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Eigene Texte aus der Zeit der '68er Bewegung
Die Jugend und die Revolte
Die Notwendigkeit der Rationalität
Unter Menschen
Programmatik 1965
Mein Selbstverständnis 1971
Sexualität, Ethik und Demokratie (1967)
Politologie als Emanzipationswissenschaft (1968)
Kampf dem Sexual-Tabu (1969)
Zum Fall Mandel (1972)
Gegen die Aushöhlung der Demokratie (1975)
Marxistische Staatstheorie und politische Demokratie (1976)
Die Thesen zur marxistischen Rechtstheorie von Oskar Negt (1976)
Antwort auf die Kritik am "ahistorischen Vorgehen" in der normativen Rechtstheorie (1977)
Die programmatische Diskussion der Linken vorantreiben (1977)
Sozialismus - mit falschen Voraussetzungen (2003)
An einen Anhänger des Marxismus-Leninismus (2005)
Leserbrief (zum Artikel von J. Schönbohm) (2008)
Zur RAF (2008)
Ein 68er
Die folgenden 4 Texte aus dem Jahr 1965 sind mehr Beispiele des damaligen Denkens in Teilen der Studentenschaft als heute noch gültige politische Überlegungen. Sie vermitteln jedoch recht anschaulich die Motive, aus denen sich der Protest speiste.
Die Jugend und die Revolte
(1965)
Warum lehnt sich gerade die Jugend gegen die bestehende Ordnung auf? Es liegt
nicht an ihrer mangelnden Erfahrung. Es liegt daran, dass sie noch die Hoffnung
und den Willen hat, ihre Zukunft nach ihren Wünschen zu gestalten. Es liegt
daran, dass sie im Prozess der "Erziehung" zur schmerzhaften Anpassung an eine
unterdrückerische Umwelt gezwungen werden soll. Sie hat sich noch nicht
abgefunden mit den Verzichten und den Beschränktheiten, die die Erzieher ihr
auferlegen wollen.
Dieser Kampf der Jugend um ihre Freiheit und ihr Glück
ist keine "Jugendtorheit". Ihr Kampf gegen die unverantwortlichen Autoritäten
und eine unterdrückerische Moral steht in dem geschichtlichen Zusammenhang des
Kampfes der Menschen um ihre Selbstbestimmung, ist ein Kampf für die bessere
Zukunft aller Menschen. Wenn sie die herrschenden Werte des Prestiges ablehnt,
wenn sie nicht so werden will, wie die Erwachsenen es sind, so deshalb, weil sie
ihre Spontaneität und ihren Anspruch auf Mündigkeit nicht in den Tretmühlen
dieser Ordnung zerreiben lassen will.
Der Kampf gegen eine
unterdrückerische Welt kann letztlich nur der Kampf der Unterdrückten selber
sein, dieser Kampf kann nicht stellvertretend von den "Politikern" geführt
werden. Politisch handeln heißt, die Bestimmung der eigenen Lebensverhältnisse
auch in die eigenen Hände zu nehmen.
Für die Jugend, die in Unwissenheit
und Unmündigkeit gehalten wird, der das Recht vernünftiger Selbstbestimmung
vorenthalten wird, heißt das, dass sie sich in den Schulen und Lehrbetrieben
organisieren muss, dass sie mit der Freiheit, wie sie in Musik, Tanz und
Kleidung anklingt, ernst macht in ihrem tatsächlichen, alltäglichen Leben.
Immer noch wird mit allen Mitteln, mit dem direkten Verbot und der
heimlichen Angst, der Jugend ihre sexuelle Befriedigung erschwert oder
vorenthalten. Nicht die schon Verheirateten und Altgewordenen werden den Kampf
gegen eine lustfeindliche Ordnung führen, sondern nur die, deren Gefühle noch
nicht erwürgt und verbogen sind, nur die, die noch nicht in die
patriarchalischen Muster eingepasst sind.
Die Hoffnung, einmal erwachsen
zu werden und dann frei und unabhängig zu sein, hat sich als trügerisch
erwiesen. Ohne eine politische und moralische Ordnung, die an den heute
unterdrückten Bedürfnissen und Wünschen ausgerichtet ist, kann es auch für den
Einzelnen kein befriedigendes Leben geben.
Die Notwendigkeit der Rationalität
(Handschriftlich ca. 1965)
Die Tatsache, dass in der Vergangenheit
geschichtsphilosophische Systeme durch ihre Metaphysik und Dogmatik allerlei
geistiges und politisches Durcheinander hervorgebracht haben, darf uns nicht
daran hindern, unsere Gegenwart in den historischen Zusammenhang zwischen
Vergangenheit und Zukunft einzuordnen und grundlegende historische Tendenzen zu
erkennen, um die möglichen Wege und anstehenden Aufgaben der eigenen Zeit zu
begreifen.
Natürlich kann uns keine noch so mächtige geschichtliche
Tendenz zwingen, sie gut zu heißen und sie nicht beeinflussen zu wollen.
Allerdings kann uns das Bewusstsein einer wirkenden historischen Tendenz dazu
bringen, ihre positiven Chancen zu erfassen und sie nun bewusst und systematisch
weiter durchzusetzen und zu entwickeln.
Auf den komplizierten logischen Charakter von
geschichtsphilosophischen und "futurologischen" Aussagen und deren
wissenschaftliche Beweisbarkeit soll nur hier nur hingewiesen werden. Auf jeden
Fall haben solche Geschichtstheorien hypothetischen und prinzipiell
provisorischen Charakter und sind von ihren historischen Prämissen natürlich von
der weiteren Entwicklung falsifizierbar.
Mit der gebotenen Vorsicht soll hier skizzenhaft eine
Ortsbestimmung der Gegenwart vorgenommen werden mit dem Ziel, die Chancen der
Rationalität und deren Notwendigkeit deutlich zu machen, wobei es unumgänglich
ist, recht weit gespannte und nur unvollkommen begründbare Theorien
andeutungsweise zu entwickeln.
Alles Leben hat seine umweltmäßigen
Lebensbedingungen, auf die das Lebewesen eingestellt ist. Auf den verschiedenen
Stufen der organischen Entwicklung haben sich verschiedene Mittel
herausgebildet, um ein erfolgreiches Verhalten des Lebewesens innerhalb seiner
Umgebung zu erreichen: physiologische Reflexe, Organe zur direkten sinnlichen Wahrnehmung, instinktive
Verhaltensmuster und ähnliches.
Auch beim Menschen gibt es solche Regelungen des Verhaltens,
etwa kulturelle Traditionen, die Weltanschauungen und Moralsysteme sowie
Orientierung durch systematische empirische Erkenntnis und logisches Denken. In
der gesamten Geschichte des organischen Lebens kann dabei die Tendenz
festgestellt werden, von relativ feststehenden vererbten Steuerungsmechanismen
zu immer mehr aktuell realitätsbezogener Orientierung und Reaktionen
fortzuschreiten, ausgehend von primitiven Reizmustern, die nur für relativ
statische und günstige Umweltbedingungen ausreichen, bis zum intelligenten
Verhalten, das eine Gestaltung selbst ungünstiger Umweltbedingungen zu Gunsten
der eigenen Existenzmöglichkeit erlaubt.
Die Fortschritte in der höheren Organisation des Lebens gingen
also gleichsam einher mit einem Wachstum an Realismus, worunter der Bezug auf
die aktuelle Umwelt und deren Beschaffenheit verstanden werden sollen. Und es
bedarf wohl keiner weiteren Begründung dafür, dass intelligente Orientierung und
entsprechendes Verhalten eine bessere Garantie für erfolgreiche Existenz ist als
Verhaltenssteuerung über physiologische und instinktive Automatismen oder auch
dogmatische erkenntnismäßige und sittliche Traditionen.
Ein Instinkt kann immer nur in einen bestimmten
Umweltzusammenhang funktionieren, ist deshalb auf eine gewisse Statik und
Kontinuität der Umwelt angewiesen. Er hat aus sich heraus auch nicht die
Tendenz, bessere Verhaltensmuster zu entwickeln. Dies kann höchstens auf dem Weg
biologischer Mutation und Selektion entstehen.
(Nicht fertig gestellt)
(12/1965)
Im Allgemeinen ist die Erziehung bestrebt, einen Grundstock moralischer
Gesinnung im Einzelnen zu schaffen, die verinnerlicht als übergeordnete Instanz
des Gewissens sich ausdrückt. So großartig sich diese Prinzipien nun auch in
hervorragenden Einzelnen vollendet haben, so offensichtlich ist es doch, dass
diese Methode nicht ausreicht, um den Umgang der Menschen miteinander von vielen
unnötigen Spannungen, Aggressionen, Beleidigungen und Rohheiten zu befreien. Oft
tyrannisieren Menschen sich und andere gerade mit diesen Grundsätzen, starren
Einstellungen und eingefahrenen Verhaltensweisen.
Der Grund für die
mangelhafte Wirksamkeit solcher Gesinnungsmoral liegt in ihrer Blindheit für die
Folgen des Handelns. Nicht dass dieser Gesichtspunkt überhaupt nicht in sie
eingegangen wäre, aber letztes Kriterium ist für sie die Vereinbarkeit des
Verhaltens mit unbefragbaren, autonom innerlich existierenden Normen.
Wollte man nun ein moralisches Bewusstsein bestimmen, das sein Verhalten auf die
Folgen und die äußere Wirklichkeit abstellt, so käme als wichtigstes Organ die
vernünftige Erkenntnis hinzu.
Sle würde jeweils sagen: "Diese Höflichkeit
kostet mich nichts." - "Mit solchem Verhalten erschwere ich dem anderen seine
Lage nur unnötig." - "Gehässigkeit, Neid und Rivalität nützen niemandem etwas."
usw. Solche vernunftbestimmten Umgangsformen werden sich im Ergebnis weitgehend
mit den traditionellen Normen decken, doch sind sie auf die Grundlage
vernünftiger Einsicht gestellt und sind auf die äußere Realität direkt bezogen.
Es zeugt von einer pessimistischen Auffassung vom Menschen, wenn man
diese Grundlage für zu schwankend häIt. Geleitet von der Einsicht, dass ein
gemeinsames Interesse gegenseitiger Rücksichtnahme besteht und dass alle Normen
und Gesetze ihre Berechtigung allein aus ihrem Nutzen für die Menschen ziehen,
sollte es möglich sein, mit einer Haltung nüchterner Menschenfreundlichkeit
unseren Umgang miteinander zu erleichtern und zu verbessern. Viel wäre schon
gewonnen, wenn jeder wenigstens dort Konflikte vermeiden würde, wo seine
eigenen Interessen gar nicht berührt werden.
Vielleicht sollte man auch
die Unsitte absterben lassen, dass man Gesetzen wie den Verkehrsregeln an
sich Gültigkeit zuschreibt und in unsinnigem Rigorismus selbst geringfügige
Abweichungen maßregeln will, obwohl dadurch niemand behindert oder gefährdet
wird. Stattdessen darf jemand, der durch unsinniges Pochen auf das eigene Recht
anderen das Leben schwer macht, mit sich selbst gar noch zufrieden sein.
Vielleicht wird mancher mit einem Hinweis auf die psychische Genese der
Verhaltensnormen solche Gesichtspunkte für unrealistisch halten, doch ist es
nicht einzusehen, weshalb man sich hier der Tyrannei von Tatbeständen überlassen
müsste und die Befreiung des vernünftigen Individuums nicht fortsetzen sollte.
Demokratie, Wissenschaft, moderne Kunst
(Handschriftliche private Skizze ca. 1965)
Demokratie
Alle Menschen sollen gleichberechtigt die
Gesellschaft selbst gestalten.
Die Menschen sollen nach den Regeln leben, die sie sich in gewaltloser Einigung selbst geben.
Kein Bereich der Gesellschaft soll von der Gestaltung durch die Betroffenen ausgenommen bleiben.
Die Menschheit soll sich in einer Weltgesellschaft zusammenfügen, um die kriegerische Durchsetzung von Interessen unmöglich zu machen.
Die Befreiung des Menschen soll im Zusammenspiel von fortschreitender Demokratisierung und Erziehung zur Mündigkeit angestrebt werden.
Die Gesellschaft soll Minderheiten größtmögliche Freiheiten einräumen, die nur durch begründeten Schaden für die Mehrheit eingeschränkt werden dürfen.
Gegen Gewaltherrschaft und Bevormundung soll die Solidarität der Unterdrückten geweckt werden.
Für alle menschlich beeinflussbare Not ist die Verantwortlichkeit aller zu wecken.
Jede Einschränkung der freien Kommunikation durch Tabuisierung soll abgebaut werden.
Die vollständige Emanzipation der Frau und des Jugendlichen ist zu erreichen.
Jede Machtausübung soll der Kontrolle der Betroffenen unterworfen werden.
Das Prinzip demokratischer Konfliktlösung durch öffentliche Diskussion und gleichberechtigte Abstimmung ist im gesamtgesellschaftlichen wie im privaten Bereich anzuwenden.
Die privaten Umgangsformen sind zu überprüfen und in freie Konventionen umzuwandeln.
Jede autoritäre Bevormundung politischer, moralischer und weltanschaulicher Art ist zu bekämpfen.
Gegen die Erzeugung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern.
Gegen jede Form von Unmündigkeit des Einzelnen.
Für eine Erziehung, die nicht auf Dressur sondern auf
Einsicht beruht.
Wissenschaft
Das Prinzip logisch-empirischer Überprüfung ist auf jede Aussage über die Wirklichkeit anzuwenden.
Jede Form unwissenschaftlicher Ideologiebildung ist anzugreifen. Insbesondere jede Metaphysik.
Die Erforschung der tabuisierten Gebiete wie Sexualität, Perversionen, Verbrechen und andere ist voranzutreiben.
Nichts soll schlecht genannt werden, von dem keine schlechten Folgen feststehen.
Gesetze sollen den Menschen dienen.
Die Erforschung und Bekämpfung der Neurose als dem
entscheidenden Übel unserer Kultur …
(nicht fertig gestellt)
***
Mein Selbstverständnis 1971
Die Studentenbewegung von 1968 bestand nicht nicht nur aus marxistisch
orientierten Studenten sondern auch aus radikal-demokratisch und antiautoritär
Denkenden. Die folgenden Texte vermitteln einen unmittelbaren Eindruck von den
Zielen und Theorien dieses - oft vernachlässigten - Teils der 68er-Bewegung.
Ich schrieb 1971 in mein Notizbuch:
"Von meinem eigenen Bildungsgang her
habe ich seit den langwierigen und schmerzhaften Auseinandersetzungen mit
Christentum und evangelischer Theologie eine scharfe Ablehnung aller
dogmatischen und nicht überprüfbaren Theorien. Diese Haltung wurde durch die
Rezeption der logisch-empirischen Wissenschaftstheorie und der analytischen
Philosophie noch verstärkt und präzisiert. Jede autoritäre Inanspruchnahme der
Wahrheit, die nicht der Kritik durch die Subjekte - und damit auch durch mich -
ausgesetzt war, erregte meinen Widerstand.
Parallel
damit ging eine vertiefte Rezeption der Demokratietheorie einher. Jeder Versuch,
die Erkenntnis und den Willen der Subjekte im Namen einer "objektiven" Wahrheit
wissenschaftlicher oder ethisch-politischer Art zu unterdrücken, war in meinen
Augen zu
bekämpfen. In der Studentenbewegung stand ich deshalb an der Seite der radikalen
Hochschulreformer, also der Radikaldemokraten und Sozialisten. Aufgrund meiner
persönlichen Erfahrungen engagierte ich mich außerdem in den sexualpolitischen
Aktivitäten die Schüler und Studenten.
Aber schon während der Zeit der Studentenbewegung ergaben
sich theoretische Differenzen mit den linkshegelianisch beeinflussten Genossen.
Deren Argumentationsformen und erkenntnistheoretischen Ansätze forderten
meinen Widerspruch heraus, weil ich hier den Objektivismus und die
Immunisierungsstrategien sah, die die Rechtfertigung für autoritäre Manipulation
und Unterdrückung abgaben. Diese Auseinandersetzungen liefen für mich wohl
damals schon vor dem Hintergrund der DDR und ihrer Rechtfertigungstheorie ab.
(Die Auseinandersetzung mit der DDR war einer der Gründe für mich gewesen, zum
Studium nach Berlin zu gehen). Ich war von dorther sensibilisiert gegen jegliche geschichtsphilosophische Objektivierung, ich sah die fatalen Schlüsse, die aus
diesem Ansatz gezogen werden konnten.
Mit dem Auslaufen der
antiautoritären Bewegung trennten sich deshalb meine Wege von denen der Masse
der linken Studenten. Ich baute eine sexualpolitische Schülergruppe mit auf
(Sexuelle Unterdrückung - Neurose - neue Lebensform), während ein großer Teil
der Studenten mit der intensiven Marx-Lektüre in Form von
"Kapital"-Arbeitskreisen begann. Ich machte diese damals einsetzende Bewegung,
die ich als "Gang in die Orthodoxie" verstand, nicht mit, stand dieser
Entwicklung skeptisch und abwartend gegenüber, wobei ich das positive Moment
darin sah, dass damit eine ganze politische und philosophische Tradition, die im
Westdeutschland der Nachkriegsjahre unterdrückt und verschüttet war, nun durch
diese Bewegung wieder angeeignet wurde. Ich hielt diesen Durchbruch für einen
notwendigen Prozess.
Meine Hoffnung ging jedoch dahin, dass sich der
Diskussionsrahmen nach der Befriedigung dieses "Nachholbedarfs" wieder ausweiten
würde. Autoritäre Fixierungen auf Mao, Che oder leninistische Parteidogmen
vergrößerten jedoch immer stärker meine Distanz zu Teilen der sozialistischen
Studentenbewegung. Ich selber wurde dann bei der Sexpol-Arbeit immer wieder mit
historisch-materialistischen Argumenten konfrontiert und merkte, dass es ohne
eine klar formulierte Theorie nicht ging.
