtinteresse am besten entspricht.

Eine solche Bestimmung der im Gesamtinteresse liegenden Alternative unter der Voraussetzung des "guten Willens" aller Beteiligten ist unverzichtbar, schon um von dorther Verhältnisse zu kritisieren, in denen mächtige Individuen oder Gruppen die Realisierung dieser besten Alternative verhindern.

Andererseits ist man in praktischen Entscheidungssituationen gewöhnlich gezwungen, bestimmte Machtverhältnisse zumindest gegenwärtig als gegeben hinzunehmen und unter diesen Bedingungen nach der "nächst besten" Lösung zu suchen, die auch unter den bestehenden Machtverhältnissen realisierbar ist. Da dies Realisierungsproblem von allgemeinen ethischen Theorien gewöhnlich nicht berücksichtigt wird, entsteht häufig eine Aversion gegen eine "bloß moralische" Kritik, die zwar demonstriert, was gesellschaftlich wünschenswert wäre, die aber zur Frage der praktischen Realisierbarkeit des normativen Ideals schweigt.

Die Notwendigkeit einer solchen Suche nach der "nächst besten" Lösung kann an einem extremen Beispiel veranschaulicht werden: Wenn ein Geiselnehmer z. B. 100 Personen in seine Gewalt gebracht hat und mit deren Erschießung droht, falls seine Forderungen nicht erfüllt werden, so wird man - wenn auch zähneknirschend - auf dessen Forderungen eingehen müssen, wenn anders eine Rettung der Geiseln nicht möglich ist. Oder ein anderes Beispiel: Wenn eine brutale Diktatur über eine hochgerüstete Bürgerkriegsarmee verfügt, die bei einem Aufstand ein Blutbad großen Ausmaßes unter der Bevölkerung anrichten würde, dann mag die Herbeiführung einer an sich dem Gesamtinteresse entsprechenden demokratischen Staatsform eventuell nicht mehr zu rechtfertigen sein.

Diese Beispiele zeigen, dass man bei der Bestimmung derjenigen Alternative, die realisiert werden soll, verschiedene Ebenen unterscheiden muss, je nachdem von welchen Einschränkungen des Alternativenbereichs man ausgeht und welche Machtverhältnisse man als gegeben voraussetzt. Diese Probleme werden in der Planungstheorie als Probleme der "Implementation" diskutiert. Eine Planungsvariante mag zu den besten Resultaten führen, wenn sich alle Beteiligten in der vorgesehenen Weise verhalten, aber was ist, wenn Individuen nicht "mitspielen" und niemand sie daran hindern kann, ihre eigenen abweichenden Ziele zu verfolgen?

    Die Bestimmung der individuellen Interessen

Offen geblieben ist dabei jedoch die Frage, wie und von wem die Interessen eines Individuums bestimmt werden sollen. Wenn das, was sein soll, bestimmt werden muss auf der Grundlage der individuellen Interessen, so muss man diese individuellen Interessen kennen können, d. h. über deren Art und Stärke muss ein intersubjektiver Konsens herstellbar sein.

Eine Möglichkeit zur Bestimmung des Interesses eines Individuums besteht darin, das Individuum selbst darüber befinden zu lassen, d. h. man bestimmt die individuellen Interessen aufgrund der Äußerungen oder Entscheidungen des betreffenden Individuums selber. Ein solcher "subjektivistischer" Interessenbegriff setzt jedoch voraus, dass sich ein Individuum niemals hinsichtlich seiner eigenen Interessen irren kann, ja dass es per Definition immer gemäß seinen Interessen handelt.

