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Abstimmungsverfahren und Koalitionsbildung

Die Mehrheitsalternative als Gleichgewichtspunkt aller gleichgewichtigen Wahlverfahren

Eine frühere Version dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel "Die 'unsichtbare Hand' in der Demokratie" in G. Göhler (Hg.): Politische Theorie, S. 77-84, Klett-Cotta Verlag, 1978.


Inhalt:

Die "unsichtbare Hand" in der Marktwirtschaft
Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen
Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse
Anmerkungen



Textanfang
 

Einleitung: Die "unsichtbare Hand" in der Marktwirtschaft


In der Geschichte der ökonomischen Theorie spielt das Theorem von der "unsichtbaren Hand" eine große Rolle, die unter Bedingungen vollkommener Konkurrenz das eigeninteressierte Handeln der privaten Eigentümer auf einen Gleichgewichtszustand lenkt, der zugleich ein optimaler Zustand im normativen Sinne ist.

Diese schon bei Adam Smith1) angedeutete Rechtfertigung einer privaten Marktwirtschaft wurde später in der Paretianischen Wohlfahrtsökonomie präzisiert und systematisch dargestellt2). Danach führt unter bestimmten Voraussetzungen das eigeninteressierte Verhalten von profitmaximierenden Unternehmen und nutzenmaximierenden Haushalten im idealen Konkurrenzmodell zu einem Gleichgewichtszustand mit pareto-optimaler Produktion und Verteilung3). Als pareto-optimal gilt dabei ein Zustand dann, wenn zu ihm keine Alternative existiert, bei der zumindest ein Individuum besser gestellt wird und zugleich kein anderes Individuum schlechter gestellt wird.

Ohne dass auf die Kritik an dieser ökonomischen Rechtfertigungstheorie hier eingegangen werden kann, die bereits am paretianischen Optimalitätskriterium selber anzusetzen ist4), soll im Folgenden gezeigt werden, dass ein analoger Mechanismus in Form einer "unsichtbaren Hand" auch in demokratischen Abstimmungsverfahren wirksam ist, insofern auch hier das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Wähler zu einem Ergebnis führt, das unter bestimmten Voraussetzungen als Ausdruck des Gesamtinteresses angesehen werden kann.

Wenn dies richtig ist, so ist es nicht erforderlich, dass die Individuen in den Abstimmungen ein Urteil über das Gesamtinteresse abgeben, sondern es genügt, wenn jeder nur seine eigenen Interessen durch seine Stimmabgabe ausdrückt.


Im Folgenden soll nun anhand des Prinzips der relativen Mehrheit modellhaft dargestellt werden, wie diese Zusammenfügung der individuellen Interessen zu einem Gesamtinteresse in demokratischen Abstimmungsverfahren verläuft.

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Der Gleichgewichtspunkt in Mehrheitsabstimmungen

Zur Veranschaulichung soll ein einfaches Beispiel gewählt werden, bei dem 5 Individuen A, B, C, D und E über die 3 Alternativen x, y und z abstimmen. Als kollektiv gewählt gilt diejenige Alternative, die die meisten Stimmen - also mehr als irgendeine andere - erhält.

Die Präferenzen jedes Individuums hinsichtlich der zur Entscheidung stehenden Alternativen lassen sich dabei durch eine entsprechende Rangfolgen der Alternativen ausdrücken.

In der folgenden Tabelle sind für 5 Individuen deren mögliche Interessenlagen in Form solcher Präferenz-Rangordnungen dargestellt, wobei die Alternativen in der Rangfolge, wie sie dem Interesse des jeweiligen Individuums entsprechen, untereinander geschrieben wurden:

 A

 B

 C

 D

 E

1. Rang

 x

 y

 z

 y

 z

2. Rang

 y

 z

 x

 x

 y

3. Rang

 z

 x

 y

 z

 x

Tabelle 1

In diesem willkürlich gewählten Beispiel entspricht z. B. die Alternative y den Interessen des Individuums D am besten. Die Alternative z nimmt bei D den letzten Rangplatz ein und ist für D die schlechteste Möglichkeit.

Die Frage ist nun, welche Alternative sich angesichts einer solchen Konstellation der individuellen Interessen bei einer Abstimmung nach dem relativen Mehrheitsprinzip durchsetzt, wenn jedes Individuum bei der Abstimmung nur seinem Eigeninteresse – ausgedrückt durch seine Präferenzrangfolge der Alternativen – folgt und die Präferenzrangfolgen aller Individuen allen Beteiligten bekannt sind.

