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Immanuel Kant: Der gute Wille als höchstes Gut
Dargestellt anhand der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten"
Zitiert wird nach: W. Weischedel (Hg.): Immanuel Kant – Werkausgabe, Band VII
erschienen im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., 3. Auflage 1977
Die Kant-Zitate wurden durch Zusätze in eckigen Klammern heutigen Lesern verständlicher gemacht
Inhalt:
Kants Hochschätzung
des "guten Willens"
Was bedeutet bei Kant der Ausdruck "guter Wille"?
Kants Voraussetzung der Vernunfterkenntnis
Was bedeutet bei Kant der
Ausdruck, dass etwas "ohne Einschränkung für gut gehalten werden kann"?
Wonach bemisst sich der allgemeine
Wert einer Handlung?
Ist der gute Wille das höchste Gut?
Die Unterscheidung zwischen wertvollen
Handlungen und verdienstvollen Handlungen
Textanfang
Kants Hochschätzung des "guten Willens"
Im ersten Satz seiner "Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten" (im Folgenden kurz "Grundlegung" genannt) stellt Immanuel Kant (1724 - 1804) die These auf: "Es ist überall nichts in
der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne
Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille"
(S.18). Im weiteren Verlauf kommt Kant dann zu der These, dass der gute Wille das
höchste Gut sei (S.22).
Diese Position soll im Folgenden geprüft werden.
Dazu muss als erstes geklärt werden, was die obige
These genau bedeutet.
Klärungsbedürftig erscheinen vor allem die Ausdrücke "guter Wille" und "ohne Einschränkung
gut".
Was bedeutet bei Kant der Ausdruck "guter Wille" ?
Man findet in der "Grundlegung" zum einen die Erläuterung
des Wortes "Wille" als "Begehrungsvermögen", also als die Fähigkeit, etwas zu
begehren. Andererseits bezeichnet Kant als "Wille" auch das "Vermögen, nach der
Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln" (S. 46). Diese
Fähigkeit haben nur Vernunftwesen, zu denen Kant auch den
Menschen zählt.
Beide Begriffsbestimmungen decken sich nicht. Der "Wille" als Begehrungsvermögen
enthält Wünsche, Ziele, Triebe etc. Der "Wille" als das Vermögen, nach
Prinzipien der Vernunft zu handeln, enthält dagegen keine derartigen Motive bzw.
"Neigungen", wie Kant sagt.
Wegen der Wichtigkeit dieses Punktes wird hierzu eine längere Passage
herangezogen.
Kant schreibt:
"Ein jedes Ding der Natur wirkt nach [kausalen] Gesetzen. Nur ein vernünftiges
Wesen hat das Vermögen [die Fähigkeit], nach der Vorstellung der
[moralischen] Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder [anders
ausgedrückt: Es hat] einen Willen.
Da zur Ableitung der [einzelnen] Handlungen von [moralischen] Gesetzen
Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts ander[e]s, als praktische
[auf das Handeln gerichtete] Vernunft.
Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich [definitiv] bestimmt, so
sind die[jenigen] Handlungen eines solchen [Vernunft]Wesens, die [von der Vernunft] als objektiv
notwendig [als der Sache nach geboten] erkannt werden, auch subjektiv
notwendig [für das Subjekt geboten]. ... Der Wille ist [in diesem Fall] ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was
die Vernunft, unabhängig von der Neigung [von Gefühlen und Wünschen] als
praktisch notwendig [als geboten zu tun], d. i. als gut erkennt.
Das Verhältnis der objektiven Gesetze zu einem nicht durchaus [nicht völlig]
guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines
vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille
seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist" (S.41).
Offensichtlich versteht Kant hier unter "Wille" die Fähigkeit,
nach Prinzipien der Vernunft zu handeln. Der Mensch ist insofern
ein unvollkommenes Vernunftwesen, als bei ihm auch die "Neigungen" auf den
Willen einwirken und der Bestimmung des Willens durch die Vernunft entgegenwirken können.
Aus dem Zitat wird deutlich, was Kant unter einem "guten Willen" versteht. "Gut"
ist für Kant derjenige Wille, der ausschließlich durch Gründe der praktischen
Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen.