Dem widerspricht jedoch die jedermann bekannte Tatsache, dass man über seine Interessen und Handlungen in einer bestimmten Situation zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedener Meinung sein kann. Man kann z. B. nachträglich seine eigene Entscheidung "bereuen", d. h. man kann die eigene Interessenlage später ganz anders sehen als zuvor. Wenn man z. B. bestimmte realisierbare Alternativen gar nicht in die Überlegungen mit einbezieht, wenn man irrtümlich bestimmte Konsequenzen annimmt, wenn man sich über seine wirklichen Beweggründe täuscht, wenn man bestimmte langfristige Nachteile verdrängt, wenn man sich ohne gründliche Überlegung impulsiv äußert oder entscheidet, all das sind Bedingungen, unter denen es zu "unqualifizierten" Bestimmungen der eigenen Interessen kommen kann.

Schon aus diesem Grund kann die Meinung eines Individuums über seine Interessen für die Bestimmung des Gesamtinteresses kein unantastbares Datum sein. Insofern ist auch der normale Sprachgebrauch sinnvoll, der zwischen den "vermeintlichen" und den "wohlverstandenen" Interessen eines Individuums unterscheidet. Außerdem kann man mit einem streng subjektivistischen Interessenbegriff nicht begründen, dass jemand einen andern um Rat fragt oder dass die Interessen von Kindern durch Erwachsene wahrgenommen werden.

Gleichermaßen unbrauchbar für normative Fragestellungen wie ein subjektivistischer Interessenbegriff erscheint ein "objektivistischer" Interessenbegriff, der die "objektiven" Interessen eines Individuums allein aus den sozialen Verhältnissen ableiten will, in denen das Individuum lebt, und der die Bestimmung der eigenen Interessen völlig vom Willen des betreffenden Individuums abkoppelt. Zum einen gibt es hier das Problem eines Fehlschlusses vom Sein auf das Sollen, denn aus noch so vielen positiven Aussagen über die sozialen Lebensbedingungen eines Individuums lässt sich noch nicht deduzieren, welche Alternative für das Individuum die beste ist. Dies wäre ein Werturteil, das logisch nur dann abgeleitet werden kann, wenn bereits irgendeine normative Prämisse vorausgesetzt wird.

Aus diesem Grund stecken in solchen Bestimmungen "objektiver" Interessen gewöhnlich versteckte Annahmen über die Bedürfnisstruktur von Menschen oder aber versteckte moralische Prämissen. Wenn man z. B. postuliert, dass "die Arbeiter ein objektives Interesse an der Abschaffung des Lohnsystems" haben, ob sie dies nun wahrhaben wollen oder nicht, so setzt man wahrscheinlich unausgesprochen ein allgemeinmenschliches Bedürfnis nach der Verfügung über die eigenen Arbeitsprodukte voraus oder aber eine moralische Verurteilung des Lohnsystems als Form der Ausbeutung im Marxschen Sinne.

Entscheidend für die Kritik am objektivistischen Interessenbegriff ist jedoch, dass die Konsensfähigkeit einer solchen Interessenbestimmung problematisch ist, wenn diese völlig vom Willen des betreffenden Individuums losgelöst wird, denn Konsensfähigkeit bedeutet ja, dass auch das betreffende Individuum selber dieser Interessenbestimmung zustimmen können muss.

Die Frage ist nun, wie sich die Fehler einer objektivistischen und einer subjektivistischen Interessenbestimmung vermeiden lassen. Die vorläufige und noch keinesfalls befriedigende Antwort, die hier auf die Frage nach der Bestimmung eines für normative Fragestellungen brauchbaren Begriffs des individuellen Interesses gegeben wird, lautet zugespitzt: Man kann die Interessen eines Individuums erkennen, indem man sich - tatsächlich oder in der Vorstellung - in dessen Lage hineinversetzt.