Mein Dilemma lag darin, dass
ich als logischer Empirist die analytische Unterscheidung von faktischen und
normativen Aussagen machte. Aber wie konnte ich dann politisch-normativ
argumentieren, wenn die Erfahrungswissenschaft hierfür nicht ausreichte?
Mein radikaler Demokratiebegriff reichte wohl für den praktischen Gebrauch,
aber als Grundlage einer Kapitalismuskritik oder für eine sozialistische
Strategie war er nicht zu gebrauchen. Mit irgendwelchen Wortzusammensetzungen
von "Demokratie" und "Sozialismus" kam ich auf die Dauer nicht weiter. Ich nahm
deshalb mein altes Projekt der "normativen Methodologie" wieder auf und
studierte parallel dazu normative ökonomische Theorien. Ich hoffte noch auf die
Weiterentwicklung des Diskussionsprozesses unter den Studenten und den
sozialistischen Theoretikern, wobei dann auch meine Fragestellungen wieder
thematisiert werden würden." (E.W. 1971)
***
Sexualität, Ethik und Demokratie
(1967)
Das folgende Referat habe ich am 08.07.1967 gehalten auf einem
Wochenendseminar des Allgemeinen Studenten-Ausschusses (AStA) der Freien
Universität Berlin zum Thema "Sexualität und Gesellschaft".
Meine Damen und Herren,
in diesem Referat soll der Versuch gemacht werden, das
Problem der Moral einmal etwas systematischer zu untersuchen. Vieles von dem,
was ich Ihnen vortragen werde, wird Ihnen schon bekannt sein, aber einen
Großteil der Überlegungen betrachte ich noch keineswegs als abgeschlossen,
weshalb die anschließende Diskussion wichtig sein wird.
1. Die Problemstellung
Es begegnen uns laufend Sätze wie: "Du sollst nicht ehebrechen", "Man darf bei
Rot nicht die Straße überqueren", "Die Löhne in der Textilindustrie sind zu
niedrig", "Selbstbefriedigung ist schlecht", "Man soll Älteren im Bus seinen
Platz anbieten" usw..
All diesen Sätzen, so verschieden sie auch klingen mögen, ist eines gemeinsam:
Sie enthalten keine einfache Feststellung von Tatsachen, sondern stellen eine
Forderung dar, eine Norm für das Verhalten oder eine Erwartung. Alle Sätze der
Moral und des Rechts haben diese Struktur, aber ebenso auch alle politischen
Forderungen. Das Problem ist nun, wie solche normativen Sätze als richtig oder
falsch beurteilt werden können. Welche Kriterien gibt es, um eine Handlung als
gut beurteilen zu können und sagen zu können: Sie soll sein?
2. Gescheiterte Begründungsversuche
a) Der wissenschaftliche Begründungsversuch
In den Sozialwissenschaften hat es einen jahrzehntelangen Streit darüber
gegeben, ob man solche normativen Sätze bzw. Werturteile
erfahrungswissenschaftlich überprüfen kann. Er ist in die
Wissenschaftsgeschichte als "Werturteilsstreit" eingegangen. Mit der Ausbildung
der modernen Wissenschaftslogik, die auf das Ziel intersubjektiver
Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Aussagen ausgerichtet ist, hat sich heute die
Ansicht durchgesetzt, dass man mit Hilfe der erfahrungswissenschaftlichen
Methode zwar feststellen kann, was ist, dass sie aber nicht ausreicht, um
feststellen zu können, was sein soll.
b) Der naturrechtliche Begründungsversuch
Die oben skizzierte logische Unterscheidung von Werten und Erkennen wird von
den verschiedenen naturrechtlichen Ansätzen nicht berücksichtigt. Ihr Vorgehen
kann man dahingehend beschreiben, dass sie die "Natur" oder das "Wesen" einer
Sache bestimmen und daraus Forderungen für das menschliche Handeln ableiten.
Es heißt zum Beispiel: "Der Sinn der Sexualität ist die Fortpflanzung. Deshalb
sind Empfängnisverhütung und Selbstbefriedigung unmoralisch."
Die Schwäche dieser naturrechtlichen Ansätze, wie sie von der katholischen
Moraltheologie und manchen Rechtsphilosophen vertreten werden, besteht darin,
dass sich diese "natürliche Bestimmung", dieser "Sinn" gar nicht erkennen lässt.
Wieso gehören die Lustempfindung, die gefühlsmäßige Befriedigung nicht zum "Wesen" der Sexualität? Es handelt sich hier gar nicht um die Erkenntnis dessen,
was ist, wenn das "Wesen" der Sexualität bestimmt wird, sondern schon um eine
verborgene Wertung. Insofern bleibt der Satz der modernen Erkenntnistheorie
gültig, dass man aus der Erkenntnis dessen was ist, nicht logisch folgern kann,
was sein soll.
Aus demselben Grunde müssen auch alle anthropologischen und
geschichtsphilosophischen Ableitungen normativer Sätze scheitern. Es heißt etwa:
"Der Mensch ist auf Freiheit angelegt. Deshalb sind die Forderungen nach
Demokratisierung berechtigt." Die gedankliche Verwirrung liegt hier in dem Wort
"angelegt". Es täuscht vor, dass eine Tendenz oder Möglichkeit der menschlichen
Entwicklung automatisch mit dem Guten und Wünschbaren zusammenfällt. Dies
Prinzip erweist sich als unbrauchbar, wenn man erkennt, dass im Menschen auch
Schädliches angelegt ist und unsere historische Entwicklung auch negative Trends
enthält.
Gelegentlich tauchen auch moralische Regeln auf wie: "Du sollst menschlich
handeln" oder "Man soll das Gute tun". Diese Sätze sehen aus wie ewige
moralische Gesetze, sind es vielleicht auch. Ihr Mangel ist nur, dass sie
überhaupt nichts Inhaltliches aussagen. Das Problem moralischer Entscheidung
fängt nämlich erst da an, wo man bestimmen soll, was denn "menschlich" und "gut"
ist. Bis dahin sind sie bloße Leerformeln, normative Tautologien nach Art des
Satzes "Man soll nichts übertreiben."
Ich fasse das bisher Gesagte zusammen:
Werte lassen sich nicht in der Weise überprüfbar erkennen wie Tatbestände. Es
lässt sich wissenschaftlich nur bestimmen, was ist, aber nicht, was sein soll.
Aus der Feststellung dessen, was ist, kann ich logisch nicht folgern, was sein
soll. Selbst wenn sich der Lauf der Geschichte vorhersagen ließe, wäre er damit
noch nicht automatisch wünschenswert und gut. Normative Leerformeln verschieben
das Problem nur.
3. Die dogmatischen Auffassungen der Ethik
Neben diesen als gescheitert anzusehenden Begründungsversuchen moralischer und
politischer Normen gibt es eine Reihe weit verbreiteter Auffassungen, die sich
gar nicht überprüfbar begründen wollen, und die deshalb ihrem eigenen Anspruch
nach auch nicht kritisierbar oder bezweifelbar sind. Ich will sie die "dogmatischen Auffassungen" nennen. Sie gehen von einem absoluten Sittengesetz
aus, das entweder in religiösen Lehren oder aber auch im sittlichen Empfinden
enthalten ist.
Solche dogmatischen Auffassungen von Moral und Recht bestimmen noch weitgehend
unser Zusammenleben und die Gesellschaft, und es bleibt nur zu hoffen, dass der
Prozess der moralisch-politischen Entdogmatisierung unter weniger
Schwierigkeiten sich vollziehen kann als es einst der Prozess der
wissenschaftlichen Entdogmatisierung konnte. Die dogmatischen Moralsysteme
enthalten nämlich folgende Gefahren:
1. Sie stellen einander widersprechende Auffassungen dar, für die es keine
Möglichkeit der Einigung gibt. Daraus folgt, dass das notwendige Zusammenleben
der Menschen erschwert wird.
2. Mögliche Irrtümer in diesen dogmatischen Auffassungen sind nicht
kritisierbar, was zu schwerem Schaden führen kann.
3. Das Individuum, das solchen einander widersprechenden und falschen
Moralsystemen ausgesetzt ist, bezahlt diesen Ballast an Verboten mit
ungerechtfertigten Schuldgefühlen und Neurotisierungen.
4. Ein neuer Ansatz als Konsequenz aus der Situation
Die philosophische Situation auf dem Gebiet der Ethik lässt sich nach dem bisher
Gesagten dahingehend umreißen, dass das "Gute" sich nicht unabhängig von
menschlichen Entscheidungen bestimmen lässt. Muss man daraus nun die
Konsequenzen eines willkürlichen Subjektivismus ziehen, muss man sich damit
begnügen, "dass nun einmal alle Wertungen subjektiv sind"?
Eine solche Resignation scheint mir den sozialen Notwendigkeiten zu
widersprechen, denn wir müssen dauernd auf allgemeinverbindliche Normen
zurückgreifen, wir brauchen zum Beispiel ein Strafgesetz, wir beurteilen das
Verhalten der Menschen und unser eigenes an Hand von allgemeinen Maßstäben, wir
erziehen unsere Kinder moralisch usw..
Wer aus einer verständlichen Verbitterung über die traditionelle Tabumoral und
ihre repressive und ideologische Funktion nun überhaupt darauf verzichten will,
so etwas wie einen moralischen Maßstab zu errichten, der übersieht, dass wir vom
Verhalten anderer Menschen unausweichlich betroffen sind und folglich an einer
allgemeinverbindlichen Regelung des Umgangs miteinander, d. h. an einer Moral,
interessiert sind.
Es scheint deshalb notwendig, einen anderen Begründungsversuch ethischer Normen
zu unternehmen, wobei das Ziel sein soll, eine Moral zu finden, auf die sich
alle Menschen ohne Gewalt oder Bevormundung in vernünftiger Weise einigen
können.
5. Das Argument mit dem Schaden einer Handlung
Um die zu entwickelnden Prinzipien anschaulicher werden zu lassen, will ich sie
an Hand eines konkreten Beispiels erörtern. Es gibt etwa die traditionelle
Anschauung: "Vorehelicher Geschlechtsverkehr ist etwas Schlechtes. Jugendliche
sollen nicht miteinander schlafen."
Die Frage ist nun: Wie ist es möglich, für oder gegen eine solche Anschauung zu
argumentieren, so dass die Argumente für jedermann prinzipiell einsehbar sind?
Eine Argumentation, die für jedermann anerkennbar wäre, bestünde in dem
Nachweis, dass sich aus der umstrittenen Handlung ein Schaden ergibt. Aber wie
kann man feststellen, ob eine Handlung schädlich ist? Konkrete Antworten wären
etwa: "Vorehelicher Verkehr birgt das Risiko einer unerwünschten Schwangerschaft
in sich, vermindert die Fähigkeit zur späteren ehelichen Treue, führt zu
Schuldgefühlen und Unglück usw."
Was ist all diesen Antworten gemeinsam, was bedeutet der Begriff "Schaden" ? Man
kann feststellen, dass jedesmal Folgen des umstrittenen Verhaltens genannt
werden und dass diese dann mehr oder weniger ausdrücklich als schlecht bewertet
werden. Gegen ein solches Argument kann man immer den Zweifel vorbringen, ob die
Handlung tatsächlich zu diesen Folgen führt. Es wäre also jeweils ein
wissenschaftlicher Nachweis nötig, wenn das Argument auch andere überzeugen
soll. Denn jemand könnte auch ganz andere Aussagen über die Folgen vorehelichen
Verkehrs machen, er könnte etwa sagen: "Vorehelicher Geschlechtsverkehr fördert
eine angemessene Partnerwahl, ist eine Einübung in die Ehe, fördert die
Entwicklung der Persönlichkeit usw.."
Um über die Schädlichkeit einer Handlung entscheiden zu können, muss also durch
überprüfbare medizinische, psychologische und soziologische Forschung, durch
Experimente oder durch die Analyse statistischer Daten die Frage nach den Folgen
geklärt werden. Eine selbstverständliche Forderung, gegen die aber dennoch
laufend verstoßen wird.
Eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung könnte auch herausfinden, dass
das Verbot viel zu allgemein war, dass in Wirklichkeit ein anderer Faktor die
zusätzliche Bedingung für die Folge war: dass etwa vorehelicher Verkehr nur
unter der Bedingung zu Schuldgefühlen und Unglück führt, dass er mit der tief
gehenden Drohung der Sünde belastet wird. Man könnte u. U. herausfinden, dass
bei als "böse" tabuisierten Handlungen der Mechanismus einer "self-fulfilling
prophecy" - einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung - eine Rolle spielt, dass
nämlich die Sexualität nur dadurch in abstoßenden und kriminellen Formen
vorkommt, weil sie als sündhaft, verwerflich oder gemein diffamiert wurde.
Aber es geht mir hier nicht um die Richtigkeit oder Falschheit einiger
Behauptungen über die Folgen vorehelichen Verkehrs, sondern um die Prinzipien
einer für jedermann anerkennbaren Argumentation. Wir halten also fest, dass man
bei der Argumentation für oder gegen eine moralische Norm von einer
überprüfbaren Erkenntnis über die Folgen der betreffenden Handlung ausgehen
muss, d.h dass die wissenschaftliche Erkenntnis der Realität die Bedingung einer
moralischen Gesinnung ist.
Wir hatten gesagt, dass das Argument der Schädlichkeit einer Handlung aus einem
Nachweis der Folgen und aus deren Beurteilung als schlecht bestehen muss. Aber
wie kann ich feststellen, ob die Folge schlecht ist?
Wir hatten den Begriff des Schadens ja gerade eingeführt, um zu bestimmen, was
schlecht ist. Trotzdem haben wir uns nicht nur im Kreis gedreht, denn zu
beurteilen, ob vorehelicher Verkehr schlecht ist, ist sehr viel leichter, wenn
man über die Folgen Bescheid weiß, denn die Folgen sind leichter zu beurteilen.
Über sie lässt sich auch leichter eine einheitliche Bewertung abgeben.
6. Das Wohl der Betroffenen als Gesichtspunkt
Im allgemeinen wird eine Einigung über die Folgen einer Handlung ausreichen,
um auch über ihre moralische Beurteilung zu einem einheitlichen Urteil zu
kommen, aber zum Beispiel bei Fragen der politischen Ordnung reicht ein solches
Argument noch nicht aus. Wir müssen das Problem also theoretisch noch weiter
klären und uns fragen: Warum ist eine Sache schlecht? Allgemein anerkennbar wäre
das Argument, dass sie gegen das Wohl der Betroffenen ist.
Wichtig dabei ist, dass man das Wohl aller davon Betroffenen berücksichtigt.
Denn wenn dabei das Wohl eines Einzelnen nicht mit in Erwägung gezogen worden
ist, kann man schwerlich von ihm verlangen, dass er der Bewertung zustimmt. Das
Wohl aller Betroffenen wäre identisch mit dem Allgemeinwohl, denn wer von einer
Handlung oder Maßnahme überhaupt nicht betroffen ist, ist gegenüber ihrer
Bewertung gleichgültig. Wie ließe sich aber nun dies Allgemeinwohl bestimmen?
Wir können erst einmal feststellen, dass das Wohl jedes Menschen in gleicher
Weise berücksichtigt werden müsste, denn ein Unterprivilegierter könnte der
Ordnung schwerlich in der Weise zustimmen, wie wir es anfänglich gefordert
haben, nämlich in vernünftiger Einsicht, ohne Gewalt und Bevormundung. Daraus
ergibt sich, dass bei Berücksichtigung aller Folgen aus allen möglichen
Entscheidungen diejenige zu wählen ist, die dem Wohl der meisten Menschen dient.
Hier taucht jedoch noch ein Problem auf, denn was machen wir, wenn eine Sache
dem einen zwar etwas hilft, bei dem andern jedoch ein lebenswichtiges Interesse
verletzt?
Man könnte vorweg sagen, dass - wenn gleichviel Individuen betroffen sind - man
sich für die mit dem stärkeren Bedürfnis entscheiden sollte. Für eine genauere
Entscheidung brauchte man jedoch eine Rangfolge der Werte etwa nach Art der
juristischen Güterabwägung.
Die Problematik einer solchen Konsensbildung soll hier nicht weiter erörtert
werden. Stattdessen will ich mich dem komplizierten Problem zuwenden, wie sich
das Wohl eines einzelnen Menschen bestimmen lässt, denn aus der Summe aller
einzelnen soll sich ja das Allgemeinwohl zusammensetzen. Wie kann man
entscheiden, ob eine Sache für ein Individuum gut ist?
Wir wenden wieder ein rationales Entscheidungsmodell an. Wir fragen nach den
Folgen einer Sache und ob diese mit den Zielen des Individuums im Einklang sind.
Diese Ziele nun sind nicht unabhängig von den Entscheidungen des Individuums
bestimmbar. Ich kann diese Ziele zwar in Frage stellen, ich kann ihm Bedürfnisse
nachweisen, die ihm unbewusst waren, ich kann ihm Widersprüche in seinen Zielen
nachweisen, ich kann ihm Bedürfnisse als scheinhaft und nicht wirklich seine
eigenen nachweisen, aber letztlich entscheidet doch seine eigenes Urteil. Selbst
einem Menschen, der entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen, kann ich
letztlich nicht beweisen, dass es für ihn besser ist, weiterzuleben. Nur bei
Individuen, denen die nötige Vernunft fehlt, etwa bei kleinen Kindern, wäre es
gerechtfertigt, sie nicht über ihr eigenes Wohl entscheiden zu lassen.
Prinzipiell soll jedoch gelten, dass die freie und rational geklärte Einsicht
der Individuen bestimmen soll, was für sie gut ist, und dass ein gewaltloser und
rational geklärter Konsens bestimmt, was für die Allgemeinheit gut ist, das
heißt, was moralisch gut und politisch gerecht ist.