Dabei ist vorweg zu klären, was unter einem "eigeninteressierten Abstimmungsverhalten" zu verstehen ist. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass jedes Individuum für diejenige Alternative stimmt, die seiner Interessenlage am besten entspricht, dass also z. B. Individuum A für seine Spitzenalternative x stimmt. Tatsächlich wäre ein solches "aufrichtiges" Abstimmungsverhalten jedoch nicht in A's Interesse, da angesichts der Interessenlage der übrigen Individuen die Alternative x keine Chance auf die Erlangung einer relativen Mehrheit besitzt und die Stimme für x damit "verloren" wäre.

Wenn jedoch nur y und z eine Aussicht auf die Erringung der relativen Mehrheit haben, so ist es für A am vorteilhaftesten, seine Stimme für die Alternative y abzugeben, die für A immer noch besser ist als die Alternative z.

Tatsächlich bildet die Alternative y im vorliegenden Fall den Gleichgewichtspunkt, auf den hin das Abstimmungsergebnis tendiert, sofern vorausgesetzt wird, dass alle Individuen über die Interessenlage aller Beteiligten informiert sind und dass jedes Individuum diejenige Abstimmungsstrategie wählt, die für es selber am vorteilhaftesten ist.

Es lässt sich zeigen, dass in jedem Fall, wo eine andere Alternative als y die relative Mehrheit erhält, mindestens ein Individuum nicht "rational", also nicht den eigenen Interessen entsprechend abgestimmt hat.

Hätten z. B. die Individuen A, C und E für x gestimmt, so dass x mit 3:2 Stimmen die relative Mehrheit gegenüber y erhält, so hätte Individuum E nicht seinem Eigeninteresse gemäß abgestimmt. Denn hätte E für die Alternative y gestimmt, so wäre die Alternative y erfolgreich gewesen, die für E besser ist als x.

Dass im vorliegenden Beispiel die Alternative y den Gleichgewichtspunkt der Abstimmung darstellt, hängt damit zusammen, dass es sich bei y um die Mehrheitsalternative handelt. Die "Mehrheitsalternative", die auch als "Condorcet Winner" bezeichnet wird, ist dadurch definiert, dass sie im paarweisen Vergleich mit jeder anderen Alternative mehr Stimmen erhält als diese5).

In unserem Beispiel gibt es 3 mögliche Paarvergleiche mit den folgenden Abstimmungsergebnissen:

    x gegen y -> 2:3         x gegen z -> 3:2         y gegen z -> 3:2.

Die Alternative y ist also den beiden übrigen Alternativen x und z im Paarvergleich überlegen und ist somit die Mehrheitsalternative.

Das Bemerkenswerte an diesem Ergebnis ist, dass sich unter der Voraussetzung der Transparenz aller Interessen und eines eigeninteressierten Abstimmungsverhaltens aller Individuen die Mehrheitsalternative y als erfolgreich erweist, obwohl über die Alternativen gar nicht paarweise abgestimmt wurde, sondern nur ein einmaliger Wahlgang nach der Regel der relativen Mehrheit vorgenommen wurde.

Es ist jedoch keineswegs zufällig, dass sich in unserem Beispiel bei Anwendung des relativen Mehrheitsprinzips die Mehrheitsalternative als Gleichgewichtspunkt des Abstimmungsprozesses ergibt. Wie sich zeigen lässt, gilt das gleiche für alle Abstimmungsverfahren, die den Präferenzordnungen der Individuen gleiches Gewicht beimessen6). Insofern sich in jedem Fall  eine vorhandene7) Mehrheitsalternative durchsetzt, kann man hier auch von einem "Äquivalenztheorem" für alle individuell gleichgewichtigen Wahlverfahren sprechen.

Dies Äquivalenztheorem lässt sich am einfachsten negativ beweisen, indem gezeigt wird, dass immer dann, wenn anstatt einer vorhandenen Mehrheitsalternative m irgendeine andere Alternative x erfolgreich ist, zumindest eines der Individuen nicht die für sich günstigste Abstimmungsstrategie gewählt haben muss:

Da eine Mehrheitsalternative m bei Abstimmungen gegenüber jeder anderen Alternative die Mehrheit der Stimmen erhält, so muss auch die Anzahl derjenigen Individuen, die m gegenüber irgendeiner beliebigen Alternative x vorziehen, größer sein als die Zahl derjenigen, die umgekehrt x gegenüber m vorziehen.
 
