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Immanuel Kant: Der Kategorische Imperativ

Dargestellt anhand der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"

 

Zitiert wird nach: W. Weischedel (Hg.): Immanuel Kant – Werkausgabe, Band VII
 erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 3. Auflage 1977
Die Kant-Zitate wurden durch Zusätze in eckigen Klammern heutigen Lesern verständlicher gemacht
 

Inhalt:

            Darstellung:
1. Die Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs
2. Kants Auffassung der menschlichen Erkenntnis
3. Der menschliche Wille ist nicht völlig der Vernunft gemäß
4. Hypothetische Imperative und kategorische Imperative
5. Die Gebote der Sittlichkeit sind kategorische Imperative
6. Wie kann eine Handlung ohne Beziehung zu einem andern Zweck geboten sein?
7. Die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit als Grund für das Gebotensein der Moral

            Kritik:
 8. Problematische Vernunfterkenntnis
 9. Handlungsmaximen, die sich bei allgemeiner Befolgung selbst aufheben
10. Die Definition des Begriffs "kategorischer Imperativ" und der Kantische Rigorismus
11. Kritik an der Herleitung des Kategorischen Imperativs
12. Unterschiedliche Ergebnisse bei unterschiedlichen sozialen Positionen
13.
In bestimmten Fällen ist der direkte Handlungsbezug des Kategorischen Imperativs problematisch



Textanfang

Darstellung:


1.)  Die Gesetzesformel des Kategorischen Imperativs
 

Der "Kategorische Imperativ" Immanuel Kants (1724 - 1804), der von ihm in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) entwickelt wird, ist wohl einer der bekanntesten Prüfsteine moralischen Handelns. Er wird meist in der folgenden Fassung zitiert (sogenannte 'Gesetzesformel'):

"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
(Hier und im Folgenden zitiert nach Werkausgabe, Hg. W. Weischedel, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, Bd. VII, S.51.)

Etwas verwirrend ist, dass Kant den Kategorischen Imperativ unterschiedlich formuliert hat. Da die verschiedenen Formeln in ihrem Bedeutungsgehalt nicht völlig gleich sind, erscheint es angebracht, sich vorerst auf die Erörterung dieser einen Fassung des Kategorischen Imperativs zu beschränken.

Diese Fassung enthält eine Reihe von Ausdrücken, von denen nicht ohne weiteres feststeht, welche Bedeutung Kant mit ihnen verbindet. So ist die Rede von "Maximen" des Handelns, von "wollen können" und von einem "allgemeinen Gesetz". Außerdem ist zu klären, warum diese Formel als "kategorischer Imperativ" bezeichnet wird.

Um die Bedeutung dieser Ausdrücke und damit die Bedeutung des ganzen Satzes zu klären, soll der Gedankengang dargestellt werden, der Kant zum Kategorischen Imperativ führt.

Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass Kant dabei seine vorangegangenen Untersuchungen als bekannt voraussetzt (zu nennen ist insbesondere die vier Jahre zuvor erschienene "Kritik der reinen Vernunft", die als Kants Hauptwerk gilt). Außerdem hat Kant eine eigene Begrifflichkeit entwickelt, die sich nicht immer mit dem üblichen Sprachgebrauch deckt. Erschwerend kommt das Alter der Texte hinzu, mit heute unüblichem Satzbau und z. T. gewandelter Wortbedeutung, etwa eines Wortes wie "gemein".


2.)  Kants Auffassung von der menschlichen Erkenntnis

Kant übernimmt die traditionelle Dreiteilung der Philosophie in Physik, Ethik und Logik. Physik ist die Wissenschaft von den Naturgesetzen, nach denen alles geschieht. Ethik ist die Wissenschaft von den sittlichen Gesetzen, nach denen alles geschehen soll (S.11). (Anstelle von "sittlich" und "Sittlichkeit" sagt man heute meist "moralisch" und "Moral".)

Der Mensch besitzt für Kant zwei Quellen der Erkenntnis: die Vernunft und die Erfahrung.