Kants Voraussetzung der Vernunfterkenntnis
Wie aber die praktische Vernunft
ein Handeln als "gut" und damit als geboten erkennt, wird von Kant nicht näher
ausgeführt. Offenbar ist er der Ansicht, dass die normale Menschenvernunft
bereits weiß, was gut oder böse ist, denn er schreibt, dass der Philosoph die
allgemein verbreitete Menschenvernunft nur auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam
machen kann, "ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren" (S.31).
Kant setzt offenbar die Anerkennung der geltenden Gebote der Sittlichkeit voraus
und stellt diese nicht in Frage.
Dies ist für die heutigen Verhältnisse keineswegs selbstverständlich, wo es z.
T. tiefgreifende Meinungsunterschiede in moralischen Fragen gibt. Sagt uns z. B.
die Vernunft in Form unseres Gewissens, ob vorehelicher Geschlechtsverkehr gegen die Gebote der
Sittlichkeit ist oder nicht?
Tatsächlich gibt es hier keine Übereinstimmung der individuellen
Gewissensentscheidungen. Damit bleibt es unbestimmt, welches Handeln dem guten
Willen entspricht.
Angesichts unterschiedlicher Ansichten über moralisch richtiges Handeln reicht
es offensichtlich nicht aus, einen guten Willen zu haben. Angesichts dieser
Situation muss zuerst nach dem richtigen
Handeln gefragt werden und darauf eine Antwort gefunden werde.
Was bedeutet bei Kant der Ausdruck, dass etwas "ohne Einschränkung für gut
gehalten werden kann"?
Offenbar meint Kant mit dem Ausdruck "etwas kann ohne
Einschränkung für gut gehalten werden", dass etwas unter keinen Bedingungen
selber einen Schaden anrichten oder dabei mitwirken kann. Geistige Talente wie
Verstand und Urteilskraft oder Eigenschaften des Temperaments wie Mut und
Entschlossenheit "sind zwar in mancher Absicht gut und wünschenswert; aber sie
können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von ihnen
Gebrauch machen soll, nicht gut ist" (S.18).
Entsprechendes gilt für Dinge wie Macht oder Selbstbeherrschung. "Das kalte Blut
eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher sondern auch
unmittelbar in unseren Augen noch verabscheuungswürdiger" (S.19)
Die Verwendung der Wörter "gefährlich" und "schädlich" deutet darauf hin, dass
es hier nicht nur um das moralisch Gute geht ("böse", "verabscheuungswürdig") sondern
auch um eine allgemeine Bewertung.
Man könnte Kant entgegenhalten, dass auch eine gute Tat in diesem Sinne
uneingeschränkt gut ist und dass sich keine Situation denken lässt, in der eine
gute Tat zu etwas Schlechtem führt und Schaden anrichtet oder vermehrt.
Man könnte Kant weiterhin entgegenhalten, dass auch Situationen wie die Folgende
denkbar sind, in denen der gute Wille Schaden anrichtet und keineswegs gut
ist:
Jemand folgt der (verallgemeinerbaren) Maxime: "Ich helfe jenen, die unverschuldet in Not
geraten sind". Er wird nun Zeuge eines
Verkehrsunfalls und will dem schwer verletzten Autofahrer helfen. Dabei zieht er
den Verletzten aus medizinischer Unkenntnis aus dem zerstörten Fahrzeug. Dadurch
werden dessen innere Verletzungen jedoch noch verschlimmert und der Autofahrer
stirbt innerhalb kurzer Zeit an inneren Blutungen.
Kant diskutiert derartige Einwände leider nicht. Man könnte jedoch
argumentieren, dass die praktische Vernunft die Zweckmäßigkeit der gebotenen
Handlung immer mit beinhaltet, so dass es keine schädlichen Handlungen geben
kann, die aus gutem Willen getan werden. Das hieße allerdings,
dass die Ausgangsthese dahingehend umformuliert werden
müsste, dass nichts ohne Einschränkung als gut bezeichnet werden kann als ein
guter und informierter Wille.