Wenn jedoch jedes Individuum einen gleichgewichtigen Einfluss auf die Entscheidung besitzt, so haben die Befürworter von m aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit immer die Möglichkeit, mit ihrem größeren Gewicht anstelle von x die von ihnen vorgezogene Alternative m durchzusetzen.

Für die normative Beurteilung von Abstimmungsverfahren ist das oben entwickelte Äquivalenztheorem nicht unerheblich, denn es lässt die Abstimmungspraxis demokratischer Gremien in einem neuen Licht erscheinen. So wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum so häufig das relative Mehrheitsprinzip Anwendung findet, obwohl es bei einem "aufrichtigen" Abstimmungsverhalten aller Individuen zu kaum akzeptablen Ergebnissen führt, vor allem bei einer relativ großen Zahl von Alternativen8).

Weiterhin wird verständlich, warum gewöhnlich Diskussionen, Verhandlungen oder Zwischen- bzw. Probeabstimmungen der endgültigen Abstimmung vorgeschaltet sind, denn sie geben nicht nur die Gelegenheit zu besserer Information über die zur Entscheidung anstehenden Alternativen, sondern sie sind auch Voraussetzung für die Information über die Interessenlage der Beteiligten. Erst diese Information ermöglicht  eine eigeninteressierte, rationale Koalitionsbildung und Abstimmungsstrategie.

Mit Hilfe des Äquivalenztheorems erledigt sich auch ein weiteres Problem, das bei der normativen Beurteilung von Abstimmungsverfahren meist eine erhebliche Schwierigkeit bildete.

Um etwa eine vorhandene Mehrheitsalternativ durch paarweise Abstimmungen zwischen den Alternativen zu ermitteln, wurde bisher vorausgesetzt, dass alle Individuen gemäß ihren tatsächlichen Interessen bzw. Präferenzordnungen "aufrichtig" abstimmen und darauf verzichten, durch geschicktes Abstimmungsverhalten ein für sich selber vorteilhafteres Abstimmungsergebnis zu erzielen. Die Durchsetzung einer derartigen "Abstimmungsmoral" ist jedoch bei geheimer Abstimmung nicht möglich9).

Angesichts des Äquivalenztheorems ist eine derartige Kontrolle des Eigeninteresses aber auch überflüssig, denn wie gezeigt wurde, führt gerade das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Individuen bei Information über die Präferenzen der andern Abstimmungsberechtigten zum Resultat der Mehrheitsalternative.

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass es angesichts des Äquivalenztheorems müßig erscheint, nach noch ausgeklügelteren Abstimmungsverfahren zu suchen, denn aufgrund des eigeninteressierten Abstimmungsverhaltens der Individuen ist bereits beim leicht durchzuführenden relativen Mehrheitsprinzip die Durchsetzung der Mehrheitsalternative möglich. Auch ein komplizierteres Verfahren könnte hier kein besseres Ergebnis erbringen10).

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Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse

Die bisherigen Ausführungen haben den Nachweis erbracht, dass - unter den genannten Voraussetzungen - in demokratischen Abstimmungen eine "unsichtbare Hand" wirksam ist, die das eigeninteressierte Abstimmungsverhalten der Individuen auf die Durchsetzung des Gleichgewichtspunktes in Form einer vorhandenen Mehrheitsalternative lenkt.

Offen bleibt jedoch noch die Frage, ob es sich dabei um eine "wohltätige" Hand handelt. Es bleibt also noch die Frage zu beantworten, inwiefern die Mehrheitsalternative als Ausdruck des Gesamtinteresses angesehen werden kann11).

Dies setzt voraus, dass ein "Gesamtinteresse" als allgemeingültiges normatives Kriterium bestimmt werden kann. Ein Versuch zur Lösung dieser grundlegenden Problematik jeder Sozialethik habe ich an anderer Stelle unternommen12), so dass hier eine grobe Skizzierung der Ergebnisse genügen soll.

Um als Kriterium für die normative Gültigkeit kollektiver Normen oder Entscheidungsregeln gelten zu können, sind m. E. bei der Bestimmung des Gesamtinteresses zwei Prinzipien zu berücksichtigen:

1. Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit von Behauptungen steht und fällt mit der argumentativen Konsensfähigkeit dieser Behauptungen13). Dies gilt auch für normative Behauptungen, wie z. B. die Bestimmung eines allgemeingültigen Gesamtinteresses. (Intersubjektivitätsprinzip).