Mit "Erfahrung" oder "Empirie" (griechisch empeiria) ist die Sinneswahrnehmung gemeint, also das, was man durch Sehen und Hören etc. erfährt.

Durch den Gebrauch seiner Vernunft erkennt der Mensch die Ideen (z. B. Freiheit, Pflicht, Gesetz). Mit Hilfe der Vernunft bildet der Mensch auch bestimmte Begriffe. So entspringt für Kant der Begriff der "Pflicht" aus dem "Vernunftvermögen".

Die von jeglicher Erfahrung unabhängige Theorie nennt Kant "Metapyhsik"
 (S.12). Solche Erkenntnis aus reiner Vernunft bezeichnet Kant auch als "Erkenntnis a priori" (lateinisch: "von vornherein"), während eine Erkenntnis, an der die Erfahrung beteiligt ist, von ihm "Erkenntnis a posteriori" (lateinisch: "im nachhinein") genannt wird.

Die "Metaphysik der Sitten" ist demnach die von jeder vorgängigen Erfahrung unabhängige Erkenntnis der sittlichen Gesetze allein mit den Mitteln der menschlichen Vernunft (S.11). In der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" wird das "oberste Prinzip der Moralität" (S.16) bestimmt. Dies ist für Kant der Kategorische Imperativ.

Dass es eine Moralphilosophie aus reiner Vernunft geben müsse, steht für Kant fest, denn dies "leuchtet von selbst aus der gemeinen [allgemein verbreiteten] Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein" (S.13). 

Bemerkenswert ist Kants Argument, dass dabei die "moralischen Gesetze ... aus dem allgemeinen Begriffe eines vernünftigen Wesens überhaupt abzuleiten" sind, weil sie "für jedes vernünftige Wesen überhaupt gelten sollen" (S.40).


3.)  Der menschliche Wille ist nicht völlig der Vernunft gemäß

Im Unterschied zu den Dingen der Natur, die dem Wirken der Naturgesetze unterliegen, hat ein vernünftiges Wesen "das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln" (S.41). Dies Vermögen bezeichnet Kant als "Willen". Die Vernunft erkennt die Prinzipien des Handelns "als praktisch notwendig, d. i. [das ist] als gut" (S.41). "Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes, als praktische Vernunft" (S.41).

Für Kant ist der Mensch jedoch ein Wesen, dessen "Wille nicht völlig der Vernunft gemäß ist" (S.41).

Zwar kann der Mensch durch den Gebrauch seiner Vernunft erkennen, was moralisch gut ist, doch gehorcht der menschliche "Wille seiner Natur nach diesen [Gründen der Vernunft] nicht notwendig" (S.41). Denn der menschliche Wille wird nicht nur durch Gesetze der Vernunft sondern auch durch "natürliche Triebfedern" beeinflusst, die Kant "Neigungen" nennt.

Deshalb treten die Gesetze der Vernunft dem Menschen als Imperative oder Gebote gegenüber und werden durch ein Sollen ausgedrückt. Bei vollkommenen Vernunftwesen wird der Wille vollständig durch die Vernunft bestimmt, sodass die Moral für diese keinen Soll-Charakter besitzt.

 
4.)  Hypothetische Imperative und kategorische Imperative

Wie Kant betont, ist nicht jedes Sollen ein moralisches Sollen und nicht jeder Imperativ ein moralischer Imperativ. Kant unterscheidet zwischen hypothetischen (von griechisch hypothesis "Annahme, Unterstellung" ) und kategorischen (von griechisch kategorikos "behauptend") Imperativen.

Zu den hypothetischen Imperativen gehören die Imperative der Geschicklichkeit ("Wenn man nicht will, dass die Milch beim Erhitzen anbrennt, dann muss man sie umrühren"). Auch bei den Imperativen der Klugheit ("Wer glücklich werden will, der darf nicht mit seinem Schicksal hadern") handelt es sich um hypothetische Imperative.

Damit ein hypothetischer Imperativ für eine bestimmte Personen Geltung erlangt, muss angenommen werden, dass diese Person eine bestimmte Absicht hat ("Ich will, dass die Milch nicht anbrennt" oder "Ich will glücklich werden"). Sie gelten insofern nur bedingt (nur unter der Annahme bzw. der Hypothese, dass jemand diese Absicht hat).