7. Die undogmatische Moral und das Zusammenleben der Menschen
Ich hoffe, dass dieser Begründungsversuch moralischer Normen für Sie nicht zu
anstrengend und abstrakt war. Er erweist sich in seinen Konsequenzen jedoch als
recht fruchtbar. Er bedeutet nämlich, dass alle Moralgesetze, Verhaltensregeln,
Forderungen und politische Programme ihre Berechtigung allein aus dem aufgeklärten Willen der Individuen ableiten können. Keine Regelung, der man uns
unterwerfen will, ist gerechtfertigt, wenn unser Wille dabei nicht
berücksichtigt ist.
Die unzähligen Konventionen, die uns umgeben und unser Verhalten bestimmen, sind
in der Mehrzahl gar keine Konventionen, denn wir haben an diesen freien
Übereinkünften nie mitgewirkt. Alles, was sich den Anschein des
Allgemeingültigen gibt, kann seine Gültigkeit nur aus dem Willen der
Betroffenen, zu denen auch ich gehöre, gewinnen. Keine Forderung oder Anordnung
braucht hingenommen zu werden als berechtigt, wer immer sie auch vertritt, alle
Ordnungen und Anordnungen können zur Diskussion gestellt werden. "Ich soll?"
Wessen Wille ist es, dass ich soll? In wessen Interesse ist es, dass ich soll?
Nun ist es allerdings gerade bei den sexuellen Normen und Konventionen
schwierig, sie zur Diskussion und zur vernünftigen Einigung zu stellen, für das
Kind gegenüber seinen Eltern, für den Einzelnen gegenüber dem andern und
vielleicht auch gegenüber dem Partner. Denn immer noch findet im sexuellen
Bereich eine infantile Einschüchterung statt, werden den Jugendlichen
Informationen darüber vorenthalten, wird es mit dem Schleier des Privaten
umgeben. Es findet immer noch eine raffinierte Tabuisierung statt, die den
Verboten gerade in ihrer Unartikuliertheit die Macht bewahrt.
Aber das Prinzip, dass die Normen des Umgangs miteinander dem gemeinsamen Willen
der souveränen Individuen entsprechen sollen, dass sie sozial und real
ausgerichtet sollen und jederzeit verändert werden können, wenn es wünschenswert
ist, dies Prinzip hat auch für die Sexualität Gültigkeit. Es gibt überhaupt
keine eigenen Prinzipien der Sexualmoral, sondern hier wie anderswo sind die
Grundsätze dessen gültig, was wir uns nach unserer eigenen Einsicht nicht antun
wollen, uns nicht belügen, nicht weh tun, nicht Gewalt antun und nicht
ausnutzen. Machen wir Ernst mit der Freiheit und der Vernunft.
8. Die radikale Demokratie und der Zustand unserer Gesellschaft
Was ich hier dargelegt habe, ist die Grundidee einer demokratischen Gesellschaft
nach dem Prinzip der gewaltlosen Einigung auf der Grundlage von
Gleichberechtigung und Vernunft. Nur dass ich dies Prinzip radikaler gefasst
habe und von der politisch-rechtlichen Sphäre auf die privat-moralische
übertragen habe, mit dem Ziel, unsere Sittengesetze und besonders die
tabuisierte Sexualmoral aus ihrer traditionsgebundenen und dogmatischen
Fixierung zu lösen. Die parlamentarische Demokratie ist ein Ansatz, der dem hier
dargelegten Prinzip in vielem schon entspricht:
Um die politischen Alternativen und deren Konsequenzen möglichst irrtumsfrei
erkennen zu können, gibt es eine öffentliche Diskussion, die durch die
Grundrechte der Informationsfreiheit, der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit,
der Koalitionsfreiheit und durch die Legalisierung einer Opposition
gewährleistet werden soll.
Um die Entscheidungen der Politik im Sinne und nach den Bedürfnissen der
Betroffenen fällen zu können, gibt es gleiche, freie und geheime Wahlen von
repräsentativen Vertretern, die die gesetzgebende Körperschaft des Parlaments
bilden.
Um sich über die Folgen eines Gesetzes und die vorhandenen Ziele möglichst klar
zu werden, sind mehrere Lesungen und Diskussionen für die Gesetze vorgesehen,
und bei wichtigen Gesetzen wie Verfassungsänderungen sind zusätzlich
qualifizierte Mehrheiten erforderlich.
Aber die Prinzipien radikaler Demokratie, die als einzige Legitimation jeder
normativen Ordnung den aufgeklärten Willen der Betroffenen gelten lassen, geben
auch den Maßstab scharfer Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Denn das
Prinzip der demokratischen Wahl steht und fällt mit der Informiertheit der
Bürger über die möglichen politischen Wege, mit ihrer Kenntnis der realen
politischen Zusammenhänge und ihrer Aufgeklärtheit über die eigenen Bedürfnisse.
Und in dieser Hinsicht ist es in unserer Gesellschaft schlecht bestellt:
Man braucht nur unsere Bildungseinrichtungen zu betrachten. Dauer und Inhalt
unserer Schulbildung sind im Durchschnitt völlig unzureichend, um die Fähigkeit
zu vernünftiger Mündigkeit zu vermitteln.
Der gewaltige Apparat der Reklame täuscht den Einzelnen über seine Bedürfnisse
und nutzt diese aus, um ihm mit Profit Dinge zu verkaufen, die er gar nicht
braucht.
Hilflos ist der Einzelne angeblichen "Wirtschaftsgesetzen" ausgeliefert, die in
Wirklichkeit auf einer Rechts- und Eigentumsordnung beruhen.
Die Institutionen der Erziehung sind erfolglos in der Vermittlung der Werte des
gesellschaftlichen Fortschritts und der individuellen Bildung mit dem Ziel
größerer menschlicher Freiheit.
Stattdessen werden Verhaltensweisen wie Konkurrenz, Aggression, Dogmatismus und
Konformismus ausgebildet, die mit einem reduzierten Interessenhorizont
zusammengehen, was Politik, Weltanschauung und Kultur betrifft.
Die Tabuisierung politischer, weltanschaulicher und sexueller Themen bedroht
kritisches Denken mit Angst und behindert die Kommunikation darüber, so dass die
Individuen ihre Interessenübereinstimmung überhaupt nicht feststellen können.
Die Massenpresse verkauft sich mit der Spekulation auf asoziale und verflachte
Antriebe ihrer Leser, die sie ausnutzt und noch verstärkt. Die Massenmedien und
die übrige Presse stellen zum Großteil eine Pseudoöffentlichkeit des unfreien
Konformismus dar, beeinflusst durch die wirtschaftlich Mächtigen. Anstatt die
Schwächen und Schattenseiten unserer Gesellschaft zu kritisieren, helfen sie
noch mit, sie zu vertuschen oder zu rechtfertigen. In weiten Bereichen unserer
Gesellschaft sind die Betroffenen entmündigt, können sie ihre Lebensbedingungen
nicht selbst bestimmen, sei es im Betrieb, in der Universität, der Schule oder
der Armee. Und selbst die Struktur unserer Parteien und Gewerkschaften lässt an
Demokratie zu wünschen übrig.
Die unfreie Gesellschaft und der unfreie Mensch bedingen und stützen sich
gegenseitig. Eine Rechtsprechung, für die jeder Geschlechtsverkehr außerhalb der
Ehe "Unzucht" ist, und ein Individuum, das vor Scham und Angst seine sexuellen
Probleme nicht mitteilen und seine Wünsche nicht verwirklichen kann, sind nur
die zwei Seiten einer Medaille.
Solange wir moralische und politische Ordnungen als selbstverständlich hinnehmen
und dogmatisch vertreten, solange wir nicht immer nach ihrer Berechtigung als
Ausdruck eines demokratischen Willens fragen, solange wird diese Gesellschaft
nicht erträglichere Lebensbedingungen hervorbringen.
Nachwort nach 40 Jahren
Im Prinzip stehe ich auch heute noch zu den damals von mir vertretenen Thesen,
allerdings sehe ich heute die offenen Fragen an diese "radikaldemokratische"
Position deutlicher. So wird das Mehrheitsprinzip und dessen Verhältnis zum
aufgeklärten Konsens gar nicht thematisiert. Das Verhältnis von
Entscheidungsverfahren - wie z. B. Abstimmungen - zu inhaltlichen Diskussionen
bleibt ebenfalls ungeklärt.
Der folgende Text war Teil einer Artikelserie in der Zeitschrift "blickpunkt"
des Landesjugendrings Berlin. Er erschien im Februar 1969
.
Kampf dem Sexualtabu
(1969)
In den vergangenen
Jahren hat bei uns so etwas wie eine Jugendrevolte begonnen. Was war das
Wesentliche an dieser Revolte? Zum einen: die neue Begründung der
Gesellschaftskritik. Die vorgegebenen Ordnungen in Schule, Universität, Betrieb
oder Kirche wurden danach befragt, ob sie nach dem Willen und den Bedürfnissen
der in ihnen Lebenden und Arbeitenden waren. Alle anderen Rechtfertigungen als
diese radikal demokratischen wurden nicht anerkannt. Alles was sich nur durch
Tradition, Autorität, Gewohnheit oder pure Gewalt erhielt, verfiel dieser
Kritik. Die Interessen der gesellschaftlichen Organisationen, der Staaten,
Parteien, Kirchen usw. galten nichts, wenn sie sich nicht ausweisen konnten als
die Bedürfnisse und Interessen der Menschen. Es breitete sich der Wille aus,
eine Welt nach den eigenen Bedürfnissen zu schaffen, sich nicht mehr von den alt
und resigniert Gewordenen einschüchtern und bevormunden zu lassen.
Das zweite, was diese Revolte auszeichnete, war die Entschlossenheit, diese
Kritik auch in Handeln umzusetzen, nicht zu warten auf die offiziellen
Vertreter, nicht zu hoffen auf die Verantwortlichen. Man gab sich nicht mit der
klugen Kritik zufrieden, man wollte diese auch praktisch verwirklichen. Man
diskutierte nicht nur, sondern fing an, die eigenen Bedürfnisse zu organisieren
und für sie zu kämpfen. Man ahnte, dass die bürokratischen Apparate der
Gesellschaft, in denen die Individuen vereinzelt und hilflos waren, durch einen
kollektiven Kampf umgewandelt werden konnten, so dass der einzelne darin nicht
nur ein Rädchen war, über dessen Arbeitskraft andere verfügten.
Manch einer wird sich im Augenblick wohl fragen, was solch eine politische
Einleitung soll bei einem Thema wie "Sexualität" : das sei doch etwas Kulturelles
und ginge als moralische Frage nur jedes Individuum privat an. Sexualmoral sei
doch keine Frage des politischen Kampfes, sondern etwas Gewachsenes und falle in
die Zuständigkeit der Pfarrer oder Ärzte.
Wer so denkt, übersieht, dass die sexuelle Frage ja tatsächlich ein wichtiger
Punkt der Studenten- und Schülerrevolte war — und noch ist. Nicht zufällig nahm
die Mai-Revolte in Frankreich Ihren Ausgang vom Konflikt um die Hausordnung
eines Studentenwohnheims. Außerdem übersieht er, dass sich der Begriff von "Politik" als der bewussten Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr wie zu Zeiten
unserer Eltern vor allem auf nationale Größe, militärische Stärke und
Wirtschaftskraft konzentriert, sondern dass in zunehmendem Maße solche "kulturellen" und
"privaten" Bereiche wie Erziehung, Familienstruktur,
Wissenschaft, Kunst usw. als "politisch" begriffen werden und als geprägt durch
vorherrschende Interessen.
Doch zurück zu den beiden oben ausgeführten Prinzipien der Revolte. Sie waren:
1. Kritik an den gesellschaftlichen Ordnungen von den Bedürfnissen der
Individuen her und
2. Umsetzung dieser Kritik in eine gesellschaftliche Praxis durch die
Betroffenen selber.
Diese beiden Grundsätze machen auch die theoretische Grundlage für den Kampf
gegen die überkommene Sexualmoral aus. Wenn in dieser Artikelserie die Rolle der
Sexualität in unserer Gesellschaft diskutiert wird, so stehen dabei immer zwei
Fragen im Hintergrund:
1. Wo wird den Individuen durch die moralischen Ordnungen, in denen sie leben,
Gewalt angetan? und
2. Wie können sie sich gegen ihre sexuelle Unterdrückung zur Wehr setzen?
Dieser Aufsatz soll als zentrales Thema den Tabu-Charakter der Sexualität haben.
Es soll darin deutlich gemacht werden, mit welchen Methoden die Gesellschaft das
Sexualtabu erzeugt und aufrechterhält, welche Konsequenzen das für die Freiheit
und Mündigkeit der Individuen hat und wie die ersten Schritte im Kampf gegen das
Sexualtabu aussehen können.
Was ist mit "Tabu" gemeint?
Das besondere an den sexuellen Verbotsnormen ist ihre tiefe gefühlsmäßige Verankerung, ihr Tabu-Charakter. Anders als etwa das Verbot, bei Rot die Straße zu überqueren, sind die sexuellen Verbote vom Individuum meist tief "verinnerlicht", sie gehören gewissermaßen zu seinem Charakter. Das Wort "Tabu" deutet die gleichsam religiöse Scheu an, mit der die Sexualität belastet ist. "Tabu", das hieß in den sogenannten primitiven Kulturen: das Verbot, etwas Bestimmtes zu berühren, zu sehen, davon zu sprechen oder auch nur daran zu denken. War es trotzdem einmal unumgänglich, so konnte man dies nur unter größten Vorsichtsmaßregeln und strengsten Ritualien tun. Tabu-Verletzungen rufen heftige Ängste hervor, selbst wenn gar keine reale Bestrafung zu erwarten ist. Ein Tabu wird deshalb auch nicht auf Grund von rationalen Überlegungen befolgt, sondern wird vom Einzelnen als ein "über ihm stehendes Prinzip" empfunden.
Das sexuelle Tabu in der Erziehung
In unserer Gesellschaft
ist der strenge Tabu-Charakter des Sexuellen an vielen Stellen durchbrochen. Ein
Beispiel dafür ist die geschäftliche Ausnutzung sexueller Reize in der Werbung
und in der Freizeitindustrie (wobei dies allerdings kein Hinweis auf eine
größere sexuelle Befriedigung der Menschen sein muss). Im Zusammenhang mit dem
allgemeinen Schwinden kirchlichen Einflusses ist auch die Erzeugung religiöser
Ängste als Mittel zur sexuellen Unterdrückung im Rückgang begriffen. Trotzdem
erscheint es weiterhin berechtigt, von einer Tabuisierung der Sexualität in
unserer Gesellschaft zu sprechen, wenn sie auch weitgehend in die
Kindererziehung verlagert ist.
Die Sexualtabus sind bei uns nach dem Lebensalter abgestuft; je jünger man ist,
desto schärfer ist das Tabu, desto weniger erfährt man über Sexuelles, und desto
strenger wird man von allen sexuellen Dingen ferngehalten. Jeder kennt diesen
Tatbestand aus seiner eigenen Erziehung: Bestimmte Gespräche der Erwachsenen
wurden abgebrochen, wenn man als Kind dazu kam; bestimmte Bücher der Eltern
waren den Kindern verboten oder verborgen; auf bestimmte Fragen entstand
Peinlichkeit; bestimmte Worte erregten den Unwillen der Eltern und Lehrer; die
sexuelle Beziehung der Eltern wurde vor den Kindern möglichst verborgen;
sexuelle Aktivitäten der Kinder, wie das Interesse für die körperlichen
Besonderheiten des anderen Geschlechts oder das Spielen an den eigenen
Geschlechtsteilen, wurde meist streng bestraft usw. So existiert in unserer
Gesellschaft ein recht kompliziertes System abgestufter sexueller Tabuisierung.
Für jede Altersstufe gibt es ein bestimmtes Maß für die jeweils zugelassenen
Informationen. Wenn z. B. ein Kind schon mit sieben Jahren über das
Sexualverhalten des Menschen gut Bescheid weiß, so gilt es bei den Erziehern
meist als "verdorben", und anderen Kindern wird von ihren Eltern vielleicht gar
der Umgang mit diesem Kind verboten. Damit die Erzieher ihr Monopol in der
Information beibehalten — und damit auch ihre Autorität als Erwachsene, als
Ältere und Erfahrene —, wird auch den Kindern selbst wieder beigebracht, dass
sie Jüngeren über sexuelle Dinge nichts erzählen dürfen. Dies wird ihnen meist
dadurch schmackhaft gemacht, dass sie dadurch Ja zu dem Kreis der "Eingeweihten"
gehören, dass sie sich stolz und erhaben vorkommen können über die unwissenden
Jüngeren.
Durch all diese Praktiken des Bestrafens, Verschweigens, Verbietens und
Verbergens, die schon mit dem Säuglingsalter beginnen, lernt das Individuum
seine sexuellen Impulse als etwas Bedrohliches anzusehen. Es reagiert ganz
automatisch mit Scham und Abscheu darauf. Die Tabuisierung der Sexualität kommt
ihm selber als etwas "Natürliches" vor, denn es hat so empfunden, solange es
sich zurückerinnern kann. (Erzieher sprechen gern vom "natürlichen Schamgefühl",
obwohl ihnen bekannt sein sollte, dass diese Scham sich in verschiedenen
Gesellschaften auf ganz verschiedene Dinge bezieht, also anerzogen ist.) Dieser
psychologische Mechanismus stellt ein großes Hindernis in der Selbstbefreiung
der Menschen dar: Das Individuum macht die Anschauung über Gut und Böse, die ihm
von seiner Umwelt mit allen Mitteln aufgezwungen wurde, auf unbewusstem Wege zu
seiner eigenen und ist dann meist nicht mehr in der Lage, sie noch einmal
kritisch zu überprüfen. Wenn jemand durch die Mühle unserer sexualfeindlichen
Erziehung gegangen ist, so kann er auch später, wenn er nicht mehr unter der
direkten Gewalt der Erziehung steht, nur schwer einen anderen Weg gehen. Nur zu
häufig überträgt er auf seine eigenen Kinder unbesehen die Muster, die ihn
selbst geprägt haben.