2. Ein argumentativer Konsens in Bezug auf das Gesamtinteresse lässt sich nur dann erreichen, wenn jedes Individuum die Interessen jedes anderen solidarisch so berücksichtigt, als wären es zugleich seine eigenen14) (Solidaritätsprinzip).

Um angesichts eines Interessenkonflikts zu einem argumentativen Konsens zu gelangen, ist es demnach erforderlich, dass jedes Individuum nicht nur seine eigenen Interessen berücksichtigt, sondern dass es sich zugleich in die Lage der Anderen hineinversetzt und die Entscheidung unparteiisch auch aus deren Sicht beurteilt15).

Da sich die Begründung dieser ethischen Position hier nicht leisten lässt, sei das Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung hier nur als eine bewusste normative Setzung eingeführt, so dass auch ein Positivist keine methodischen Bauchschmerzen bei der nachfolgenden Erörterung haben muss. Diese ist damit rein analytisch und kommt ohne weitere normative Behauptungen aus. Ihre Ergebnisse gelten nur für denjenigen, der das ethische Prinzip der unparteiischen Interessenberücksichtigung akzeptiert.

Wie verhält sich nun die Mehrheitsalternative zu einem derartigen solidarisch bestimmten Gesamtinteresse? Welche Stärken und Schwächen hat das demokratische Mehrheitsprinzip gemessen an diesem Kriterium normativer Allgemeingültigkeit?

Zum einen impliziert das skizzierte Solidaritätsprinzip, dass das Gesamtinteresse aufgrund der individuellen Interessen bestimmt wird. Dies wird durch das Mehrheitsprinzip erfüllt, denn die kollektive Entscheidung ist allein von der Stimmabgabe der Individuen abhängig16).

Allerdings wird die Bestimmung der individuellen Interessen durch die betreffenden Individuen selber vorgenommen. Ein solches rein subjektives Verfahren ist jedoch keineswegs selbstverständlich, wie schon die Tatsache zeigt, dass in der Regel Kindern oder Geisteskranken das Stimmrecht nicht gewährt wird.

Die Berechtigung einer subjektiven Selbsteinschätzung der individuellen Interessen steht und fällt aber mit der Beantwortung der Frage, inwiefern die Individuen tatsächlich über ihre eigene Interessenlage aufgeklärt sind und selber am besten beurteilen können, was für sie gut ist. Dies Problem drückt sich in der gängigen Formel aus, dass die Demokratie den mündigen Bürger voraussetzt, der also nicht durch Erziehungsinstitutionen oder Massenmedien "manipuliert" sein darf17).

In dem Maße, wie die sozialen und psychischen Bedingungen der Aufklärung für die Individuen nicht gegeben sind, wird fraglich, ob ein Abstimmungsergebnis dem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse entspricht.

Weiterhin müssen unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen Interessenberücksichtigung alle von einer Entscheidung betroffenen Individuen mit ihren Interessen einbezogen werden. Insofern es also betroffene Individuen gibt, die bei der Entscheidung nicht abstimmungsberechtigt sind, wird die Mehrheitsentscheidung ethisch problematisch. Ein solcher Fall ergibt sich etwa bei Abstimmungsentscheidungen mit sehr langfristigen Konsequenzen, bei denen zukünftige Generationen in ihren Lebensbedingungen zwar stark betroffen sind, aber aus naturgegebenen Gründen ihre Interessen in der Abstimmung nicht selber artikulieren können.

Selbst wenn die beiden bisher angesprochenen Probleme befriedigend gelöst werden könnten, könnte man trotzdem nur unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen von einer solidarischen Interessenberücksichtigung durch das Mehrheitssystem sprechen.

Zwar gehen bei der Bestimmung der Mehrheitsalternative alle Individuen mit gleichem Gewicht in die kollektive Entscheidung ein, so dass keine Individuen oder Gruppen prinzipiell bevorzugt werden. Es spielt dabei auch keine Rolle, von welchem Individuum eine bestimmte Stimme kommt, so dass auch eine anonyme Stimmabgabe möglich wäre18).

Allerdings ist Gleichgewichtigkeit der Individuen nicht mit solidarischer Berücksichtigung der individuellen Interessen gleichzusetzen, da eine möglicherweise unterschiedliche Dringlichkeit bzw. Gewichtigkeit der individuellen Interessen nicht berücksichtigt wird, wie die folgende Überlegung zeigt.