Ein kategorischer Imperativ ist dagegen ein Imperativ, "der ohne irgendeine Absicht als Bedingung zum Grunde zu legen, dieses Verhalten unmittelbar gebietet ... " Er stellt "eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung zu einem andern Zweck, als objektiv-notwendig" hin. "Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr folgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie [die gute Handlung] selbst folgt ..." (S.45).


5.)  Die Gebote der Sittlichkeit sind kategorische Imperative

Die Forderungen der Sittlichkeit oder Moral treten dem Menschen als Gebote gegenüber. "Gebote sind Gesetze, denen ... Folge geleistet werden muss" (S.46), auch wenn dies den eigenen Neigungen widerspricht. "Nur das Gesetz führt den Begriff einer unbedingten und zwar objektiven und mithin allgemein gültigen Notwendigkeit bei sich" (S.46).  Dieser Gesetzescharakter unterscheidet die Moral z. B. von Ratschlägen zum eigenen Wohlergehen.

Bei den Gesetzen der Sittlichkeit kann es sich nicht um hypothetische Imperative handeln, denn "was bloß zur Erreichung einer beliebigen Absicht zu tun notwendig ist, besitzt nicht diejenige Notwendigkeit ..., welche wir zum [von einem] Gesetze verlangen" (S.46). Nur ein kategorischer Imperativ hat diesen Gesetzescharakter. Deshalb
handelt es sich bei den Geboten der Sittlichkeit um kategorische Imperative.


6.)  Wie kann eine Handlung ohne Beziehung zu einem andern Zweck geboten sein?

Kant stellt dann in Bezug auf die kategorischen Imperative die Frage, "wie ... die Nötigung des Willens, die der Imperativ ... ausdrückt, gedacht werden könne" (S.46). Er fragt: "Wie sind all diese Imperative möglich?"

Diese etwas ungewöhnliche Fragestellung macht deutlich, dass es Kant bei seiner Untersuchung nicht um die Berechtigung von Moral überhaupt geht oder um deren Inhalte. Beides ist für Kant vorgegeben und unstrittig.

Kant will das Besondere an der Moral, das spezifisch Moralische aufdecken, indem er die besondere Art der "Nötigung des Willens" durch die Gesetze der Moral aufzeigt.

Bei den Imperativen der Geschicklichkeit und der Klugheit ergibt sich das Tun-sollen, die "Nötigung des Willens", problemlos aus den hypothetisch vorausgesetzten Absichten der jeweiligen Person selber: Wenn jemand nicht will, dass die Milch anbrennt, dann folgt daraus für ihn die Notwendigkeit, sie umzurühren. Wenn jemand glücklich werden will, dann folgt daraus für ihn die Notwendigkeit, bestimmte Handlungen - wie das Hadern mit dem eigenen Schicksal - zu unterlassen. 

Aber was nötigt die Menschen, die Gebote der Sittlichkeit zu befolgen? Wie kann eine Handlung unmittelbar - also ohne Beziehung zu einem andern Zweck - geboten sein? Wie kann eine solche Möglichkeit gedacht werden?

Durch ein faktisches Beispiel moralischen Verhaltens kann diese Möglichkeit nicht erwiesen werden, denn - wie Kant ausführt - ist es z. B. "immer möglich, dass insgeheim Furcht für Beschämung ... Einfluss auf den Willen" (S.49) hat und die Befolgung des moralischen Gebotes bewirkt. Dann handelt es sich jedoch nicht mehr um einen kategorischen Imperativ, sondern um einen verdeckten hypothetischen Imperativ ('Wenn Du nicht vor andern beschämt werden willst, dann musst Du die moralischen Gebote befolgen.') Deshalb kann die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs der Moral für Kant nur durch den Gebrauch der reinen Vernunft, also a priori erwiesen werden.