Kontaktschwierigkeiten
Von der infantilen Einschüchterung her und ihrer lebenslangen Wirkung wird verständlich, dass sich die Tabuisierungen der Sexualität auch im späteren Alter fortsetzen. Die Normen dieser Gesellschaft stellen eine scharfe Reglementierung dar, die es dem einzelnen schwer machen, seine Gefühle, seine Zuneigungen, seine Wünsche nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit zu äußern und zu realisieren. Die Kontakte zwischen den Geschlechtern werden systematisch beschränkt. Zwar beginnt die Geschlechtertrennung in Schulen, Jugendgruppen usw. allmählich zu verschwinden, aber von einem freien Zusammenleben der Geschlechter kann immer noch nicht die Rede sein. "Es gehört sich nicht", jemanden auf der Straße anzusprechen oder sich ansprechen zu lassen. Für alle Möglichkeiten gibt es einen Kanon des Anstandes: wann man eine Reise gemeinsam machen darf, wann man jemand mit in die eigene Wohnung nehmen darf, wie weit man in einem Flirt gehen darf, wie direkt man seine Wünsche äußern darf usw. Natürlich sind diese Vorschriften nicht in allen Schichten und Gruppen gleichartig und gleichstark, aber die herrschende und offizielle Moral ist durch eine strenge Reglementierung gekennzeichnet. Ein Symptom dafür sind die vielen Zeitungsanzeigen unter der Rubrik "Bekanntschaften, Heiratswünsche". Jeder weiß wahrscheinlich am besten selber, wie viel Mut und Selbstüberwindung es oft kostet, sich dem anderen Geschlecht zu nähern — und wie oft man es nicht fertig bringt. Die Reglementierung der sexuellen Kontakte durch die Gesellschaft ist also ein wichtiges Instrument der sexuellen Unterdrückung.
Verständigungsschwierigkeiten
Die Tabuisierung der Sexualität schlägt sich auch in der Sprache nieder. "Man spricht nicht darüber", und die sprachlichen Möglichkeiten, um sich auszudrücken, sind folglich ebenfalls mangelhaft. So existieren etwa für die Geschlechtsteile vor allem negativ gefärbte und herabsetzende Worte. Oder man hat nur neutrale wissenschaftliche Begriffe zur Verfügung wie 'Vagina' oder 'Hoden', die von jedem Gefühlsausdruck entleert sind. Das gleiche gilt für die Begriffe, die den Geschlechtsverkehr beschreiben. Wenn hier die gängigsten genannt würden, so geriete (diese Zeitschrift) der "blickpunkt" höchstwahrscheinlich auf die Liste der "jugendgefährdenden Schriften", und wir hätten ein praktisches Beispiel für die gesellschaftliche Zensur. Diese verhältnismäßige Armut der uns verfügbaren Sprache, wenn es gilt, Sexuelles positiv und genau mitzuteilen, spiegelt die fortdauernde Unterdrückung wider und dient ihr zugleich.
Die Verwirrung des Denkens
Man muss sich wundern,
dass die sexuellen Bedürfnisse der Individuen von der offiziellen Moral und
ihren professionellen Wortführern so lange missachtet werden konnte, ohne dass
sich ein nennenswerter Widerstand dagegen erhob. Verständlich wird dies erst,
wenn man auch die anderen Methoden zur sexuellen Unterdrückung mit in Betracht
zieht. Neben der gesetzlichen Verfolgung spielt vor allem die systematische
Verwirrung des Denkens eine Rolle, die Ideologiebildung. Hierbei gibt es
verschiedene Spielarten, um das Sexual-Tabu gegen Kritik abzusichern. (In einem
späteren Artikel soll noch einmal ausführlich auf dieses Thema eingegangen
werden, deshalb genügen hier einige Hinweise.)
Es lassen sich verschiedene Hauptformen ideologischer Unterdrückung der
Sexualität unterscheiden:
• Das Sexuelle wird als solches schlechtgemacht. Man spricht davon als der "Sünde", betrachtet das Körperliche als "tierisch" und "niedrig". Die sexuelle Lust ist nur eine unumgängliche Begleiterscheinung bei der Fortpflanzung und hat allein dieser zu dienen.
• Das Sexuelle wird mystifiziert als das "große Geheimnis der Liebe", als etwas "Heiliges", als das "Wunder der Liebe". Rationales Denken oder gar Wissenschaft sei hier unangebracht.
• Das Sexuelle wird heruntergespielt in seiner Bedeutung, es sei für den Menschen gar nicht so wichtig, es werde heute nur soviel Wind darum gemacht usw.
Sicherlich gibt es noch andere Formen der Ideologie, um die Individuen von ihrem Anspruch auf Freiheit der Gefühle und sexuelle Befriedigung abzubringen. Die Verbreitung solcher Ideologien ist für den Bestand einer Ordnung immer außerordentlich wichtig, denn wenn man das Denken der Menschen manipuliert, kommen sie gar nicht erst auf den Gedanken, gegen diese Ordnung zu rebellieren — und man spart Polizei.
Privatheit — Freiheit oder Elend?
Eine spezielle Form von
Ideologie soll wegen ihrer Wichtigkeit hier noch einmal gesondert behandelt
werden. Ich meine die Auffassung, dass die sexuellen Beziehungen nicht in die
Öffentlichkeit gehören, dass sie intim bleiben müssen. Dem entspricht der
Moralkodex unserer Gesellschaft, der das Tabu um so strenger durchsetzt, je mehr
sich das Individuum in der Öffentlichkeit bewegt. So kann es einem passieren,
dass man ein Lokal verlassen muss, weil man durch Küssen Anstoß erregt hat,
während das gleiche Verhalten im privaten Kreis als völlig normal angesehen
wird. Dahinter steht die Auffassung von der Intimität erotischer Beziehungen.
Die Tendenz dieser Anschauung ist, das Austauschen von Zärtlichkeiten möglichst
auf Situationen zu beschränken, wo die Liebenden allein sind. "Das geht doch
niemanden etwas an", heißt es wie selbstverständlich. Man findet es "geschmacklos" oder
"schamlos", in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten
auszutauschen. Diese Beschränkung der Sexualität auf den verborgenen
Intimbereich — tendenziell auf das eheliche Schlafzimmer — hat auf den ersten
Blick einiges für sich, aber nur, weil eben in unserer sexualfeindlichen Ordnung
die Öffentlichkeit eine Bedrohung und Gefährdung für die Beziehungen darstellen
würde. Man wird ja tatsächlich gestört, allerdings gerade durch die
selbsternannten Tugendwächter, die ihre sexuelle Verkorkstheit im Neid auf
andere, vor allem auf "noch zu erziehende" Jugendliche, austoben. In
Wirklichkeit steht hinter der Verbannung in die Intimsphäre die Absicht, die
sexuellen Antriebe der Individuen — und hier wieder besonders der Jugendlichen —
unter Kontrolle zu bekommen, indem man sie in der Öffentlichkeit nicht zulässt.
(Die Jugendlichen haben eben im allgemeinen kein ungestörtes Schlafzimmer.)
Dass die private Intimsphäre nur eine Scheinfreiheit innerhalb einer immer noch
lustfeindlichen Gesellschaft ist, merkt man spätestens dann, wenn die Zwänge der
Umwelt sich schließlich doch auch bis in die traute Zweisamkeit hinein bemerkbar
machen, wenn z. B. emotionale Störungen auftreten wie Impotenz oder quälende
Eifersucht. Die "kleine Insel" ist innerhalb der "großen Welt" eben eine
kleinbürgerliche Illusion. Es bleibt ein vergebliches Bemühen, sich seine eigene
kleine Welt schaffen zu wollen, weil man von den allgemeinen Anschauungen über
Gut und Böse, wie sie durch die" Nachbarn, die Arbeitskollegen oder das
Fernsehen vertreten werden, und wie man sie durch eigene Erziehung verinnerlicht
hat, weiterhin abhängig bleibt. Es ist eine falsch verstandene individuelle
Freiheit, wenn sie. dazu führt, dass man etwa die allgemeinen moralischen
Ordnungen, von denen man doch als einzelner abhängig bleibt, akzeptiert und sich
auf einen privaten Freiheitsspielraum zurückzuziehen versucht. Denn wenn es
einmal mit dem Partner nicht mehr klappt, ist man isoliert und hilflos. Da
helfen auch die Sprüche von der Liebe als der "Schicksalsmacht" wenig, sie
verklären nur die Ohnmacht und die Verletzlichkeit des Einzelnen in seinen
sexuellen Beziehungen und lassen alles so, wie es ist. Wer nie über seine
Probleme sprechen gelernt hat, nicht mit dem Partner und nicht mit anderen, wer immer nur
der Umwelt das Ideal des "glücklichen Paares" vorgespielt hat, der wird
spätestens dann merken, dass seine "ungestörte Privatsphäre" Isolierung und
Abgeschnittensein von der Hilfe der anderen war, ohne doch den
gesamtgesellschaftlichen Zwängen entkommen zu sein. Nicht umsonst ist die
Ursache sehr vieler Selbstmorde Liebeskummer.
Falsche Freiheiten
1. Das Gegentabu des sexuellen Erfolges
Neben den oben geschilderten offen lustfeindlichen Normen der offiziellen Instanzen existieren in einer komplexen Gesellschaft wie der unsrigen immer auch inoffzielle Normen. Ein Beispiel dafür ist die bekannte "Doppelmoral" vieler Männer, für die "Seitensprünge" Kavaliersdelikte sind. Dieses Erfolgsideal herrscht meist auch in den Gruppen der Heranwachsenden: Hier wird hoch angesehen, wer sexuellen Erfolg hat -"der kann Frauen haben" -, wer möglichst viele Verabredungen hat, wer über Frauen und Liebestechniken Bescheid weiß, wer Witze reißen kann usw. Aber was nach Freiheit aussieht, stellt in vieler Hinsicht eine andere Form des Zwanges dar: Es entsteht eine Art Gegentabu, man wird ausgelacht, wenn man nicht so gut Bescheid weiß, wenn man Hemmungen hat, wenn man rot wird, wenn man Angst hat. Auch hier kann man von seinen wirklichen Problemen nicht sprechen, man ist gezwungen zu prahlen oder zu schweigen. Der Misserfolg spricht gegen einen selbst. Es gibt keine Solidarität, sondern nur Konkurrenz. Wer seine Schwächen zugibt, wird zum Gespött der anderen — die sie meist nur besser überspielen können. Damit entlarvt sich diese Moral der "wahren Männer" als eine Spielart der allgemeinen Unterdrückung. Sie ist keine Befreiung, sondern durch sie wird der einzelne jetzt von zwei Seiten terrorisiert, er steckt immer in der Zwickmühle.
Obszönität als Scheinfreiheit
Eng damit zusammen hängt die scheinbare Freiheit der "obszönen Bilder" und der "schmutzigen Witze". Zwar stellen sie eine Verletzung der offiziellen Tabus dar, trotzdem haben sie diese Moral meist nicht wirklich überwunden. Denn das Interessante an den Witzen ist häufig, dass sie eben "schmutzig" sind, dass also das Herabsetzende und Negative in ihnen noch enthalten ist. Man lacht häufig gerade über die Hilflosigkeit und Armseligkeit der Menschen bei dem Versuch, ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Gegenüber diesen Momenten von Grausamkeit, Schadenfreude und Verachtung in den obszönen Darstellungen von Sexualität muss man hellhörig sein, wenn man mehr tun will, als sich nur ein Ventil zu schaffen für den allgemeinen Zwang. Die Herrenwitze spießbürgerlicher Stammtische oder Magazine waren immer nur die Kehrseite der offiziellen Prüderie, nie aber deren Bedrohung.
Das Sexualtabu — eine Form der Unterdrückung
Kommen wir zur kritischen Frage in der Einleitung zurück. Die Frage, ob die sexuellen Bedürfnisse der Individuen in dieser Ordnung entfaltet und befriedigt werden, muss verneint werden. Solange es Tabuisierung gibt, kann man nicht davon sprechen, dass sich die Individuen frei über ihre Bedürfnisse aufklären können. Durch das Tabu können sich die Individuen über ihre wahren Probleme nicht verständigen. Ihnen ist die Zunge gelähmt. Wenn die Verständigung der Menschen über ihre elementarsten Bedürfnisse in dieser Weise behindert ist, kann man von einer "freien Gesellschaft" noch nicht sprechen. Wer sich trotzdem zum Wortführer sexueller Bedürfnisse macht, dem kann es passieren, dass man ihn selber diffamiert, ihm unlautere Motive unterstellt oder als Pathologen bezeichnet. Das ist kein Wunder, solange die sexuellen Bedürfnisse als an sich schlecht und lasterhaft hingestellt werden, solange also das Glück der Individuen zynisch einem angeblich ewigen Sittengesetz zum Opfer gebracht wird. Wo das Tabu die Verständigung behindert, da kann es auch nur schwer eine gemeinsame Willensbildung und Solidarität geben. Im Gegenteil, nur zu leicht wendet sich der enttäuschte und unglückliche Einzelne neidisch und rivalisierend gegen den anderen, blickt missgünstig auf fremdes Glück. Dies ist die ideale Situation, um die Individuen innerhalb einer Ordnung bei der Stange zu halten, die ihren Bedürfnissen gar nicht entspricht. Solange ein System sich der Tabuisierung der ideologischen Manipulation und der Diffamierung von Bedürfnissen bedient, kann es nicht den Anspruch erheben, die Ordnung der in ihr Lebenden zu sein, also "demokratisch" in einem strengeren Sinne zu sein. Unsere Gesellschaft kann sich von ihrer politischen Verantwortung auch nicht dadurch freisprechen, dass sie die massenhaft auftretenden Konflikte wie familiäres Unglück, Kriminalität, Neurose, Selbstmord usw., von denen im letzten Artikel die Rede war, den Individuen selber zuschreibt und ihrer "schlechten Veranlagung". Gerade am Punkt der Sexualmoral gilt es, menschliche Freiheit radikaler und konkreter zu bestimmen.
Der praktische Kampf für befreite sexuelle Beziehungen
Neben dem Grundsatz der
Kritik war in der Einleitung auch ein Prinzip der politischen Praxis formuliert
worden, wie es sich in der Rebellion entwickelt hat: Die Kritik blieb so lange
hilflos, wie sie sich nicht in das Handeln der Unterdrückten selber umsetzte.
Diese Umsetzung der Kritik in Praxis gelang umso besser, je genauer die Kritik
die tatsächlichen Bedürfnisse der Individuen zum Ausdruck brachte, denn wer
seine Unterdrückung und Ausbeutung begreift, ist auch motiviert, für ihre
Abschaffung zu kämpfen. Diese Artikelserie hätte also ihren Sinn erfüllt, wenn
zwei Dinge erreicht würden: zum einen das Bewusstsein über die sexuelle
Unterdrückung zu entwickeln und damit zugleich über die gesellschaftlichen Ursachen
vieler persönlicher Schwierigkeiten; zum anderen eine praktische Anleitung zum
kollektiven Kampf gegen diese Unterdrückung zu geben. Die Umgestaltung dieser
Gesellschaft kann nicht das Werk irgendwelcher Spezialisten oder Berufspolitiker
sein, sondern muss durch die Selbsttätigkeit der sich gemeinsam befreienden
Individuen vollzogen werden. Wie der Kampf gegen das Sexualtabu im Einzelnen
auszusehen hätte, kann hier nicht im voraus entwickelt werden. Trotzdem lassen
sich einige Grundsätze durchdenken.
Die besondere Schwierigkeit im Kampf gegen die sexuelle Unterdrückung besteht
darin, dass sie von den Individuen selber so stark verinnerlicht ist, d. h. dass
der Ruf nach Freiheit hier auf starke Schuldgefühle stößt. Durch die lebenslange
Manipulation ist es der Gesellschaft gelungen, die Unterdrückten zu ihren
eigenen Aufpassern zu erziehen. Deshalb ist es auch so schwer, die eigentlich
Verantwortlichen für die Aufrechterhaltung der sexuellen Unterdrückung zu
finden, und deshalb gilt hier noch stärker als anderswo die Forderung, im Kampf
um die Veränderung der Gesellschaft auch uns selber zu ändern und zu befreien.
Auf diesen zwei Ebenen — dem Kampf gegen die politisch Verantwortlichen und der
Anstrengung um die Veränderung unserer privaten Lebensverhältnisse — muss
gemeinsam vorangegangen werden. Was heißt das im Einzelnen?
Der Kampf gegen die politisch Verantwortlichen
Täglich aufs Neue wird
die sexuelle Unterdrückung praktiziert in den Gerichtssälen, den bischöflichen
Kanzleien, den Kultusministerien, den Zensurbehörden für Film oder Presse, den
Parlamenten, den Kirchen und den Klassenzimmern. Und dies geschieht ohne
nennenswerten Widerstand. Empfängnisverhütung wird zur Sünde gegen Gottes Gebot
erklärt, Filme werden zusammengeschnitten oder verboten, Zeitschriften werden
als "jugendgefährdende Schriften" in ihrer Verbreitung behindert, die Liebe
zwischen Unverheirateten wird als Unzucht und deren Unterstützung als Kuppelei
verfolgt, freiwillige Sterilisation wird als Körperverletzung bestraft,
Homosexualität nach dem § 175 behandelt, die gemeinsam verbrachte Nacht mit dem
Verweis aus dem Wohnheim geahndet usw.
In all diesen Fällen wird es für die Betroffenen darauf ankommen, diese
Unterdrückung nicht länger schuldbewusst hinzunehmen. Es bleibt weitgehend
unserem Witz und unserem Mut überlassen, wie wir die jetzige sexuelle
Unterdrückung entlarven und wie wir für eine freiere und befriedigendere Form
der sexuellen Beziehungen kämpfen.
Die Veränderung unserer privaten Lebensverhältnisse
Jeder einzelne von uns hat das sexuelle Tabu unter dem Druck der Umwelt irgendwie in sich aufgenommen, und in seinem Umgang mit sich selbst und seiner Umwelt spiegelt sich die herrschende Moral noch wider. Aus dem Abschnitt über die falschen Freiheiten ist schon ersichtlich, in welcher Richtung unsere gemeinsame Selbsterziehung zu gehen hätte. In einigen Stichpunkten sollen hier die ersten Schritte zu einer Aufhebung des Sexualtabus angedeutet werden.