Wonach bemisst sich der allgemeine Wert einer Handlung?
Kant ist der Ansicht, dass der gute Wille an sich
hochzuschätzen ist und dass der Begriff des guten Willens in der Schätzung der
Handlungen immer obenan steht. Kant sagt, dass dieser Begriff "schon dem
natürlichen gesunden Verstand beiwohnet und nicht sowohl gelehret als vielmehr
nur aufgeklärt zu werden bedarf" (S.22).
Dass für den allgemeinen Wert einer Handlung entscheidend ist, ob sie einem guten Willen
entstammt – d.h. für Kant: ob sie durch die Gebote der Vernunft bestimmt ist –
ist nicht richtig, wie das folgende Beispiel zeigt.
Die Erforschung und Entdeckung der Ursache des Kindbettfiebers durch den Arzt
Semmelweis ist - unabhängig davon, welche Motive dieser guten Tat zugrunde lagen
- eine Handlung von höchstem Wert, die Hunderttausenden von Frauen den frühen
Tod und Hunderttausenden von Kindern die Verwaisung erspart hat. Soviel Gutes
konnten Tausende von Krankenschwestern guten Willens durch ihre
aufopferungsvolle Pflege nicht erreichen wie der Arzt Semmelweis mit seiner
Entdeckung erreicht hat.
Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb ein Vater, der aus Liebe zu seinen
Kindern auf manches verzichtet und sie gut versorgt, nicht eine genauso
wertvolle Handlung ausführt wie der Vater, der dasselbe nicht aus Neigung
sondern aus "gutem Willen", tut, was bei Kant heißt: aus Achtung vor den Geboten
der Vernunft.
Es wäre deshalb falsch, die "Neigungen", die Menschen zu einem Handeln gemäß den
moralischen Normen motivieren, gegenüber dem Pflichtbewusstsein gering zu
schätzen und diese Neigungen in der Erziehung zurückzudrängen.
Liebe und Zuneigung innerhalb der Familie, Sympathie sowie Wohlwollen und
Gemeinschaftsgefühl innerhalb einer sozialen Gruppierung, aber auch
eigennütziges Streben und persönlicher Ehrgeiz sind starke Antriebe im Menschen,
die – unter den geeigneten sozialen Rahmenbedingungen – einen kräftigen Motor
für sozial wertvolles Handeln darstellen.
Wer als erzieherisches Programm die Zurückdrängung aller Neigungen zugunsten des
reinen Motivs der Pflichterfüllung betreibt, der hat ein unrealistisches Bild
vom Menschen und seiner Antriebsstruktur. Er steht in der Gefahr, die Einzelnen
moralisch zu überfordern.
Dem könnte man entgegenhalten, dass die Entdeckung der Ursachen des
Kindbettfiebers zwar eine Handlung von hohem allgemeinem Wert ist, aber dass es
keine eigentlich moralische Tat mit einem moralischen Wert ist.
Moralisch wertvoll ist eine Handlung nur dann, wenn sie entgegen den eigenen
Neigungen ausschließlich aus Achtung vor dem moralischen Gesetz getan wurde.
Eine Terminologie, die zwischen dem allgemeinen und dem moralischen Wert
differenziert, erscheint als sinnvoll. Kants Ausgangthese, dass nur der gute
Wille ohne Einschränkung für gut gehalten werden könne, macht diese
Unterscheidung jedoch nicht, sondern benutzt das Wort "gut" in dem Ausdruck "für
gut halten" im Sinne des allgemeinen Wertes. Dies zeigt sich z. B. daran, dass
er gegen den Wert anderer Fähigkeiten u. a. mit der möglichen Vergrößerung des
Schadens oder der Gefahr argumentiert (S.18). Hätte Kants These gelautet, dass
nur der gute Wille ohne Einschränkung für moralisch gut gehalten werden
könne, so wäre das weit weniger spektakulär gewesen.
Ist der
gute Wille das höchste Gut?
Zu der These, dass nur der gute Wille "an sich" und ohne
Einschränkung gut sei, fügt Kant als weitere These hinzu, dass der gute Wille
auch das höchste Gut sei (S.22).