7.)  Die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit als Grund für das Gebotensein der Moral

Zum einen geht Kant von Menschen aus, die - mit einem Willen versehen - nicht völlig den Kausalgesetzen unterworfen sind, sondern nach bestimmten Grundsätzen bzw. Prinzipien handeln können. Kant nennt die Grundsätze, die sich ein Mensch für sein eigenes Handeln setzt, "Maximen". Die Maximen des Handelns können dabei von Mensch zu Mensch je nach Einsicht und Neigung verschieden sein. Eine Maxime meines Handelns könnte etwa lauten: 'Meine Schulden zahle ich erst dann, wenn mir deswegen eine Klage vor Gericht droht'.

Zum andern enthält jedes sittliche Gesetz in sich die unmittelbare kategorische Forderung, dass die Maximen des Handelns aller Menschen diesem Gesetz entsprechen.

Die Frage ist: 'Was begründet für die Menschen die Pflicht, dieser Forderung Folge zu leisten?'

Man könnte die Frage einfach beantworten und sagen: 'Die Furcht vor Strafe nötigt den Menschen, moralisch zu handeln.' Damit würde man aber dem moralischen Gesetz nicht gerecht, denn unser Gewissen sagt uns z. B., dass es auch dann nicht richtig ist, einen andern Menschen um des eigenen Vorteils willen zu belügen oder gar zu töten, wenn man keine Strafe deswegen befürchten müsste.

Als gläubiger Christ könnte Kant auch sagen: 'Ich bin genötigt, den moralischen Gesetzen Folge zu leisten, weil sie Gottes Gebot sind.' Aber dann wäre Kant kein Philosoph der Aufklärung, der sich allein auf die Vernunft stützt, sondern er wäre ein Theologe, der die göttliche Offenbarung auslegt.

Beide Lösungsmöglichkeiten scheiden also für Kant aus.

Kants Antwort lautet:
Da ein kategorischer Imperativ keinen inhaltlich bestimmten Zweck enthält, auf den man sich berufen könnte (wie z. B. bei den Imperativen der Klugheit das Ziel, glücklich zu werden), bleibt nur noch die Form des Gesetzes, seine Allgemeinheit übrig. Der Allgemeinheit des Gesetzes muss die Maxime, die sich ein Individuum für sein eigenes Handeln setzt, entsprechen. Das heißt: Ein Mensch muss die Maximen seines Handelns - d. h. die selbstgesetzten Regeln seines Handelns - auch dann noch wollen können, wenn sie allgemein - also von jedermann - angewendet werden. Oder, um einen modernen Ausdruck zu verwenden: Die Maxime des Handelns muss "verallgemeinerbar" sein. Nur dann ist sie moralisch zulässig.

Mit den Worten von Kant heißt das: Da ein kategorischer Imperativ "außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetz gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt [als Grund für die Nötigung, dem Imperativ Folge zu leisten] nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt" (S.51).

Daraus folgt für Kant der anfangs zitierte Kategorische Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."

Für Kant hat damit "eine Handlung ... ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, die dadurch erreicht werden soll" (S.26), und auch "nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird" (S.27), sondern nur "in der Maxime, nach der sie beschlossen wird" (S.25). Wenn etwas "moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, dass es dem sittlichen Gesetzte gemäß ist, es muss auch um desselben [Gesetzes] willen geschehen" (S.14) oder anders ausgedrückt: "Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs [vor dem] Gesetz" (S.26).  

Zur obigen Formulierung noch eine Anmerkung: Man muss dabei beachten, dass Kant als "Wille" das Vermögen bezeichnet, gemäß Prinzipien der praktischen Vernunft zu handeln. Dies entspricht nicht dem üblichen Gebrauch des Wortes "Wille". In dem Ausdruck "wollen können" ist mit "wollen" also nicht irgendein Streben oder Begehren gemeint ist, sondern ausschließlich ein Wollen, das den Prinzipien der Vernunft entspricht und das deshalb diesen Prinzipien nicht widersprechen darf. Der kategorische Imperativ würde nach üblichem Wortgebrauch dann lauten: 'Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich [vernünftig] wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.'