1.
Sprecht über
eure Probleme. Lasst euch nicht
einfangen vom herrschenden Prestige-Denken und vom Zwang zum sexuellen Erfolg.
Unterwerft euch nicht den falschen Liebesidealen und spiegelt nach außen nicht
das "Glück zu zweit" vor, wo es nicht vorhanden ist. Es ist keine Schande, eher
ist es normal in unseren jetzigen Lebensverhältnissen, dass wir in unserer
Fähigkeit zu einer befriedigenden und relativ eifersuchtsfreien Beziehung
behindert sind. Eure Schwierigkeiten sprechen nicht gegen euch, sondern gegen
die Umstände, in denen ihr aufgewachsen seid. Begreift eure Schwierigkeiten in
ihren gesamtgesellschaftlichen Ursachen, aber schreibt sie nicht eurer
"unglücklichen Veranlagung" zu.
2. Helft den anderen. Lacht
niemand aus, weil er noch Ängste und Hemmungen hat, die ihr schon überwunden
habt. Seid vorsichtig mit moralischen Verurteilungen. Kritisiert den anderen
nicht, ohne ihm zugleich die Gründe für sein falsches Verhalten genannt und ihm
damit eine Chance zur Änderung gegeben zu haben. Sucht das Gespräch mit
denjenigen, die mit ihren Problemen alleine nicht fertig werden. Gebt vor allem
an die Jüngeren die Einsichten wieder, die ihr selbst viel zu spät bekommen
habt. Messt das Verhalten von Mädchen und Jungen nicht mit zweierlei Maß. Spielt
gegenüber Mädchen nicht die Rolle der falschen patriarchalischen Männlichkeit
und Überlegenheit. Prahlt nicht mit euren erotischen Eroberungen und sexuellen
Großtaten.
3. Durchbrecht
den Bannkreis der Intimsphäre. Tut
nicht dasjenige heimlich, was ihr öffentlich rechtfertigen könnt. Seid zärtlich
und liebevoll nicht nur zu eurem Partner, sondern auch zu den anderen. Der
Zugang und die Befriedigung im Partner soll euch freier machen im Zugang zur
übrigen Welt — und nicht diese ersetzen. Erweitert die Gesprächsthemen um diese
"intimen" Dinge gegenüber den Eltern, den Geschwistern, den Schulkameraden und
Arbeitskollegen. Kapselt euch in der Liebe nicht ab, sondern bezieht andere mit
ein. Versucht das Konkurrenz- und Rivalitätsdenken abzubauen.
Dies soll kein neuer Katalog von Vorschriften sein, nach denen man sich nun zu richten hätte. Die Absicht, die dahinter steht, ist allein die, in unserem täglichen Umgang solche Formen einzuführen, die den einzelnen möglichst wenig unterdrücken und die uns die Chance geben, hier gemeinsam neue Formen zu entwickeln. Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir die alte Ordnung auch in uns selber überwinden, müssen wir auch uns selber verändern.
***
Politologie als Emanzipationswissenschaft
(1968)
Dieser Artikel erschien zuerst in der
"Berliner Zeitschrift für Politologie. Hrsg am Otto Suhr-Institut, Freie
Universität Berlin, 9. Jahrgang, Nr. 2, August 1968, S. 21-23
[S.21]
Die Auseinandersetzungen um den Wissenschaftsbegriff in den
Sozialwissenschaften haben in der Vergangenheit unter dem hartnäckigen
Missverständnis gelitten, dass man meinte, die Kritiker der analytischen
Wissenschaftslogik griffen diese an, indem sie sich gegen Empirie, Logik und
Quantifizierung überhaupt wandten.
So konnte der Eindruck entstehen, als handle es sich bei dieser Kritik um einen
Rückfall in eine zweifelhafte und irrationale Philosophie.
Hinter der
Konfrontation einer beidseitig unvereinbaren Begrifflichkeit schält sich heute
jedoch immer deutlicher der eigentliche Gegensatz heraus. Dieser Gegensatz
besteht darin, dass die einen wissenschaftliches Fragen und Denken auf faktische
Zusammenhänge beschränken wollen, während die anderen die Faktenfragen nur im
Zusammenhang mit normativen und praktischen Fragen sehen. Die folgenden
Überlegungen verstehen sich als Angriff auf ein Verständnis von Wissenschaft,
das gerade diese Fragen unberücksichtigt lässt und als "unwissenschaftlich"
verbannen möchte und damit die empirische Forschung in einer Umgebung blinder
Entscheidungen belässt.
Dass der Streit um den Wissenschaftsbegriff nicht nur im "Reich der
Ideen" stattfindet, dass es hier nicht nur um die "Erkenntnis der Wahrheit"
geht, kann hier nur angedeutet werden. Nicht zufällig ist diese
Auseinandersetzung im ideologischen Bereich verbunden mit einer politischen
Auseinandersetzung. Der philosophische Streit ist Teil eines realen Kampfes um
die Umgestaltung der Gesellschaft. Da es den Kritikern bei dieser Umgestaltung
nicht um die Effizienzsteigerung der bestehenden Institutionen geht, sondern um
eine Neubestimmung der gesellschaftlichen Zielsetzung überhaupt, ist der auf die
Feststellung empirischer Regelmäßigkeiten beschränkte Wissenschaftsbegriff
ungenügend.
Eine solche Wissenschaft hatte sich als brauchbar erwiesen in der Kritik des
Bürgertums an der metaphysisch begründeten feudalen und klerikalen Herrschaft
sowie in der Steigerung der Produktion. In dem Augenblick jedoch, wo sich mit der
Etablierung der bürgerlichen Ordnung "Wissenschaftlichkeit" zum ideologischen
Hilfsmittel degradierte, um jeder Form von Gesellschaftskritik die Möglichkeit
allgemeingültiger Vernunft abzusprechen und sie als prinzipiell gleichrangige
subjektive Präferenz zu behandeln, in diesem Augenblick stand die Wissenschaft
auf Seiten der bestehenden Ordnung, die sich nicht mehr hinterfragen, sondern
nur in ihren "Sachzwängen", beschreiben und erklären lassen wollte.
Da sich die
moderne Wissenschaftslogik, die hier unter dem Begriff "logischer Empirismus"
zusammengefasst wird, in wesentlichen Punkten von den älteren Richtungen eines
naiven Empirismus und Positivismus unterscheidet, soll dieser Unterschied hier
noch einmal [S.22]kurz dargestellt werden; dies schon allein deswegen, um die
Diskussion nicht in überholten Gegensätzen stecken zu lassen.
Der logische Empirismus bestimmt sich als Erkenntnistheorie von dem Ziel her,
intersubjektiv überprüfbare Aussagen über die Realität zu gewinnen. Wesentliche
Bedingungen dafür sind die logische Widerspruchsfreiheit der Hypothesen, die die
Theorie bilden und die letztlich empirische Überprüfbarkeit der Aussagen. Dabei
bleibt alle wissenschaftliche Erkenntnis hypothetisch, weil sie zukünftig
falsifiziert werden kann (dazu K. R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen
1966).
Einige Klarstellungen über den logischen Empirismus erscheinen in
Hinsicht auf die späteren Überlegungen angebracht:
1. Nach dieser Theorie liegen die faktischen Seins-Aussagen zwar auf einer
anderen logischen Ebene als die normativen Sollensaussagen, aber mit der
Notwendigkeit ihrer logischen Unterscheidung wird keineswegs die faktische
Trennung dieser Dimensionen in der Realität behauptet.
2. Der logische Empirismus gibt allein die Methode an, um zu intersubjektiv
überprüfbaren Aussagen über die faktische Realität zu kommen, zu möglichst
irrtumsfreien Prognosen. Über die Möglichkeit anderer Fragestellungen und
Aussagen sagt er nicht mehr, als dass sie mit seiner Methode nicht lösbar sind.
3. Er verbietet nicht die Aufstellung von Hypothesen, die nicht unmittelbar
empirisch einlösbar sind. Er stellt mit seinen Kriterien nur einen Maßstab für
den Grad der Überprüfbarkeit solcher Hypothesen dar. Es ergibt sich also aus ihm
kein Denkverbot für Bereiche, die bisher empirisch nur schwer zugänglich sind,
etwa gesamtgesellschaftliche und innerpsychische Theoriebildung.
4. Zwar lassen sich Theorien von normativen Aussagen freihalten, aber die
wissenschaftliche Tätigkeit selber beinhaltet Entscheidungen und normative
Elemente. Die Fragestellung selber bedeutet ein Werturteil, indem man die
Aufdeckung eines bestimmten Zusammenhangs der Aufdeckung eines anderen vorzieht.
Von dorther ist dann auch die Begriffsbildung bestimmt, weil z. B. für die
Klärung des gewählten Zusammenhangs die begriffliche Unterscheidung auf einem
bestimmten Abstraktionsniveau ausreichend ist. Es ist also jederzeit möglich,
dass dabei begriffliche Unterscheidungen verloren gehen, die unter einem anderen
Gesichtspunkt außerordentlich wichtig sein können.
Soweit die Darstellung eines reflektierten logischen Empirismus, die hier
gegeben wurde, um die älteren positivistischen Richtungen von vornherein aus der
Diskussion ausscheiden zu können. In den folgenden Überlegungen geht es nun
nicht darum, diese Wissenschaftslogik als solche anzugreifen, sondern sie zu
kritisieren, sofern sie in der isolierten Dimension der Fakten verbleibt und den
Zusammenhang zur normativen und zur praktischen Sphäre nicht in den Zusammenhang
ihrer Reflexion systematisch mit einbezieht.
Auch eine Wissenschaft, die sich auf intersubjektiv überprüfbare Faktenaussagen
zu beschränken gedenkt, kann nämlich nicht verhindern, dass sie selber doch in
einem gesellschaftlichen Wertzusammenhang existiert. Die Gesellschaft stellt
selber ein normatives System dar, sie ist eine Ordnung, die
Allgemeinverbindlichkeit beansprucht; sie verlangt von den Individuen Gehorsam
gegenüber Gesetzen und anderen Normen und erzwingt ihn notfalls.
Nun wird sich keine Gesellschaft offen als gegründet auf bloße Gewalt zu
erkennen geben, weil dann auch niemandem ein Vorwurf gemacht werden könnte, der
diese Ordnung bekämpft. In einer Zeit, in der diese Legitimation nicht mehr auf
Metaphysik beruhen kann, bedeutet dies, dass sich eine Ordnung allgemein
anerkennbar begründet. Konkret für unsere Gesellschaft lautet die Begründung,
dass die bestehenden Verhältnisse gerechtfertigt sind, weil sie aus dem Willen
der Mehrheit der Bürger hervorgegangen sind. Es soll nun nicht die
Demokratietheorie entfaltet werden, die hinter dem Satz vom Willen der Mehrheit
steht, es soll nur darauf hingewiesen werden, dass das Prinzip der
demokratischen Legitimation selber einmal begründet wurde, dass es bestimmte
Ziele zu erreichen versprach und dass es bestimmte faktische Voraussetzungen
seiner Gültigkeit gab. (z. B. J. St. Mill: On Liberty).
Hier wird nun der reale Zusammenhang zwischen der faktischen und der normativen
Dimension in der Gesellschaft deutlich, dem sich auch die Wissenschaft nicht
entziehen kann. In dem Augenblick, wo sie nachweist, dass die Voraussetzungen
nicht gegeben sind, die eine Ordnung für ihre Legitimation angibt, in diesem
Augenblick wird Wissenschaft von einem System zur Kritik faktischer Aussagen zu
einem Instrument der Gesellschaftskritik. Oder aber sie verfehlt diese Aufgabe
der Kritik, indem sie den Zusammenhang verdrängt bzw. sich dazu hergibt, die
Brüchigkeit einer Legitimation zu verschleiern. So oder so muss sich jedoch auch
eine "wertfreie" Wissenschaft gefallen lassen, politisch und moralisch bewertet
zu werden.[S.23]
Erster Ansatzpunkt einer kritischen Wissenschaft muss heute also der
Selbstanspruch einer Gesellschaft sein, mit dem sie ihre Ordnung begründet. Für
die parlamentarische Demokratie führt das zu der Frage, ob im Rahmen der
politischen Öffentlichkeit tatsächlich eine Aufklärung der Individuen über die
Zusammenhänge und Möglichkeiten der Gesellschaft und über ihre eigenen
Interessen stattfindet oder ob sich im politischen Willen der Individuen
fremdbestimmte Motive unkontrolliert durchsetzen.
Es wäre also an jedem Punkt des politischen Willensbildungsprozesse die Frage
nach seiner demokratischen Qualität zu stellen.
Neben der immanenten Kritik der Gesellschaft, deren Notwendigkeit auch die
Herrschenden nicht guten Gewissens verweigern können, kann Wissenschaft jedoch
auch kritisch werden von einem normativen Kriterium her, das die herrschende
Legitimationstheorie noch übersteigt. Ein solcher Fall liegt heute vor, wo die
traditionelle Bestimmung der Aufgaben des Staates sowie die unbefragte Hinnahme des
Wählerwillens als letzter Instanz, wie sie die bürgerliche Demokratie
kennzeichnet, durch das Faktum der verinnerlichten Herrschaft hinfällig geworden
ist (dazu: Th. Adorno u. a.: "The Authoritarian Personality", 1950).
Das Prinzip der demokratischen Legitimation wird heute zunehmend radikaler und
inhaltlicher gefasst, indem als anerkennbar nur eine Gesellschaftsordnung gilt,
in der die Betroffenen die Verhältnisse nach ihren eigenen Bedürfnissen
gestalten können. Erste Aufgabe einer in diesem Sinne kritischen und
emanzipatorischen Wissenschaft wäre es, die Widersprüche zwischen den
Bedürfnissen der Individuen und der bestehenden Ordnung aufzudecken und die
Mechanismen zu ihrer Verschleierung zu identifizieren, also die Faktoren zu
bestimmen, die eine Aufklärung der Individuen über die Bedürfnisse verhindern.
Die Ideologie des freien Individuums ist vom Prozess seiner brutalen
Vergesellschaftung her zu kritisieren. Indem die Wissenschaft Unwissenheit,
Unmündigkeit und verinnerlichte Herrschaft nachweist, zerstört sie die Ideologie
einer schon "freien Welt" und schafft die Grundlage für eine weitere
Emanzipation der Gesellschaft.
Soweit die Darstellung des Zusammenhangs zwischen faktischer und normativer
Dimension, der unentrinnbaren Verbindung von Erkenntnis und Rechtfertigung in
der Gesellschaft und jedem einzelnen Individuum. Damit ist das Problem einer
emanzipatorischen Wissenschaft jedoch noch nicht gelöst. Ein weiteres wichtiges
Problem besteht in der Frage, wie die Kritik zu einer realen politischen Macht
werden kann, wie sie sich in Entscheidungen und im Handeln wirkungsvoll umsetzt.
Es muss also der Zusammenhang der faktischen und der normativen Dimension mit
der praktischen Dimension in die Wissenschaft einbezogen werden, um nicht in
einer hilflosen Kritik, in einem abstrakten moralischen Vorwurf stecken zu
bleiben bzw. im bloßen empirischen Zweifel, der seine unausweichliche Konsequenz
in der Veränderung der Welt nicht erkennt.
Der Vorwurf an die rein
logisch-empirische Sozialwissenschaft ist dabei nicht, dass sie für die
Gestaltung der Gesellschaft nicht praktisch brauchbar wäre, sondern dass sie
diese Veränderung rein technisch betrachten muss und ohne den Zusammenhang mit
einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik.
Die Frage nach der vernünftigen Praxis ist die Frage nach der Möglichkeit einer
emanzipatorischen Veränderung der Welt. Sind die Widersprüche zwischen den
Bedürfnissen der Individuen und den bestehenden Verhältnissen aufgedeckt und die
Mechanismen zur Verschleierung dieser Widersprüche erkannt, so sind diejenigen
Faktoren und sozialen Gruppen zu identifizieren, die für die Aufrechterhaltung
dieser Verhältnisse verantwortlich sind.
Eine kritische Politologie hätte sich dabei weniger mit den gleichsam
naturnotwendigen Entbehrungen und Unfreiheiten zu befassen, denn die
Verbesserung der wissenschaftlichen Naturbeherrschung ist politisch nicht mehr
kontrovers. Sie hätte ihr Interesse vielmehr dorthin zu lenken, wo soziale
Gruppen die Aufrechterhaltung von Abhängigkeitsverhältnissen im eigenen
Interesse betreiben. Es wären die Gruppen zu identifizieren, die eine vom Stand
der Naturbeherrschung, d. h. von der Entwicklung der Produktivkräfte her
mögliche Emanzipation aller Menschen verhindern.
Die Politologie hätte also die Interessenlage der sozialen Gruppen im
Zusammenhang mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen offen zu legen, um den
Individuen eine Aufklärung über ihre Lage und eine Orientierung ihres
politischen Kampfes zu geben. Im eigentlichen Sinne praktisch wird eine
Politologie, wenn sie auch die Wege für eine emanzipatorische Veränderung der
Gesellschaft zeigt. Das erfordert einmal die Bestimmung des möglichen Trägers
dieser Veränderung. Dies müssen nicht die bestehenden politischen Institutionen
sein, die ja vor allem ein Instrument der Herrschenden sind, sondern dies
sollten diejenigen Gruppen sein, die als Unterprivilegierte und
Unterrepräsentierte des Systems an ihrer eigenen Emanzipation interessiert sind.
Es stellt sich dann die Frage, wie diese Gruppen aus dem bloßen Erdulden ihrer
miserablen Lage zu einem bewussten Kampf gegen diese Verhältnisse kommen können.
Dazu bedarf es einer Analyse der Funktion, welche diese Gruppen für die
Reproduktion des bestehenden Systems haben, welche Macht sie also entfalten
können.