Die Mehrheitsalternative ist dadurch charakterisiert, dass sie gegenüber jeder anderen Alternative im Paarvergleich von einer Mehrheit vorgezogen wird. Dabei spielt also nur eine Rolle, ob eine Alternative für das betreffende Individuum besser ist oder nicht.

Es wird jedoch nicht berücksichtigt, um wie viel eine Alternative im Vergleich besser ist. Die Interessen der Individuen werden nur als Rangordnungen von Alternativen erfasst, wobei der interessenmäßige Abstand zwischen den Alternativen nicht berücksichtigt wird19).

Durch diese Beschränkung auf ein ordinales Messniveau bei der Bestimmung der individuellen Werte bleibt eine unterschiedliche Dringlichkeit der Interessen unberücksichtigt.

Dies ist unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen Interessenberücksichtigung jedoch problematisch, denn diese verlangt, fremde Interessen bei der Bestimmung des Gesamtinteresses so zu berücksichtigen als seien es die eigenen.

Bei der isolierten eigenen Entscheidung berücksichtigt man jedoch selbstverständlich unterschiedliche Dringlichkeiten von Interessen, was z. B. dann deutlich wird, wenn mehrere Einzelentscheidungen zu einer einzigen Gesamtentscheidung zusammengefasst werden und die wichtigeren Entscheidungen den Ausschlag bei der Gesamtentscheidung geben

Wie schwerwiegend ist nun dieser ethische Einwand gegen das Mehrheitsprinzip? Unter welchen Bedingungen kann man dann noch davon ausgehen, dass die Mehrheitsalternative zugleich diejenige Alternative ist, die einem solidarisch bestimmten Gesamtinteresse zumindest annähernd  entspricht?

Die bloße Tatsache, dass Individuen unterschiedlich stark von einer Entscheidung betroffen sind, muss noch keine Probleme aufwerfen, sofern sowohl bei der Mehrheit als auch bei der Minderheit starke und schwache Betroffenheit der Individuen vorkommt und die durchschnittliche Betroffenheit bei beiden Gruppen ungefähr gleich ist.

Unproblematisch ist es ebenfalls, wenn die Mehrheit stärker betroffen ist als die Minderheit.

Nur in dem Fall, bei dem die Minderheit von der Entscheidung durchschnittlich stärker betroffen ist als die Mehrheit, müssen sich Mehrheitsalternative und Gesamtinteresse nicht mehr decken.

Dabei ist die Mehrheitsentscheidung in diesem Fall ethisch umso problematischer, je knapper die zahlenmäßige Überlegenheit der Mehrheit ist20). Ein solcher Fall liegt etwa vor, wenn die Bevölkerung eines Landes mehrheitlich eine Entscheidung fällt, die für die Bewohner einer bestimmten Region, die sich in der Minderheit befinden, mit schweren Nachteilen verbunden ist.

In derartigen Fällen sehr ungleicher Betroffenheit der Individuen von der Entscheidung ist der Gleichgewichtspunkt in Form der Mehrheitsalternative kein geeigneter Ausdruck für ein solidarisch bestimmtes Gesamtinteresse, so dass Regelungen getroffen werden müssen, um die starken Unterschiede in der Betroffenheit möglichst auszuschließen bzw. auszugleichen.

Eine von vielen Möglichkeiten hierzu ist die Abgrenzung dezentraler Entscheidungsbereiche, in denen nur die jeweils davon stärker betroffenen Individuen abstimmungsberechtigt sind, etwa durch die Einrichtung regionaler Selbstverwaltungseinheiten.

Fazit dieser Überlegungen ist, dass der Gleichgewichtspunkt in Form der Mehrheitsalternative nur unter den genannten einschränkenden Bedingungen als geeigneter Ausdruck eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses angesehen werden kann. Deshalb kann das Wirken der "unsichtbaren Hand" in demokratischen Abstimmungsverfahren auch nur unter diesen Bedingungen als "wohltätig" angesehen werden.
 