Kritik:

 

8.)  Problematische Vernunfterkenntnis

Wie im Vorangegangenen dargelegt wurde, geht Kant von moralischen Prinzipien aus, die durch das Erkenntnisvermögen der Vernunft bestimmt werden können. Diese Prinzipien der praktischen Vernunft sind auch im Kategorischen Imperativ vorausgesetzt. Da es sich beim "wollen können" ausschließlich um den Willen handelt, insofern er nicht durch Neigungen sondern durch Prinzipien der Vernunft bestimmt wird, sind die von Kant vorausgesetzten Prinzipien der Vernunft für die Interpretation des Kategorischen Imperativs von zentraler Bedeutung.

Die dem Vernunftvermögen zugeschriebene Bildung der Ideen und der metaphysischen Begriffe wie "Freiheit", "Pflicht" oder "Vernunftwesen" ist jedoch nicht nachvollziehbar - zumindest nicht auf Basis der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten". Die Bildung dieser Begriffe wird in dieser Schrift weitgehend vorausgesetzt, obwohl es sich um eine "Grundlegung" handeln soll.

Man könnte versuchen, dies Problem durch eine Hinzuziehung weiterer Schriften und eine Bezugnahme auf das gesamte Denksystem Kants zu beheben. Dies kann und soll hier nicht geleistet werden. Deshalb sollte bei den folgenden Ausführungen im Gedächtnis bleiben, dass die Herkunft der metaphysischen Begriffe offen bleibt.


9
.)  Handlungsmaximen, die sich bei allgemeiner Befolgung selbst aufheben

Bei einer bestimmten Art von individuellen Handlungsmaximen wird sofort deutlich, dass sie sich bei ihrer Verallgemeinerung zu einem allgemeinen Gesetz letztlich nicht praktizieren lassen.

Ein Beispiel hierfür ist die von Kant erörterte Maxime: "Wenn ich mich in Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen, und versprechen es zu bezahlen, ob[wohl] ich gleich weiß, es werde niemals geschehen" (S.53). Diese Maxime erweist sich klar als nicht verallgemeinerbar, "denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm etwas versprochen sei." (S.53)

Mit andern Worten: Niemand wird sich vertraglich zu etwas verpflichten, wenn er davon ausgehen muss, dass der Vertragspartner gar nicht die Absicht hat, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Deshalb hebt sich die Maxime, derart "unehrliche" Verträge abzuschließen, bei allgemeiner Anwendung selber auf.

Der Kategorische Imperativ überzeugt vor allem bei der Anwendung auf derartige, sich selbst aufhebende Maximen.

Zu dieser Art von Maximen gehören z. B. Maximen wie :
'Ich muss Gesetze nicht befolgen',
'Ich muss mich an Mehrheitsbeschlüsse nicht halten',
'Ich muss bei eidlichen Aussagen nicht die Wahrheit sagen',
'Ich muss geliehene Sachen nicht zurückgeben' usw..

Die hier im Hintergrund stehenden Verfahren und Institutionen (legitimierte Gesetzgebung, legitimierte Regeln der Gruppenentscheidung, öffentliche Bekräftigung eigener Aussagen, zeitweise Überlassung von Eigentum an andere bei Versprechen der Rückgabe usw.) dienen der Setzung verbindlicher Normen. Individuelle Maximen, die die Verbindlichkeit der durch derartige Institutionen gesetzten Normen misachten, zerstören deshalb bei ihrer Anwendung durch alle Individuen diese Institutionen. Wenn man aber die gesetzten Normen doch nicht befolgen muss, so wird letztlich niemand mehr derartige normsetzende Institutionen anwenden. Dies kann aber niemand vernünftigerweise wollen.


10.)  Die Definition des Begriffs "kategorischer Imperativ" und der Kantische Rigorismus

Kant unterscheidet zwischen Klugheitsregeln, die sich aus persönlichen Zielen des Handelnden ableiten ('Wenn Du Deine Zähne möglichst lange erhalten willst, dann musst Du sie regelmäßig putzen') und moralischen Normen  ('Quäle nie ein Ter zum Scherz'), die unabhängig davon gelten, was der mit der Norm Angesprochene selber will.