Soweit die Überlegungen zu einer kritischen und praktischen Sozialwissenschaft.
Dies Ziel konnte hier nur skizzenhaft umrissen werden und verlangt weitere
theoretische Arbeit. Der Versuch war, eine Politologie zu bestimmen, für die die
Dimensionen des Erkennens, Bewertens und Entscheidens nicht isoliert sind. Erst
eine solche zusammenhängende Vernünftigkeit reißt die individuelle
Persönlichkeit nicht mehr arbeitsteilig auseinander. Diese unbegriffene
Arbeitsteiligkeit ist jedoch die Bedingung für die Fortdauer der Herrschaft von
Menschen über Menschen, einer Herrschaft, die erkauft wird mit der psychischen
Desintegration und Repression der Individuen.
Dieser Aufsatz wurde auf dem Höhepunkt der
Studentenbewegung 1968 geschrieben. Er gibt eine radikal-demokratische,
nicht-marxistische Position innerhalb der Studentenbewegung wieder. Zu dem
allermeisten in diesem Aufsatz stehe ich auch heute noch. Allerdings würde ich
manches heute anders formulieren.
Das betrifft z. B. die Forderung, dass "die Betroffenen die Verhältnisse nach
ihren eigenen Bedürfnissen gestalten sollen". Diese Forderung wurde häufig so
verstanden, dass nur die in der jeweiligen Institutionen (wie Universitäten,
Schulen, Betrieben, Heimen etc.) Beschäftigten und Lebenden als "Betroffene"
angesehen wurden, nicht jedoch diejenigen Individuen und Organisationen
außerhalb der Institution, für die die betreffende Institution Leistungen zu
erbringen hatte. Das führte dazu, dass die Studentenbewegung in allen Bereichen
und Institutionen eine (räte)demokratische Selbstverwaltung durch die
Mitglieder dieser Institutionen forderte - manchmal garniert mit problematischen
halbernsten Parolen wie "Brecht dem Schütz die Gräten - Alle Macht den Räten!"
(Klaus Schütz, SPD, war 1968 Regierender Bürgermeister in West-Berlin.)
Ein solch vereinfachtes Verständnis von demokratischer Entscheidung durch die
Betroffenen geht an den arbeitsteiligen Verflechtungen und Verantwortlichkeiten
einer modernen hoch differenzierten Gesellschaft völlig vorbei. So wird ein
Produktionsbetrieb, der in der Form einer demokratischen Selbstverwaltung der in
diesem Betrieb Arbeitenden organisiert ist, sicherlich die Interessen der dort
Arbeitenden vertreten. Er wird seine Produktion jedoch wahrscheinlich nicht an
der Nachfrage in der Gesellschaft orientieren, weil die Konsumenten in dem
Selbstverwaltungsgremium nicht vertreten sind und folglich darauf auch keinen
Einfluss nehmen können.
Auffällig ist, dass ich in dem Aufsatz - dem eine Rede zugrunde lag - nichts
über das Verhältnis der geforderten rätedemokratischen Strukturen zum
Grundgesetz und zum Parlamentarismus gesagt habe. Das war offenbar eine
(problematische) Konzession an die entschieden außerparlamentarische
Orientierung ("APO") der meisten Wortführer der Studentenbewegung und an die
Einheit der Studentenbewegung.
Problematisch ist auch die Formel von der "Verschleierung der Widersprüche".
Abgesehen von der Vagheit des Begriffs "(gesellschaftlicher) Widerspruch" ist
auch der Begriff der "Verschleierung" problematisch, insofern als er eine
manipulative Zauberkraft suggeriert, die die Köpfe vernebelt.
Im Aufsatz ist von der "brutalen Vergesellschaftung" der Individuen die Rede und
von der "psychischen Desintegration und Repression der Individuen". In dieser
undifferenzierten Allgemeinheit ist die darin enthaltene Gesellschaftskritik
nicht zu belegen. Allerdings ist richtig, dass sich in Nachkriegs-Deutschland
faschistoide Erziehungsmethoden und Denkstrukturen in weiten Bereichen
ungebrochen fortsetzten. Ich habe selber meine schlimmen Erfahrungen damit
gemacht, als ich 1949/50 als 6-jähriger wegen einer Tuberkulose für 14 Monate in
das Niedersächsische Landeskinderkrankenhaus in Bad Sachsa im Südharz kam.
Wie ich erst sehr viel später zufällig entdeckte, war es derselbe idyllische
Gebäudekomplex, in denen vor 1945 die Kinder von eingekerkerten und ermordeten
Gegnern des Nazi-Regimes in "Sippenhaft" zusammengefasst und "erzogen" wurden.
Offenbar hatte man das Personal 1945 nicht gründlich ausgewechselt und eine
Oberschwester Hilde als Heimleiterin konnte noch 5 Jahre später ungehindert ihre
autoritär-brutalen Erziehungsmethoden praktizieren.
Nicht zufällig entstammte ein großer Anteil der späteren RAF-Aktivisten dem
Heidelberger "Sozialistischen Patienten-Kollektiv" und war psychisch schwer geschädigt.
***
Gegen die weitere Aushöhlung der Demokratie
unter dem
Vorwand des
Verfassungsschutzes
(1975)
In der Bundesrepublik und West-Berlin findet gegenwärtig eine breit angelegte
Aktion zur Eliminierung von bestimmten Personen aus dem öffentlichen Dienst bzw.
zur Verhinderung ihrer Einstellung statt. Zehntausende von Personen werden von
den Verfassungsschutz-Behörden überprüft, eine zunehmende Zahl findet keine
Anstellung mehr oder wird aus der bisherigen Stellung entlassen.
Was wird diesen Personen vorgeworfen? Haben sie sich strafbar gemacht und gegen
geltende Gesetze verstoßen? Sind sie fachlich ungeeignet für die betreffenden
Berufe? Nichts dergleichen. Ihnen werden allein ihre politischen Ansichten
vorgeworfen. Es heißt, dass sie "nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die
freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten". Das bedeutet, dass
Menschen
allein aufgrund ihrer Gesinnung und ohne jeden Verstoß gegen rechtliche
Vorschriften von denjenigen Berufen ausgeschlossen werden, für die sie allein
ausgebildet sind. Welche Existenz bedrohende Härte eine solche Maßnahme für die
Betroffenen darstellt, kann sich jeder leicht vorstellen.
Diese politischen Säuberungsaktionen finden in einem Land statt, das selber
den Anspruch erhebt, eine demokratische Gesellschaft zu sein und in der die
Prinzipien der Meinungs- und Gesinnungsfreiheit einen zentralen Platz einnehmen
sollen. Aber dieser demokratische Anspruch ist in dem Maße unglaubwürdig, wie er
nur noch dazu dient, Vorgängen in den an der Sowjetunion orientierten Ländern
anzuprangern, wie z.B. die politischen Säuberungsaktionen in der CSSR nach dem
Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts.
Beispielhaft für eine solche scheindemokratische Position sind Zeitungen oder
Sender, die in großer Aufmachung und aller Ausführlichkeit über die
Disziplinierung sowjetischer Intellektueller wie Solschenyzin durch die
politische Polizei berichten, die jedoch entsprechenden Vorgängen der
Unterdrückung von politischen Ansichten im eigenen Land keinen Raum in der
Berichterstattung geben.
Demokratie wird dabei zur wohlklingenden Phrase in Sonntagsreden, die eine
Gesellschaft ohne reale Meinungsfreiheit verhüllen sollen.
Die Verfolgung von Menschen wegen ihrer politischen oder weltanschaulichen
Überzeugungen hat - gerade in Deutschland - eine lange und traurige Tradition.
Die Liste derjenigen, die wegen ihrer politischen Meinungsäußerungen ihre
berufliche Existenz verloren haben, vor Gericht gestellt wurden, in die
Emigration getrieben oder gar umgebracht wurden, ist endlos und umfasst einen
Großteil derer, die heute zu den bedeutendsten Vertretern unserer kulturellen
Tradition gerechnet werden.
Zu denken ist an Wissenschaftler wie Freud und Einstein, an Literaten wie Thomas
Mann und Bertolt Brecht, an Sozialdemokraten wie Brandt und Wehner, an
Sozialisten ohne Zahl sowie an Intellektuelle, deren Werke heute zum
bürgerlichen Bildungsgut zählen wie Büchner und Heine.
Bei dieser Tradition ist es unbegreiflich, wenn heute Funktionäre der SPD und
der Gewerkschaften an der Gesinnungsschnüffelei und an der "Säuberung" des
öffentlichen Dienstes aktiv mitwirken. Anstatt vor allem der weiteren Aushöhlung
der demokratischen Substanz des Grundgesetzes durch diejenigen entgegenzutreten,
die Ostverträge, Hochschulreformgesetze, Fristenlösung oder
Mitbestimmungsentwürfe für "verfassungswidrig" erklären wollen, beteiligt man
sich an der Eliminierung derer, die sich für die "Abschaffung von
Klassenherrschaft und Ausbeutung" und für "Revolutionierung der
Eigentumsverhältnisse" aussprechen.
Heute schwingen sich Leute zu Gralshütern der Demokratie auf, deren geistige
Ahnherrn und Vorbilder zu den eingefleischtesten Gegnern des allgemeinen
gleichen Wahlrechts, der freien politischen Meinungsäußerung oder des
Koalitionsrechts der Gewerkschaften gehörten. Diese demokratischen Rechte
mussten erst unter schweren Opfern gegen konservative Kräfte erkämpft werden,
die ohne weiteres damit einverstanden waren, dass nach dem preußischen
Dreiklassenwahlrecht die Stimmen der Familie Krupp in Essen genauso viel Gewicht
hatten wie die Stimmen von Zehntausenden von Krupp-Arbeitern.
Auch gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und die blutige
Verfolgung von Sozialisten und Kommunisten leisteten die konservativen Kräfte -
gelinde gesagt - keinen ernsthaften Widerstand.
Das erste Kabinett unter Hitler war eine Koalitionsregierung der
Nationalsozialisten mit den Deutschnationalen unter Hugenberg, dem langjährigen
Krupp-Direktor und Eigentümer eines großen Presse- und Film-Konzerns. Den
Vizekanzler stellte von Papen, ein Politiker, der aus der katholischen
Zentrumspartei kam. Das berüchtigte Ermächtigungsgesetz vom März 1933 wurde
von Nationalsozialisten und Deutschnationalen gemeinsam eingebracht. Nur die SPD
stimmte gegen dies Gesetz, das u. a. der Reichsregierung unter Hitler das Recht
gab, von der Verfassung abweichende Gesetze zu erlassen. Alle Parteien rechts
von der SPD stimmten diesem Gesetz zu. (Die KPD war bereits Februar 1933 durch
eine Notverordnung des Präsidenten zur Abwehr "staatsgefährdender Gewaltakte"
ausgeschaltet worden und konnte ihre Sitze im Reichstag nicht mehr einnehmen.)
Diese tatkräftige Mitarbeit der deutschnationalen, konservativen und
katholischen Parteien an der "legalen" Aushöhlung der Weimarer Verfassung, die
ja formell nicht abgeschafft wurde, sollte jeden demokratisch Denkenden
zumindest wachsam machen: Zu oft wurde in der deutschen Geschichte unter dem
Deckmantel staatlicher Legalität die Verfolgung Andersdenkender praktiziert.
Der gegenwärtige Versuch, mit dem Hinweis auf den Schutz der Demokratie
Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung die berufliche Existenzgrundlage zu
entziehen, muss besonders makaber wirken angesichts der Tatsache, dass in diesem
Staat einflussreiche Ministerialbeamte, Offiziere, Richter, Professoren oder "Wirtschaftsführer" des nationalsozialistischen Regimes, die aktive Mitglieder
der NSDAP waren, ohne Probleme wieder hohe und höchste Staatsämter einnehmen
konnten. Nicht der Kommentator zu den Nürnberger Rassegesetzen Globke stellte
als Staatssekretär im Bundeskanzleramt eine Gefahr für die Demokratie dar,
sondern der Lehrer, der Mitglied der DKP ist. Nicht der Richter, der
Todesurteile gegen Gegner des Nazi-Regimes gefällt hat, sondern der
Gerichtsreferendar, der sich als Student für die sozialistische Revolution
eingesetzt hat.
Ein grelles Licht auf diese Art von "Verfassungsschutz" wirft die Tatsache, dass
der Organisator und langjährige Leiter des Bundesnachrichtendienstes, General
Gehlen, bereits im nationalsozialistischen Geheimdienst eine hohe Funktion
bekleidet hatte. In welchem politischen Lager solche Leute die "Staatsfeinde"
gesehen haben, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen. Nicht zufällig konnten
sogar Offiziere der Bundeswehr hohe Funktionäre der NPD sein, ohne deswegen als
eine Gefährdung der Demokratie angesehen zu werden und aus dem öffentlichen
Dienst entlassen zu werden.
Wer meinte, dass die Konservativen von heute doch durch die Erfahrungen des
Nationalsozialismus gelernt hätten und dass von ihnen heute keine Gefahr für die
Demokratie mehr drohe, der wird durch einige Ereignisse der neueren Zeit
hellhörig geworden sein. Schon immer musste es eigentlich paradox erscheinen,
dass die NATO als militärischer Pakt zur Verteidigung von Demokratie und
politischer Freiheit jahrelang Bündnispartner wie Portugal oder Griechenland
umfasste, die sich gerade durch eine grausame Unterdrückung von Demokratie und
Freiheit auszeichneten, die durch blutige Kolonialkriege oder Gefängnisinseln
für politische Gegner traurige Berühmtheit erlangten.
Kann man sich an Proteste der CDU erinnern, als der erwartete Wahlsieg des
linksgerichteten Politikers Papandreou durch den Militärputsch in Griechenland
gerade noch vereitelt wurde? Hatte man nicht über Jahrzehnte ein recht gutes
Verhältnis zur portugiesischen Diktatur? Wie war es in Chile, als eine mehr als
hundertjährige demokratische Tradition mit der Bombardierung des
Präsidentenpalastes ein blutiges Ende fand? Hieß es da nicht, die "Ordnung"
hätte wieder hergestellt werden müssen? Hatte man nicht zum demokratisch
gewählten Allende ein schlechteres Verhältnis als zum General Pinochet, dem
Hauptverantwortlichen für tausendfachen Mord und Folter an politischen Gegnern?
Verweigerte man nicht einer Auslandshilfe zur Zeit der Regierung Allende die
Zustimmung, weil die chilenische Regierung eine Bodenreform zugunsten landloser
Arbeiter durchführte, die u.a. auch zur Enteignung ausländischer
Großgrundbesitzer wie dem Multimillionär Schickedanz ("Quelle") führte? Forderte
nicht der CDU-Vertreter Todenhöfer nach Besuchen bei Pinochet nachdrücklich die
Auszahlung der Kredite an das neue bajonettgestützte Regime?
Wer diese Politik genauer beobachtet und aus den geschichtlichen Erfahrungen
seine Lehren zieht, der wird den Verdacht nicht los, dass diejenigen, die heute
am lautesten nach dem Kampf gegen die Feinde der Demokratie rufen, auch
diejenigen sind, die die Demokratie sofort dann fallen lassen, wenn einmal auf
demokratischem Wege ihre Interessen, die Kapitalinteressen einer Minderheit von
Konzernchefs, Multimillionären und Großgrundbesitzern gefährdet werden. Immer
wenn das Kapitaleigentum in Gefahr war, war seinen politischen Vertretern jedes
Mittel recht, vom Militärputsch (Chile, Griechenland) bis zum Bürgerkrieg
(Spanien), von der Wirtschaftsblockade (Kuba) bis zur militärischen Invasion
(Sowjetunion).
Wer wäre so naiv anzunehmen, dass diese Kreise kampflos ihre Verfügungsgewalt
über die gewaltigen Reichtümer und Machtmittel aufgeben würden, nur weil sie
gute Demokraten sind und sich dem Mehrheitswillen zur Vergesellschaftung der
Produktionsmittel beugen?
Die Vermutung, dass den konservativen Kräften privater
Kapitalbesitz heiliger ist als die politische Demokratie, wird noch erhärtet
durch den ständigen Versuch, kapitalistische Wirtschaftsordnung und politische
Demokratie gleichzusetzen, z.B. durch den Begriff "freiheitliche
Gesellschaftsordnung". So hat der CDU-Vorsitzende Kohl erst kürzlich wieder
versucht, den Kapitalismus zum Bestandteil der Verfassung zu erklären und damit
den Prozess der Aushöhlung der politischen Demokratie voranzutreiben. Die
Wirtschaftsordnung, die für alle Menschen elementare Bedeutung besitzt, weil von
ihr die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor allem abhängen, soll dem Bereich der
demokratischen Willensbildung entzogen werden und in der Verfassung
festgeschrieben werden. Und leider ist es nicht sicher, ob sich nicht eine
Mehrheit der CDU-nahen Verfassungsrichter finden würde, die gesetzliche
Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Industrievermögen und zur Planung des
Wirtschaftsprozesses für verfassungswidrig erklären würden, falls eine Mehrheit
der Wähler nicht mehr bereit ist, die krassen Vermögens- und
Einkommensunterschiede, die ungleiche Verteilung der Arbeitslasten und die
Krisenbewältigung durch Massenentlassungen und Kaufkraftverluste als
unabwendbares Schicksal hinzunehmen.
Da die Sozialisten eine Gesellschaft anstreben, in der es der Mehrheit der
Menschen besser geht als im Kapitalismus, brauchen sie den aufgeklärten Willen
der Mehrheit und das allgemeine Wahlrecht nicht zu fürchten. Im Gegenteil, was
sie fürchten müssen sind die Panzer und Bajonette, die im Ernstfall gegen die
demokratische Enteignung der kleinen Minderheit von Kapitaleigentümern
mobilisierbar wären, wie z.B. in Chile.