Die Formulierung legt nahe, dass mit "höchstem Gut" (lateinisch: 'summum bonum') dasjenige bezeichnet wird, das für alle Menschen den höchsten Wert im
allgemeinen Sinne besitzt oder besitzen sollte.
In der Begründung für die Auszeichnung des guten Willens als höchstes Gut
argumentiert Kant mit der Vollkommenheit der Natur, die ihre Zwecke immer auf
dem am besten geeigneten Weg anstrebt. Wenn die Natur als Ziel des Menschen z.
B. dessen
Glückseligkeit bestimmt hätte, dann hätte sie den Menschen mit den
entsprechenden Instinkten dazu ausgestattet. Diese hätten viel sicherer zum Ziel
geführt als eine Vernunft, die den Willen des Menschen noch dazu nur
unvollkommen regiert.
Dies Naturverständnis baut auf der Vorstellung von der Natur als Schöpfung
Gottes auf, der darin alles so zweckmäßig wie möglich eingerichtet hat.
Ein solches Naturverständnis hält den heutigen Erkenntnissen der Genetik nicht
stand, was hier nicht weiter ausgeführt werden soll. Es mag der Hinweis auf die
Rolle zufälliger Mutationen des Erbmaterials genügen und die Feststellung, dass
weit mehr Arten von Lebewesen bereits ausgestorben sind als gegenwärtig existieren.
Dass der gute Wille bzw. das Pflichtbewusstsein das höchste Gut sei, bedeutet
eine überzogene Moralisierung des menschlichen Lebens, wie sie für die
reformatorische Frömmigkeit der damaligen Zeit allerdings typisch war. Das
irdische Leben wurde als eine einzige große moralische Prüfung angesehen.
Viele
Dinge werden jedoch dann am besten getan, wenn sie aus Freude und nicht nur aus
Pflicht getan werden. Diese Freude am Schaffen und am Helfen zu entwickeln, ist
in der Erziehung von nicht minderer Bedeutung als die Befähigung zu entwickeln, aus Einsicht in die Richtigkeit bestimmter
sozialer Regeln auch
entgegen seinen aktuellen Eigeninteressen handeln zu können.
Die Unterscheidung zwischen wertvollen Handlungen und
verdienstvollen Handlungen
Während der Wert einer Handlung unabhängig vom jeweils
Handelnden bestimmen lässt, kann man Handlungen auch daraufhin untersuchen und
vergleichen, wie verdienstvoll sie bezogen auf den Handelnden sind. Je mehr das
aktuelle Eigeninteresse eines Individuums mit den Normen der Moral in Konflikt gerät, desto
stärker muss die Moral "verinnerlicht" und im Individuum gefestigt sein, um sich
gegen das Eigeninteresse durchzusetzen. Die Ausbildung dieser Fähigkeit ist für
die allgemeine Durchsetzung einer Moral deshalb von großer Bedeutung.
Ein Beispiel für eine fest verinnerlichte Moral wäre es, wenn jemand eine Brieftasche mit
einem größeren Geldbetrag findet und zurückgibt, obwohl er selber über wenig
Geld verfügt.
Ein anderes Beispiel wäre die Rettung eines völlig Fremden vor dem Ertrinken
unter Einsatz des eigenen Lebens.
Moralisch verdienstvoll kann deshalb auch eine Handlung sein, die als solche
wertlos ist, weil sie misslingt: Jemand springt ins Wasser, aber er
kann den Ertrinkenden wegen einer starken Strömung nicht erreichen. Der gute
Wille (oder wie man auch formulieren kann: die Einsicht in die Wichtigkeit und
Richtigkeit der bestehenden moralischen Ordnung) ist für das Zusammenleben der
Menschen derart wichtig,
dass das Vorhandensein dieser Einsicht selbst dann als moralisch verdienstvoll anerkannt und gelobt wird, wenn im Einzelfall die
entsprechende Handlung misslingt.
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Kant: Der Kategorische Imperativ ** (21 K)
Kants Konzeption synthetischer Urteile a priori *** (42 K)
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höchstes Gut"
Letzte Bearbeitung 04.12.2008 / Eberhard Wesche
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