Kant definiert (auf den Seiten 45f.) den Ausdruck "kategorischer Imperativ" jedoch nicht nur durch die Unabhängigkeit von den Absichten des Angesprochenen, sondern er sagt darüber hinaus, dass ein kategorischer Imperativ "nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr folgen soll, sondern die Form" betrifft.

Das legt den Schluss nahe, dass Sätze wie 'Nimm Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer' oder 'Füge niemandem ohne Begründung einen Schaden zu', die auf die "Materie" Bezug nehmen, für Kant keine kategorischen Imperative und damit auch keine Gebote der Sittlichkeit sind. Da diese Normen auch keinen Bezug auf irgendwelche Absichten des jeweils Angesprochenen nehmen, handelt es sich bei ihnen auch nicht um hypothetische Imperative im Sinne Kants. Dies Resultat ist unbefriedigend, da Kant nicht die Frage erörtert, ob es neben den hypothetischen und den kategorischen Imperativen noch weitere moralisch bedeutsame Arten von Imperativen gibt.

Auch wenn Handlungen durch Absichten wie die "Beförderung fremder Glückseligkeit" bestimmt werden, bekommen sie für Kant dadurch keinen moralischen Wert. Seine Begründung für diese erstaunliche Ansicht lautet: "... Alle diese Wirkungen konnten auch durch andere Ursachen zu Stande gebracht werden, und es brauchte also dazu nicht des Willens eines vernünftigen Wesens ..." (S.27)

Allein im Vernunftwesen "wird das höchste und unbedingte Gute ... angetroffen"(S.27)   "... Nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes .. kann das so vorzüglich Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen " (S.27). Diese Sittlichkeit ist "in der Person selbst schon gegenwärtig, die darnach handelt". Sie darf deshalb "nicht aber allererst aus der Wirkung [der Handlung] erwartet werden ..." (S.27).

Kant zieht aus dem Umstand, dass die Menschen - wenn auch unvollkommene -  Vernunftwesen sind - die Schlussfolgerung, dass dies auch einem bestimmten Zweck haben muss. Es muss also etwas geben, wofür nur Vernunftwesen geeignet sind, und was nicht durch Anderes erbracht werden kann. Dies ist die Pflicht als die Nötigung zu einem sittlichen Handeln allein aus Achtung vor dem Gesetz.

Mit dieser Argumentation setzt Kant etwas voraus, was - zumindest heutzutage - höchst strittig ist. Er bezieht sich auf eine Welt bzw. eine Schöpfung, in der alles bestmöglich eingerichtet ist. Wenn es dort Menschen gibt, die Vernunftwesen sind, dann muss dies auch einen bestimmten Zweck erfüllen. Dieser Zweck besteht darin, dass nur Vernunftwesen die sittlichen Gebote allein aus Pflicht erfüllen und damit das höchste Gut verwirklichen können.

Kant definiert einen kategorischen Imperativ darüber hinaus als einen "unbedingten", "unmittelbar gebotenen" notwendigen Imperativ. Hier stellt sich die Frage, was mit der unbedingten und unmittelbaren Notwendigkeit der kategorischen Imperative gemeint ist.

Eine Möglichkeit der Interpretation ist die, dass die allgemeinsten Gebote der Sittlichkeit wie: 'Man darf nicht lügen' in dem Sinne "unbedingt" gelten, als es keine gültige moralische Norm von der Art geben kann: 'Wenn die Bedingungen x, y, z ... gegeben sind, darf man lügen.'

Wie Marcus G. Singer gezeigt hat (siehe seine Arbeit: Generalization in Ethics, New York 1971, Kap. VIII), hat Kant zumindest teilweise in diesem Sinne argumentiert, wodurch er zu fragwürdigen moralischen Positionen gelangte, etwa was die Strafe angeht.

Ein derartiger moralischer Rigorismus ist jedoch nicht notwendigerweise mit dem Kategorischen Imperativ verbunden.