Zur "Lage" gehört dabei einmal seine gesamte äußere und persönliche Lebenssituation, die sich im Prinzip empirisch beschreiben lässt. Weiterhin gehört zur Lage eines Individuums der Bereich der möglichen Alternativen, die überhaupt offen stehen, und die damit verbundenen Lebensbedingungen. Wie bereits oben ausgeführt, kann je nach Frageebene der Bereich des Möglichen dabei unterschiedlich definiert sein, je nachdem ob man sich bezieht auf das "Menschenmögliche" oder auf das unter gegebenen Machtverhältnissen Realisierbare. Was unter den jeweiligen Annahmen mögliche, alternative Verläufe der zukünftigen Entwicklung sind, kann ebenfalls im Prinzip durch empirische Wissenschaft geklärt werden. Die Bestimmung der möglichen zukünftigen Konsequenzen gehört ebenfalls in den Bereich positiver Wissenschaft, obwohl besonders bei längerfristigen sozialen Konsequenzen die Möglichkeiten einer zuverlässigen Prognose als sehr begrenzt eingeschätzt werden müssen.

Durch die Kenntnis der Ausgangslage und des Alternativenbereichs einschließlich der zukünftigen Konsequenzen ist jedoch die Frage nach der Bewertung dieser Alternativen noch nicht beantwortet. Hinzukommen muss noch die eigentliche Bedürfnisstruktur des betreffenden Individuums. Hier liegen noch die größten Probleme der Interessenbestimmung. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem "wirklichen" Interesse eines Individuums wäre eine eingeschränkte subjektivistische Formulierung, die besagt, dass das wirkliche Interesse eines Individuums dasjenige ist, das das Individuum unter der Bedingung der Aufklärung über Ausgangslage, Alternativenbereich und Konsequenzen sowie Bewusstheit der eigenen Motive selber formuliert.

Das Problem der Bedürfnisstruktur ist in solchen Fällen lösbar, wo man bei allen Menschen eine ähnliche Bedürfnisstruktur voraussetzen kann. Ein Hinweis auf das Vorkommen solcher Ähnlichkeiten ist der Umstand, dass sich verschiedene Individuen bei Angleichung ihrer Lebensumstände und ihres Kenntnisstandes auch in ihren Interessenäußerungen angleichen.

Wir gehen im Alltag ständig davon aus, dass Menschen in der Regel nicht sterben möchten, nicht krank sein möchten, keine Schmerzen, keinen Hungers keinen Durst und keine Einsamkeit erleben möchten usw. Hier lassen sich auch jenseits bloßer Existenzerhaltung sicherlich relativ allgemeine Bedürfnisstrukturen identifizieren, die für viele Entscheidungen schon eine hinreichend genaue Bestimmung der Interessen ermöglichen. Allerdings ist die Bedürfnisforschung noch ein systematisch wenig entwickeltes Gebiet, das zudem unter methodologischen Unklarheiten leidet.

Außerdem sind die menschlichen Bedürfnisse auch sehr formbar und variabel, wie die Ergebnisse der Lernpsychologie und der Psychoanalyse zeigen. Deshalb ist bei der Bedürfnisstruktur nicht immer der "Schluss von sich auf andere" angebracht. Von zwei Individuen in sonst völlig gleicher Lage mag der eine Austern sehr gern essen, während sich der andere davor ekelt. Solche individuellen Vorlieben und Abneigungen lassen sich oft nur aus der unterschiedlichen Lebensgeschichte erklären - wenn überhaupt. Hier wird man die Darstellungen, die das Individuum selber über seine "inneren" Erfahrungen gibt, zur Präzisierung der Bedürfnisstruktur heranziehen müssen.

    ***


Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:

   
Allgemeine Methodologie der Wissenschaft
Normative Demokratietheorie
Interessenbegriff in positiven und normativen Theorien ** (45 K)
 

***

zurück zum Anfang
Alphabetische Liste aller Texte
Übersicht 

Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Methodologie normativer Wissenschaft"
Letzte Bearbeitung 24.04.2006 / Eberhard Wesche

Wer diese Website interessant findet, den bitte ich, auch Freunde, Kollegen und Bekannte auf die "Ethik-Werkstatt" hinzuweisen.