Da es den Sozialisten darum geht, dass alle Menschen sich aufgrund von
Information und eigener Überlegung über ihre wirkliche Interessenlage aufklären,
brauchen sie die freie Diskussion und Information in Versammlungen, Presse,
Rundfunk und Fernsehen nicht zu fürchten, im Gegenteil. Was sie fürchten müssen
ist die ständige Verfälschung und Unterdrückung von Nachrichten und
Zusammenhängen und die Verteufelung von Gegnern der kapitalistischen
Wirtschaftsordnung durch Massenmedien, die sich direkt im Privatbesitz von
Kapitalisten wie Springer befinden oder aber wirtschaftlich und politisch von
deren Wohlwollen abhängig sind.
Da die Sozialisten eine Gesellschaft anstreben, in der die Regierungspolitik
dem aufgeklärten Willen der Mehrheit unterworfen bleibt, brauchen sie das
Prinzip unabhängiger Gerichte nicht zu fürchten, die als selbständige Gewalt
jedermann - auch die Regierung - an die demokratisch beschlossenen Verfassungs-
und Gesetzesnormen bindet. Was sie dagegen fürchten müssen sind Richter und
Justizorgane, die wie in der Weimarer Republik im Namen von Verfassung und Recht
Sozialisten diskriminieren und verfolgen und mit dem Argument des Staatsschutzes
selber tatkräftig an der Aushöhlung der demokratischen Substanz der Verfassung
mitwirken.
Da die Sozialisten nicht an die Unfehlbarkeit irgendwelcher politischen Eliten
glauben und da sie wissen, dass der Sozialismus nicht durch die Dekrete einer
diktatorisch regierenden Partei oder Clique entstehen kann sondern nur Ergebnis
des freien demokratischen Willensbildungsprozesses aller sein kann, brauchen sie
die Institutionalisierung des Rechtes auf Kritik und Opposition und eine
Pluralität von Meinungen nicht zu fürchten. Im Gegenteil, was sie fürchten
müssen ist eine wirtschaftliche Erpressung wie in Chile, wo Fuhrunternehmer
ihren Privatbesitz an den lebensnotwendigen Versorgungseinrichtungen der
Gesellschaft in einem wochenlangen Boykott als Waffe gegen eine demokratisch
gewählte sozialistische Regierung einsetzten. Sie müssen die Agenten
ausländischer Konzerne wie ITT fürchten, die riesige Geldsummen einsetzten zur
Unterstützung solcher Boykotte, zur Finanzierung der Wahlkämpfe
kapitalfreundlicher Parteien und für die Bezahlung von bewaffneten
Terrororganisationen.
Wenn die Sozialisten für sich die Freiheit der politischen Meinungsäußerung und
die Aufhebung von Maßnahmen fordern, die die berufliche Existenz von Menschen
aufgrund ihrer politischen Anschauungen vernichtet, so fordern sie damit nur die
Einhaltung der einfachsten und grundlegendsten Prinzipien einer Demokratie. Denn
ohne eine Freiheit der politischen Meinungsäußerung wird jede Wahl zur Farce und
verliert ihre demokratische Legitimation.
Wo im Namen der Demokratie eine politische Richtung mundtot gemacht werden
soll, hebt sich die Demokratie selber auf. Wir fordern deshalb alle wirklichen
Demokraten gleich welcher politischen Richtung auf, als Demokraten gegen
Gesinnungsterror und politische Diskriminierung aufzutreten und die Demokratie
vor ihren falschen Freunden zu schützen, die in Deutschland schon einmal ihren
Ruin herbeigeführt haben.
***
Das Folgende ist ein Redebeitrag auf dem "Kongress gegen politische Unterdrückung" 1972 in West-Berlin.
Zur Diskussion des "Mandel-Falls"
(1972)
Die sozialistische Bewegung in der BRD und West-Berlin kommt im Augenblick an einen
kritischen Punkt. Es wurden in den letzten Jahren Teilerfolge in bestimmten
gesellschaftlichen Bereichen errungen. Dazu gehören die Universitäten, Schulen
aber auch Ansätze im betrieblichen und gewerkschaftlichen Bereich. Diese
Teilerfolge haben jedoch dazu geführt, dass die pro-kapitalistischen Kräfte in
zunehmendem Maße nervöser wurden und immer lautstärker eine Bekämpfung der
sozialistischen "Unterwanderung" forderten. Diese Kräfte haben sich gegenwärtig
in der Politik wieder so weit durchgesetzt, dass zu offenen Maßnahmen gegen die
sozialistischen Kräfte gegriffen wurde, und zwar durch Berufsverbote bzw.
Nichteinstellung von Sozialisten in den betreffenden Bereichen Schule und
Hochschule.
Diese Maßnahmen wurden begründet mit dem Hinweis auf die mangelnde
Verfassungstreue der Eliminierten. So hieß es bei Ernest Mandel, seine
politischen Ziele - insbesondere die Rätedemokratie - seien mit der Verfassung
nicht vereinbar. In dem Augenblick jedoch, wo die Verfassungsfeindlichkeit
bestimmter politischer Richtungen eine ausgemachte Sache ist, ist das Verbot der
entsprechen Gruppierung und die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung der
beteiligten Personen nur noch eine logische Konsequenz.
Diese Erfahrungen wurden im Zuge des KPD-Verbots und der in den Jahren darauf
folgenden Kommunistenprozesse bereits einmal in der BRD gemacht. Auf einen
solchen kritischen Punkt steuern die Sozialisten in der BRD und WB heute
wiederum zu, indem sie zu Verfassungsfeinden gestempelt werden. Kritisch ist
diese Situation vor allem auch deswegen, weil man die Linke in einem Moment zu
treffen beabsichtigt, wo sie gerade erst anfängt, ihre gesellschaftliche
Isolierung und ihre Beschränkung auf den Hochschulbereich zu überwinden, d.h. wo
sie zu einer Abwehr dieser Gefahr fast keine relevanten gesellschaftlichen
Kräfte mobilisieren kann. Eine Illegalisierung der Sozialisten und eine
anschließende Beseitigung ihres Einflusses ist also eine reale Gefahr, dies hat
das KPD-Verbot, das Verbot des Heidelberger SDS oder auch das Beispiel der "Gauche Proletarienne" in Frankreich gezeigt.
Eine erste Schlussfolgerung muss daher lauten, dass sich die Sozialisten unter
keinen Umständen in die verfassungsfeindliche Ecke drängen lassen
dürfen, wenn sie nicht wollen, dass ihr politischer Aktionsraum auf das Minimum
des illegalen politischen Untergrunds mit seinen notwendig zu erwartenden
Opfern beschränkt werden soll. (Die negativen Folgen können gegenwärtig am
Beispiel von Organisationen wie der RAF beobachtet
werden.)
Nun mag mancher entgegnen, der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit sei sowieso zu
erwarten und eine Diskussion um diesen Punkt sei überflüssiger juristischer
Formelkram. Schließlich gehöre es zu
den politischen Grunderkenntnissen jedes Sozialisten, dass der Staat - und damit auch die
staatliche Verfassung - von der herrschenden Klasse in ihrem Sinne genutzt wird,
d.h. dass in einer kapitalistischen Gesellschaft die Verfassung gegen
Sozialisten gekehrt wird. Auslegung und Anwendung der Verfassung sei keine Frage
des Rechtes sondern der Herrschaftsverhältnisse. Der gegenwärtige Konflikt sei
Teil der Klassenauseinandersetzung und damit eine Frage der Macht und nicht des
Rechts.
Diese Argumentation und Einstellung, die ich eben skizziert habe und die sich
realistisch und illusionslos gibt, ist in meinen Augen jedoch trotz ihrer
gewissen Berechtigung der realen Situation nicht angemessen und könnte die eigenen
Aktivitäten eher lähmen als verstärken, und zwar aus folgenden Gründen:
Erstens ist eine derartige Reduzierung der politischen Auseinandersetzung auf
eine reine Machtfrage in der gegenwärtigen Situation geradezu selbstmörderisch.
Wenn man einmal die existierenden Machtverhältnisse in diesem Staat betrachtet,
so würde bei einem wirklichen Machtkampf unter Einsatz aller verfügbaren Mittel
von den Sozialisten wohl kaum etwas übrig bleiben. Dieser leicht einzusehende
Tatbestand macht deutlich, dass es von der oben skizzierten militanten Haltung
bis zu einer resignativen Haltung der politischen Hoffnungslosigkeit kein allzu
großer Schritt ist und die Gefahr eines "Umkippens" immer gegeben ist.
Zum andern ist die Gleichung "Kapitalistische Gesellschaft also
kapitalistisches Recht" gerade insofern kurzschlüssig, als ja Verfassungen
tatsächlich nicht von irgendeiner höheren Gerechtigkeit verordnet sind, sondern
Produkte gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe darstellen. Das
heißt aber auch, dass die jeweilige Verfassung auch die Fixierung eines
bestimmten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses darstellt und dass sich in den rechtlichen
Formen einer kapitalistischen Gesellschaft deshalb auch die relative Stärke der sozialistischen
Kräfte niederschlagen muss. Dies gilt nun insbesondere für die Verfassung der
BRD, die in einer Phase entstand, als sich Kapitalbesitz und politische
Rechtskräfte erst allmählich von der totalen Niederlage des "3. Reiches"
erholten. Dies drückt sich z.B. darin aus, dass aus dem Grundgesetz kein Verbot
einer Aufhebung des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln abgeleitet
werden kann.
Ich will auf die Einzelheiten hier nicht näher eingehen, sondern
will nur festhalten, dass in dem Augenblick, wo von den Sozialisten nicht mehr
um die Ebene der Verfassungsmäßigkeit gekämpft und argumentiert wird, damit auch
die historisch einmal errungenen Positionen freiwillig geräumt werden und den
Vertretern der Kapitalinteressen ein noch größerer Spielraum beim Einsatz der
Verfassung in ihrem Sinne gegeben wird. Dort, wo in der Verfassung für die
politische Willkür der Kapitalinteressen Grenzen formuliert sind, müssen die
Sozialisten auf einer Einhaltung dieser Grenzen bestehen. Mit den Hamburger
Beschlüssen und den Einstellungsverboten in Berlin ist diese Grenze jedoch
überschritten.
Zum zweiten: Wenn die Sozialisten die gegenwärtige Auseinandersetzung nur in den Begriffen
einer Machtauseinandersetzung beschreiben, so kann damit vielleicht die Funktion
der Selbstverständigung unter Sozialisten erfüllt werden. Damit liefert man aber
noch keine Argumentation für jemanden, der noch kein Sozialist ist. Dessen
Kritik kann nur geweckt werden, wenn ihm deutlich gemacht wird, dass die
kapitalistischen Kräfte unter Missbrauch der Verfassung versuchen, den Kampf um
die Wirtschaftsordnung in ihrem Sinne zu entscheiden, obwohl gerade die
Wirtschaftsordnung durch die Verfassung nicht festgelegt wurde.
Um diejenigen aufzuklären und zu gewinnen, die sich in der jetzigen
Auseinandersetzung passiv verhalten oder die gar in Verkennung ihrer eigenen
Interessen der Diskriminierung von Sozialisten zustimmen, ist die Ebene der
verfassungsmäßig garantierten Rechte für die Vertretung der eigenen politischen
Vorstellungen wichtig.
Allerdings muss sie mit einer anderen Argumentationsebene
verbunden werden. So wichtig der Kampf gegen eine antisozialistische Verengung
der Grundgesetzinterpretation auch ist, so darf sich die Argumentation
keinesfalls im juristischen Streit um die Auslegung von Verfassungsnormen
erschöpfen. Zugleich muss in die Diskussion der gesamte theoretische Hintergrund
mit
einbezogen werden, das gesamte System der theoretischen Rechtfertigungen und
Begründungen, wodurch sich überhaupt erst die Anerkennbarkeit des im Grundgesetz
formulierten "demokratischen und sozialen Rechtsstaats" ausdrückt. Das bedeutet,
dass die Verfassungsauslegung mit dem Ziel, die Illegalisierung sozialistischer
Organisationen zu verhindern, durch eine Auseinandersetzung um das
zugrundeliegende Demokratieverständnis ergänzt werden muss.
Ein unterentwickeltes demokratisches Bewusstsein auch bei der Mehrheit der
Lohnabhängigen war eine Bedingung dafür, dass in den 50er Jahren das
Bundesverfassungsgericht mit teilweise reaktionärsten Begründungen die KPD
verbieten konnte, ohne dass es zu nennenswerten Erschütterungen der
bundesrepublikanischen Ordnung kam. Die Stoßrichtung der Argumentation muss hier
von Anfang an offensiv sein: Nicht die Sozialisten sind die Gegner einer
demokratischen Bestimmung der Individuen über ihre Lebens- und
Arbeitsbedingungen, sondern die Kapitalbesitzer und ihre politischen Vertreter,
die den Reproduktionszwang der Individuen zum Aufkauf und zur Ausbeutung ihrer
Arbeitskraft benutzen können, und die damit ihre ökonomische und politische Macht
immer weiter ausbauen.
Nicht die Sozialisten verfälschen den Grundsatz, dass alle Gewalt vom Volke
ausgehen soll. sondern die Kapitalbesitzer und ihre Vertreter, die fortlaufend
die größte Propagandamaschine der Geschichte nach den modernsten Erkenntnissen
der Massenbeeinflussung einsetzen, um gerade zu verhindern, dass sich der Wille
des Volkes aufklären, artikulieren und durchsetzen kann.
Wenn etwa die BILD-Zeitung die Sozialisten als "Feinde der Freiheit" abstempeln
will, für die es keine Freiheit geben dürfe, so kann es für Sozialisten nur
lauten, dass wir allerdings jene kapitalistische Karikatur von Freiheit
bekämpfen, die darin besteht, dass eine kleine Schicht die "Freiheit" hat, ohne
die geringste eigene Arbeitsleistung sich den Löwenanteil der Arbeitsprodukte
anzueignen. Die Kapitalbesitzer und ihre Interessenvertreter sind heute dabei,
das Etikett von der "freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung"
wieder aufzupolieren, das seit der Kritik durch die antiautoritäre und
sozialistische Studentenbewegung ziemlich lädiert worden war.
Aber genau das muss verhindert
werden, dass nach dem Muster solcher Augenwischerei die eigentliche
Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus in völlig verdrehter
Form als Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur erscheint, wobei
sinniger Weise das Kapital als Gralshüter demokratischer Prinzipien auftritt und
den Sozialisten der Part der bürgerkriegs- und diktaturlüsternen Fanatiker
zugewiesen wird. Wenn es nicht gelingt, die erneute Mobilisierung dieses
Denkschemas bei der Masse der Lohnabhängigen zu verhindern, so werden die Linken
in Deutschland auch in den kommenden Auseinandersetzungen hoffnungslos
unterlegen sein.
Dies sollten auch diejenigen Genossen bedenken, die -
vorsichtig gesprochen - die "Stalinfrage" noch nicht aufgearbeitet haben und die
ungerührt von allen historischen Erfahrungen sich den politischen
Willensbildungsprozess in der nach-revolutionären Gesellschaft nach dem Muster
vorstellen, dass ihre Partei, die sie "Partei der Arbeiterklasse" nennen,
entscheidet und dass diese Partei deshalb das alleinige Recht zur Entscheidung
besitzt, weil sie eben die Partei der Arbeiterklasse ist. Dass bei diesem Verfahren der demokratische Willensbildungsprozess in der
Arbeiterklasse völlig überflüssig ist, ist unmittelbar einleuchtend. Aber dies
nur am Rande. Die Auseinandersetzung über diese Fragen sollten an anderer Stelle
weitergeführt werden, da es hier um den Kampf gegen die politische Unterdrückung
von Sozialisten im kapitalistischen System geht.
Festzuhalten bleibt, dass es
außerordentlich wichtig ist, in der ideologischen Auseinandersetzung, wie sie an
den verschiedensten Fronten in der Gesellschaft geführt wird, die reaktionäre
und autoritär verfügte Interpretation von Demokratie in die Defensive zu drängen
und einen Begriff von demokratischer Entscheidung herauszuarbeiten, dessen
Grundlage der aufgeklärte Wille der jeweils Betroffenen ist und der auch vor dem
ökonomischen Entscheidungsbereich nicht Halt macht.
Auf die jetzige Situation angewandt folgt aus dem Gesagten, dass wir den
Versuch, die Verbreitung sozialistischer Positionen mit administrativen und
tendenziell polizeilich-juristischen Maßnahmen zu verhindern, jeweils gegen ihre
Urheber wenden, indem wir an diesen Fällen nachweisen, wie heuchlerisch die
demokratische Legitimation ist.
Wenn es uns gelingt, in der politischen
Auseinandersetzung für jedermann sichtbar herauszuarbeiten, wie hier eine
Minderheitsmeinung politisch unterdrückt wird - aus der berechtigten Furcht
heraus, sie könnte eines Tages zur Mehrheitsmeinung werden - dann haben wir der
kapitalistischer Herrschaft langfristig einen schwereren Schlag zugefügt, als es
jede kurzfristige inneruniversitäre Empörung könnte. Denn ohne den schützenden
Schleier des demokratischen Selbstverständnisses wäre das
kapitalistische Wirtschaftssystem der westdeutschen Gesellschaft wohl kaum vor den Augen der Masse der
Lohnabhängigen zu rechtfertigen.
Im Vorangegangenen habe ich versucht, die
Notwendigkeit von zwei Argumentationsebenen herauszuarbeiten, der
verfassungsrechtlichen und der demokratietheoretischen. Diese Argumentationsebenen sind wichtig, weil
dies die Ebenen sind, in denen der gegenwärtige Angriff auf uns vor allem
vorgetragen wird und die unmittelbar die Gefahr der Illegalisierung der
Sozialisten nach sich ziehen können. Das Problem bei dieser Argumentation ist
jedoch, dass damit zwar die in der Öffentlichkeit herrschende
Legitimationsstruktur für diese Gesellschaft in ihrem offiziellen Selbstverständnis,
nämlich als einer rechtsstaatlichen und demokratischen Gesellschaft, getroffen
wird, aber andererseits kann durch diese Argumentation gerade die
Arbeiterschaft nur schwer erreicht werden, weil in ihr verständlicherweise eine
große Distanz zu dem Bereich besteht, den sie als offiziell Politischen erlebt.