Singer verdeutlicht die Problematik an dem folgenden Beispiel: A versteckt sich wegen einer Morddrohung im Haus von B. Der Mörder erscheint und fragt B, der zufällig C zu Gast hat, ob sich A im Haus befindet. Er droht damit, B und C zu erschießen, wenn B nicht antwortet.

B hat drei Möglichkeiten zu handeln: 1. Er sagt die Wahrheit. Dann wird A erschossen. 2. Er sagt gar nichts. Dann wird er selber und der unschuldige C erschossen. Oder 3.: Er lügt den Mörder an, um damit sowohl das Leben von A als auch sein eigenes und das von C zu retten. Die 3. Möglichkeit ist hier offenbar die moralisch gebotene Handlungsalternative.

Sie steht auch im Einklang mit dem Kategorischen Imperativ. Man kann die Maxime, in einer derartigen Situation zu lügen, ohne weiteres auch dann noch wollen, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben würde. Die Gefahr, dass man dann niemandem mehr etwas glauben könnte, besteht hier sicherlich nicht.


11.)  Kritik an der Herleitung des Kategorischen Imperativs

Nachdem Kant alles Materielle und Empirische als mit der Notwendigkeit eines Gesetzes unvereinbar ausgeschlossen hat, bleibt für ihn nur noch die Form der allgemeinen Gesetzmäßigkeit als dasjenige Element, von dem das Gebotensein der sittlichen Imperative ausgehen kann.

Dieser Schluss ist jedoch keineswegs logisch zwingend. 

So könnte man stattdessen auch die Position vertreten, dass die Verpflichtung durch eine moralische Norm darauf beruht, dass diese richtig ist und dass die Richtigkeit eingesehen werden kann.

Wenn auf die Frage: 'Was darf man unter keinen Umständen tun?' die Norm: 'Man darf andere Menschen nicht um des eigenen Vorteils willen töten' eine richtige Antwort ist, dann bedarf es keiner weiteren Begründung dafür, dass man entsprechend dieser Norm handeln soll. Denn dass man das Richtige tun soll, ist eine Tautologie.

(Die Schwierigkeiten einer solchen Position - etwa in Bezug auf den Begriff der "Richtigkeit" in der Anwendung auf Normen - können hier nicht diskutiert werden. Es soll damit nur aufgezeigt werden, dass die von Kant gegebene Antwort nicht die einzig denkbare ist.)

Wenn ich aufgrund überzeugender Argumente einsehen kann, warum es richtig ist, dass man einen andern Menschen nicht um des eigenen Vorteils töten darf, so ergibt sich ein anderes Verständnis von moralischer Pflicht als bei Kant. Die Verpflichtung, moralisch zu handeln, ergibt sich dann nicht aus der "Achtung vor dem sittlichen Gesetz" sondern aus der
Einsicht in dessen Richtigkeit.


12.)  Unterschiedliche Ergebnisse bei unterschiedlichen sozialen Positionen

Bemerkenswert ist, dass die Anwendung der Kategorischen Imperativ keinerlei Kenntnis vom Wollen anderer Personen erfordert: Wenn ich den Kategorischen Imperativ anwenden will, so muss ich mir vorstellen, dass alle andern Personen meinen Grundsatz des Handelns (die Maxime meines Handelns) übernehmen, und ich muss mich fragen, ob ich die dann entstehenden Verhältnisse wollen kann. Wenn ich das nicht vernünftig wollen kann, dann ist dieser Grundsatz unmoralisch. Ich handle unmoralisch, wenn ich trotzdem nach diesem Grundsatz handle.

Eine Erklärung für diese Beschränkung auf die Perspektive des einzelnen Menschen könnte der bereits angesprochene Umstand sein, dass mit dem Ausdruck "mein Wollen" von Kant nicht das von mir faktisch Angestrebte gemeint ist, sondern ausschließlich die Prinzipien der Vernunft und die daraus abgeleiten Handlungen, die für alle Individuen die gleichen sind. Dann treten die Individuen in ihrer tatsächlichen Beschaffenheit gar nicht als solche in Erscheinung sondern sind völlig gleichartige Vernunftwesen. Wie eine derartige Ableitung inhaltlicher moralischer Normen aus dem Begriff des Vernunftwesens erfolgen kann, wird von Kant in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" nicht nachvollziehbar dargelegt.