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Anmerkungen

(1) Vgl. dazu auch M. Blaug, Economic Theory in Retrospect. London 1968, S. 58f.
(2) Eine Darstellung gibt D.M. Winch, Analytical Welfare Economics. Harmondsworth 1971.
(3) Anzumerken ist, dass es sich dabei um eine statische Analyse handelt, bei der von dynamischen Aspekten des Zeitablaufs abstrahiert wird.
(4)  Vgl. dazu z. B. A.K. Sen, Collective Choice and Social Welfare. San Francisco u. a. 1970, S. 22 oder J. Rawls, A Theory of Justice. London u.a. 1973, S. 70f.
(5)  Vgl. dazu Duncan Black: The Theory of Committees and Elections. London 1971, S. 57.
(6)  Individuell gleichgewichtige Abstimmungsverfahren sind dadurch gekennzeichnet, dass jedes Individuum eine gleich große Anzahl von Stimmen je Wahlgang zu vergeben hat. Zufallsverfahren sind nicht in diesem Sinne "gleichgewichtig", weil ein Zufallsergebnis überhaupt nicht aus den Rangordnungen der Individuen abgeleitet wird.
(7)  Es muss jedoch nicht immer eine derartige Mehrheitsalternative vorhanden sein. Zur Problematik derartig zirkulärer Mehrheiten vgl. Sen 1970, S. 163ff.
(8)  Vgl. dazu z. B. Black 1971, S. 68.
(9)  Man vergleiche z. B. einmal die Überlegungen bei Dodgson: "A Method of Taking Votes on More than Two Issues" in: Black 1971, S. 232ff.
(10)  
Eine Analyse unterschiedlicher Abstimmungsverfahren in diesem Sinne findet sich in Black 1971.
(11)  Insofern die Fragen nach dem Gleichgewichtspunkt und nach dem Gesamtinteresse auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen liegen, bleiben die Ergebnisse hinsichtlich des Gleichgewichtspunktes in ihrer Geltung unberührt von den folgenden sozialethischen Überlegungen.
(12)  Diese Konzeption eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses ist dargestellt in E. Wesche: Zur Methodologie der normativen Sozialwissenschaften. Tauschprinzip - Mehrheitsprinzip - Gesamtinteresse, § 53f., Dissertation Berlin 1976 (In dieser Website verfügbar hier.)
(13)  Zur argumentativen Konsensfähigkeit als Kriterium für die Allgemeingültigkeit normativer Behauptungen vgl. J. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973, S. 148, P. Lorenzen: Konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1974, S. 35, sowie K.-0. Apel: Transformation der Philosophie 2. Bd. Frankfurt a. M. 1973, S. 420f.
(14)  Einem derartigen Solidaritätsprinzip verwandte Prinzipien werden in der Geschichte der Ethik verschiedentlich formuliert. Zu nennen wäre vor allem Leonard Nelson, dessen "Abwägungsgesetz" lautet: "Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären." L. Nelson: Kritik der praktischen Vernunft. Göttingen 1916, S. 133.
(15)  Dabei kann jedoch die Frage, wie dies möglich ist und wie man fremde Interessen kennen und mit den eigenen Interessen vergleichen kann, noch keineswegs als gelöst angesehen werden. Wichtige Überlegungen zu einem derartigen 'interpersonalen Nutzenvergleich' finden sich in J. C. Harsanyi: "Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons of Utility", in: Journal of Political Economy, 63.(1955), S. 309-321.
(16) Es werden also nicht bestimmte Entscheidungsalternativen unabhängig vom Interesse der Individuen bevorzugt. Zum Beweis dieser "Neutralität" der Mehrheitsregel gegenüber den Alternativen s. K.O. May: "A Set of Independent, Necessary and Sufficient Conditions for Simple Majority Decision" in: Econometrica 20.(1952) S. 680-684.
(17)  Zur Frage, was die Bedingungen der Aufklärung über die eigenen Interessen sind und was als manipulative Verletzung dieser Bedingungen anzusehen ist, s. Wesche 1976, Kap. 6
(18) Zum Nachweis der Anonymitätseigenschaft der Mehrheitsregel vgl. May 1952.
(19)  Zur Diskussion des Messniveaus in der Nutzentheorie vgl. G. Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung. Tübingen 1968, S.144ff.
(20)  Zur Problematik fehlender Berücksichtigung von Präferenzintensitäten vgl. R. A. Dahl: A Preface to Democratic Theory. Chicago u. a. 1970, S. 90ff.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Das Mehrheitsprinzip, § 120
   Zirkuläre Präferenzen ** (10 K)

 

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Letzte Bearbeitung 03.01.2007 / 06.11.2012 / Eberhard Wesche
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