Die Folgenden soll deshalb das 'wollen können' in seiner üblichen Bedeutung als 'begehren können' verstanden werden und nicht im spezifisch Kantschen Verständnis des Willens als praktischer Vernunft.

Nach Kant bildet der Kategorische Imperativ das oberste Prinzip der Sittlichkeit. Die entscheidende Frage ist, ob verschiedene Personen bei Anwendung des Kategorischen Imperativs zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangen, denn nur dann kann ein Kriterium die Grundlage für die allgemeingültige Beantwortung moralischer Fragen bilden. Einander widersprechende Antworten können gar keine Frage beantworten.

Der Kategorische Imperativ führt offenbar nur dann zu intersubjektiv übereinstimmenden Antworten, wenn die Personen, die ihn anwenden, hinsichtlich der allgemein angewandten Grundsätze des Handelns das Gleiche wollen. Dies kann man aber nicht immer voraussetzen. Wenn sich zwei Personen in unterschiedlichen Positionen und Lebenslagen befinden, ist es nichts Ungewöhnliches, dass sie unterschiedliche Grundsätze des Handelns als allgemein zu befolgende Gesetze wollen.

Zum Beispiel kann Herr Meier nach der Maxime handeln: 'An der Hausarbeit beteilige ich mich als Mann nicht sondern überlasse dies meiner Frau'. Dabei kann Herr Meier ohne Schwierigkeiten wollen, dass alle andern seine Maxime übernehmen und entsprechend handeln.

Frau Meier dagegen handelt nach der Maxime: 'Als berufstätige Frau übernehme ich nur die Hälfte der Hausarbeit und überlasse die andere Hälfte meinem Mann.' Auch sie kann ohne Schwierigkeiten wollen, dass alle andern ebenfalls nach ihrer Maxime handeln.

Wie man sieht, kann die Anwendung des Kategorischen Imperativs durch verschiedene Personen zu Ergebnissen führen, die nicht miteinander vereinbar sind.

Dies Problem lässt sich im Rahmen des Kantschen Denkens wohl nur lösen durch den Bezug auf vorgängige Prinzipien der reinen praktischen Vernunft.


13.)  In bestimmten Fällen ist der direkte Handlungsbezug des Kategorischen Imperativs problematisch

Der Kategorische Imperativ prüft die Maximen auf ihre moralische Zulässigkeit unter der Voraussetzung ihrer allgemeinen Befolgung. Daraus kann man schließen, dass nach Kants Ansicht die Verpflichtung zum eigenen moralischen Handeln ganz unabhängig vom tatsächlichen Handeln der andern besteht.

In einigen Fällen kommt es jedoch zu Problemen, wenn die isolierten Einzelnen ein moralisches Gebot befolgen, das einer Maxime entspricht, die die Anforderungen des Kategorischen Imperativs erfüllt. Denn eine Handlungsnorm kann ideal sein, solange sie ausnahmslos befolgt wird, aber sie kann in ihren Auswirkungen katastrophal sein, wenn sich nicht alle daran halten.

Jemand kann z. B. der Maxime folgen, auf den Besitz und den Einsatz von militärischen Waffen zu verzichten. Er kann wohl auch ohne Probleme wollen, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz wird. Trotzdem sollte er nicht nach dieser Maxime handeln, denn es wäre fatal, wenn auch nur ein Einziger nicht nach dieser Maxime handelt und nun den Unbewaffneten mit Waffengewalt seinen Willen aufzwingen kann.

***

Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Einzelinteresse und Gesamtinteresse, § 30.1
   Kants Konzeption synthetischer Urteile a priori *** (42 K)
  
Kant: Der gute Wille als höchstes Gut ** (16 K)
   Institutionelle Normen * (7 K)
 

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Letzte Bearbeitung 23.12.2008 / 12.11.2014 / Eberhard Wesche

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