Sowohl Auseinandersetzungen um Verfassungsgrundsätze als auch um die Lehr-
und Lernfreiheit für Sozialisten liegen in der jetzigen Situation noch weitgehend außerhalb der
sie vital bewegenden
Ereignisse und Interessen. Bei der großen Masse der gegenüber einem
Konfliktfall wie der Mandel-Ablehnung weitgehend indifferenten Lohnabhängigen
wird es deshalb nicht genügen, auf den verfassungsmäßigen politischen Rechten auch für Sozialisten zu
bestehen und an
sie als Demokraten zu appellieren, sondern hier
stehen wir vor der heute kaum lösbaren Aufgabe, eine Verbindung herzustellen zwischen der
Ablehnung eines sozialistischen Lehrers oder Dozenten mit ihren Interessen als
Lohnabhängige.
Eine Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die sozialistischen Intellektuellen
Arbeitern und Angestellten tatsächlich als Sachwalter ihrer Interessen
wahrgenommen werden, d.h. als jemand, der von ihren Problemen ausgeht
und sie im Kampf um die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen
unterstützt. Von einer solchen Verbindung zwischen sozialistischen
Intellektuellen und der Masse der Lohnabhängigen sind wir heute noch weit
entfernt.
Eine entscheidende Bedingung dafür, dass diese Isolierung durchbrochen
wird, ist jedoch das begründete Vertrauen der Arbeiter und Angestellten, dass die
sozialistischen Intellektuellen von heute nicht die Bürokraten und Autokraten
von morgen sind.
Um mit einem Satz von Rosa Luxemburg zu schließen: "Wir
unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen
Demokratie, wir enthüllen stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und
Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit - nicht
um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich
nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um
sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen."
***
Marxistische Staatstheorie und politische Demokratie
(1976)
Inhalt:
Das Ausgangsproblem
Die klassentheoretische Erklärung des Entstehens politischer Demokratie
Die "kapitallogische" Erklärung der
Entstehung politischer Demokratie
Die Bewertung politischer Demokratie in der marxistischen
Staatstheorie
Textanfang
Das Ausgangsproblem
Wenn man die Stellungnahmen verschiedener in der marxistischen Tradition
stehender Autoren zur politischen Demokratie betrachtet (worunter im Folgenden
ein politisches System verstanden werden soll, in dem gesetzgebende Körperschaft
und Regierung aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen bei gleichzeitiger
Koalitions- und Meinungsfreiheit), so fällt sofort eine eigenartige Ambivalenz
ins Auge: einerseits gibt es Positionen, die ein solches System politischer
Willensbildung als bloß "formal", oder auch "bürgerlich", abqualifizieren, aber
andererseits gibt es auch Positionen, die in der politischen Demokratie eine
historische Errungenschaft sehen, ohne die kein wirklicher Sozialismus denkbar
ist.
Exemplarisch werden diese zum Teil diametral entgegen gesetzten Auffassungen
etwa bei Einschätzungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik. (Siehe dazu und
zum Folgenden: Thomas Blanke: Das Dilemma der verfassungspolitischen Diskussion
der Linken in der Bundesrepublik, in: Rottleuthner, Hubert, Hrsg., Probleme der
marxistischen Rechtstheorie, Frankfurt a. M. Suhrkamp 1975, S. 419-483. Hier findet
sich eine zusammenfassende Erörterung des Diskussionsstandes.)
Diese Ambivalenz wirkt sich auch in konkreten politischen Auseinandersetzungen
aus. So stellt sich in Bezug auf den Kampf gegen Berufsverbote die Frage: Ist man gegen die Berufsverbote, weil man Demokrat
ist und sich gegen jede Verfolgung politischer Meinungen durch die staatliche
Exekutive wendet, oder ist man deswegen dagegen, weil die eigene politische
Bewegung davon betroffen ist, und beruft man sich auf die verfassungsmäßig
garantierten demokratischen Prinzipien nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit?
Es ist zu vermuten, dass diese Ambivalenz gegenüber der politischen Demokratie
nicht bloß zufällig ist, sondern mit bestimmten Grundzügen der marxistischen
Theorie überhaupt zusammenhängt. lm Folgenden sollen einige zentrale
Theorieelemente auf ihre rechts- und demokratietheoretischen Implikationen hin
analysiert werden, um zu einer größeren Klarheit über die grundsätzlichen
Probleme zu gelangen.
Maßgebend für die Stellung der marxistischen Theorie zu den Phänomenen "Staat",
"Recht" und "politische Demokratie" ist ihr Selbstverständnis als
materialistische Theorie. Kernsätze wie der, dass das "gesellschaftliche Sein
das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt" oder dass die "ökonomische Basis
den Überbau wie Religion, Staat, Recht, Moral usw. bestimmt", sind der
gemeinsame Ausgangspunkt für alle marxistischen Theorieansätze.
Diese materialistischen Theoreme sind jedoch keineswegs so eindeutig, wie sie
auf den ersten Blick scheinen, denn sie lassen sich auf die verschiedenste Weise
interpretieren, je nachdem wie man "gesellschaftliches Sein" und "Bewusstsein"
definiert und wie man die Art der Abhängigkeit zwischen beiden bestimmt.
Im Folgenden soll nun für zwei häufig zu findende Interpretationen des
Basis-Überbau-Verhältnisses, die klassentheoretische und die kapitallogische,
gefragt werden, wie sich mit ihrer Hilfe die Existenz politischer Demokratie
einerseits erklären und andererseits rechtfertigen lässt.
Die klassentheoretische Erklärung des Entstehens politischer Demokratie
Die klassentheoretische Interpretation des Basis-Überbau-Verhältnisses findet
sich praktisch bei allen marxistischen Ansätzen. Danach bestimmen sich die
Gesellschaftsklassen durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu den
Produktionsmitteln und durch die unterschiedliche Aneignung des
gesellschaftlichen Mehrprodukts. Diejenige Klasse, in deren Besitz sich die
Produktionsmittel befinden und die sich das Mehrprodukt aneignet, ist
definitionsgemäß die ökonomisch herrschende Klasse.
Die Theorie besagt nun, dass die ökonomisch herrschende Klasse zugleich auch die
politisch herrschende Klasse ist: Staat und Recht sind dabei Instrumente ihrer
Klassenherrschaft.
Für eine derartige klassentheoretische Interpretation, die den Staat als
Unterdrückungsinstrument der jeweils ökonomisch herrschenden Klassen ansieht,
ergeben sich aus der Existenz demokratisch verfasster kapitalistischer
Gesellschaften gewisse Schwierigkeiten, denn es ist uneinsichtig, warum die
ökonomisch herrschende Klasse den ausgebeuteten Klassen gleiches Wahlrecht bei
der Bestellung der Regierung zugestehen sollte, zumal die letzteren zahlenmäßig
bei weitem überlegen sind.
Um dieses Paradox aufzulösen, wird die klassentheoretische Interpretation durch
zusätzliche Annahmen modifiziert und verfeinert. Eine Möglichkeit hierzu ist
die These, dass politische Demokratie unter kapitalistischen Verhältnissen nur scheinhaft ist. Selbst wo politische Demokratie formal garantiert sei - z. B.
durch die Kandidatur sozialistischer oder kommunistischer Parteien und durch die
geheime Abstimmung -, werde durch die verschiedensten Mechanismen verhindert, dass
die Mitglieder der ausgebeuteten Klassen ihrem wirklichen Interesse entsprechend
wählen und eine Regierung sowie eine gesetzgebende Körperschaft einsetzen, die
die herrschende Klasse enteignet.
Solche theoretischen Versuche müssen damit immer auf eine Manipulationsthese
hinauslaufen, die erklärt, warum die Ausgebeuteten nicht für die Abschaffung
ihrer Ausbeutung stimmen, obwohl sie dies formal könnten.
So wichtig eine derartige Manipulationsthese auch für sich genommen sein mag, so
problematisch ist sie jedoch für das Basis-Überbau-Theorem, denn die
Manipulationsthese besagt ja nichts geringeres, als dass das Bewusstsein der
Lohnarbeiterklasse gerade nicht durch ihr gesellschaftliches Sein in Gestalt
ihrer Klassenlage bestimmt wird, das sie also kein "Klassenbewusstsein"
besitzen. Wenn die Manipulationsthese erklären will, warum die Klasse nicht als
Klasse agiert, so ist damit die Aussagekraft der Klassentheorie selber in Frage
gestellt.
Eine andere Modifikation der These vom Staat als Herrschaftsinstrument der
jeweils besitzenden Klasse besteht darin, dass man die einfache
Gegenüberstellung von "herrschender" und "unterdrückter" Klasse insofern
erweitert, als man die Möglichkeit quantitativ abstufbarer Kräfteverhältnisse
zwischen den Klassen einführt.
Die politische Herrschaft der besitzenden Klasse muss dann nicht unbeschränkt
seien, denn je nach der politischen Stärke der ausgebeuteten Klasse müssen deren
Interessen mehr oder weniger mitberücksichtigt werden. Die tatsächliche Politik
ist dann nicht mehr einfach Ausdruck der kollektiven Interessen der besitzenden
Klassen, sondern eine Resultante des jeweiligen politischen Kräfteverhältnisses.
Dadurch kann die Einführung von Elementen politischer Demokratie – wie z. B. das
gleiche Stimmrecht für Arbeiter und die Koalitionsfreiheit auch für
sozialistische Parteien – klassentheoretisch als Errungenschaft der
Arbeiterbewegung interpretiert werden, die gegen den Willen der
Kapitalistenklasse erkämpft wurde.
Allerdings ist auch eine solche Modifikation der klassentheoretischen
Interpretation des Basis–Überbau-Verhältnisses nicht unproblematisch für das
theoretische Gebäude selber. Wenn nämlich nicht zugleich eine quantitative
Obergrenze für den möglichen Einfluss der ausgebeuteten Klasse auf die
staatliche Politik gegeben werden kann, so löst sich die These vom Staat als
Instrument der herrschenden Klasse in nichts auf, da der Staat dann unter
Umständen auch zum Instrument der ökonomisch unterdrückten Klasse werden kann.
In beiden Modifikationsversuchen einer klassentheoretischen Erklärung für die
Entwicklung politischer Demokratie in kapitalistischen Gesellschaften treten
also neue theoretische Schwierigkeiten auf.
Die "kapitallogische" Erklärung der
Entstehung politischer Demokratie
In jüngster Zeit wurde eine andere Interpretation des
Basis-Überbau-Verhältnisses schwerpunktmäßig diskutiert, die man als "kapitallogische" Interpretation bezeichnen kann. (Zur Literatur siehe den oben
genannten Aufsatz von Thomas Blanke.) Mit der gleichen Methode, wie Marx aus dem
Begriff der Ware das Geld und das Kapital entwickelt, sollen auch andere
Überbauphänomene wie z. B. das Klassenbewusstsein oder der bürgerlicher Staat
aus dem Kapitalbegriff bzw. den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung
entwickelt oder
abgeleitet werden, wie es heißt.
Gegenstand der Ableitung sollen dabei Form und Funktion des bürgerlichen Staates
sein, d. h. dass damit auch der Anspruch erhoben wird, die Form der politischen Demokratie aus
dem Kapitalverhältnis zu erklären.
Dies wird vor allem über eine vermeintliche Strukturanalogie zwischen
Warentausch und politischer Demokratie versucht. Demnach wurzeln die demokratischen Prinzipien
"Freiheit" und "Gleichheit" in der Struktur
des Warentausches.
Dies wird folgendermaßen begründet:
Die Warenzirkulation setzt "Freiheit" insofern voraus, als der Warenbesitzer
unabhängig vom Willen anderer über sein Eigentum frei verfügen können muss und
als Rechtssubjekt "freiwillige" Tauschverträge abschließen können muss. "Gleichheit" ist in der Warenzirkulation insofern vorausgesetzt, als für den
Tauschakt gleichgültig ist, wer eine Ware anbietet; es kommt allein auf die Ware
und auf ihren Tauschwert an, und insofern sind alle Warenbesitzer
gleichgestellt.
Der ungehinderte Warenaustausch setzt also Erwerbs- bzw. Vertragsfreiheit voraus
und die Gleichsetzung der Individuen in ihrer Rolle als Eigentümer und
geschäftsfähige Rechtssubjekte. Damit ist zugleich auch eine gewisse
Rechtssicherheit und der Schutz vor Eingriffen Dritter in die Tauschgeschäfte
der Eigentümer impliziert.
Aus diesen Rechtsverhältnissen ergibt sich als Staatsform jedoch höchstens ein
konstitutioneller Rechtsstaat als Garant der Tauschverträge, nicht jedoch eine
politische Demokratie, in der gesetzgebende Körperschaft und Regierung aus
freien und gleichen Wahlen hervorgehen.
Dies entspricht auch der tatsächlichen
historischen Entwicklung, denn das allgemeine und gleiche Wahlrecht wurde in den
meisten kapitalistischen Ländern erst sehr spät nach dem 1.Weltkrieg eingeführt.
Die demokratische "Freiheit" und "Gleichheit" der Staatsbürger ist in der Tat
von anderer Art als die '"Freiheit" und "Gleichheit" der Eigentümer. Gleiches
Eigentumsrecht findet gerade auf der Basis ungleichen Eigentums statt, während
gleiches Stimmrecht für jeden eine Stimme bedeutet. Freiheit des Eigentümers ist
Freiheit des Handelns, allerdings nur innerhalb der individuellen
Eigentumssphäre, während die Freiheit des Staatsbürgers und Wählers eine
Freiheit der Interessenvertretung ist, die nicht auf Eigentumssphären beschränkt
bleibt, deren Verwirklichung jedoch an eine Mehrheitsbildung gebunden ist.
Freiheit und Gleichheit bedeuten also bei Tauschvorgängen und bei Abstimmungen
völlig verschiedenes, und insofern sind Tauschprinzip und Mehrheitsprinzip nicht
analog strukturiert, sondern sie schließen einander im Gegenteil aus, wenn sie
auf den gleichen Entscheidungsbereich angewandt werden.
Was aus dem allgemeinen "Begriff des Kapitals" an Funktionen und Formen des
Staates abgeleitet werden können, bezieht sich gerade nicht auf die Form der
politischen Demokratie. Deshalb ist es problematisch, im Falle eines demokratisch
verfassten Staates undifferenziert von einem "bürgerlichen Staat" im Sinne eines "Staates der Bourgeoisie" bzw. von einer "bürgerlichen Demokratie"
im Sinne einer "Demokratie der bürgerlichen Klasse" zu sprechen.
Dies wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die Eigentumsordnung der
demokratischen Entscheidung z. B. durch Verfassungsgrundsatz entzogen wäre. In
allen anderen Fällen ist die Koexistenz kapitalistischer Eigentumsverhältnisse
und politischer Demokratie ein eher prekäres Verhältnis, das sich weder aus den
Interessen der ökonomisch herrschenden Klasse noch aus der Logik des
Kapitalbegriffs mit irgendeiner Notwendigkeit ergibt.
Die Bewertung politischer Demokratie in der marxistischen Staatstheorie
Im Vorangegangenen wurden zwei marxistische Ansätze zur Erklärung des
Entstehens demokratisch verfasster kapitalistischer Staaten kurz analysiert. Im
Folgenden soll nun nicht nach Erklärungen gefragt werden, die zeigen, warum es
so ist, wie es ist, sondern es soll nach der Bewertung der politischen
Demokratie gefragt werden, die sich aus marxistischen Theorieansätzen ergibt.
Bewertungen bejahen bzw. verneinen bestimmte Sachverhalte und sind insofern handlungsleitend, als in ihnen Zielsetzungen formuliert werden.
Die Frage, wie in der marxistischen Theorie die politische Demokratie im oben
präzisierten Sinn bewertet wird, d. h. ob und wenn ja in welcher Weise
politische Demokratie eine sich aus der marxistischen Theorie ergebende
politische Zielsetzung darstellt, ist aus verschiedenen Gründen nicht einfach zu
beantworten. Einer der entscheidenden Gründe hierfür ist die bewusste
Enthaltsamkeit, die Marx selber in Bezug auf die Formulierung politischer und
ökonomischer Wertungen und Zielsetzungen für erforderlich hielt, die Engels dann
auf die Formel gebracht hat, dass durch Marx der Sozialismus von einer Utopie
zu einer Wissenschaft geworden sei.
Marx wollte eine Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft schaffen,
ähnlich etwa wie Darwin eine wissenschaftliche Theorie über die Entstehung und
Entwicklung der biologischen Arten geschaffen hatte.
Marx wollte nicht die bestehenden Verhältnisse anklagen
oder positive Zielsetzungen proklamieren, sondern er wollte die Ursache und
Tendenzen der tatsächlichen sozialen Entwicklung aufdecken. Dabei ergab sich
jedoch als Resultat seiner Analyse des Kapitalismus die Tendenz zu sich
verschärfenden ökonomischen Krisen, zur Polarisierung der sozialen Klassen und
damit letztlich zum Untergang der kapitalistischen Produktionsweise.
Die reale historische Entwicklung hin zu einer klassenlosen Gesellschaft fällt bei Marx
mit der positiven Programmatik einer klassenlosen Gesellschaft zusammen, so dass
es sich erübrigt, die angestrebten gesellschaftlichen Verhältnisse zu präzisieren. Zielvorstellungen ökonomischer
oder politische Art finden sich dem zu Folge in den von Marx zu seinen
Lebzeiten veröffentlichten Schriften höchstens in Nebenbemerkungen.
Allerdings ist der Verzicht auf die Formulierung
politischer Werturteile und Zielsetzungen schon bei Marx keineswegs strikt
durchgehalten, und auf Basis der marxschen Theorie sind zum Teil vehemente
Anklagen erhoben worden. Dies wird vor allem dadurch begünstigt, dass
zentrale Begriffe der Marxschen Analyse wie z. B. "Ausbeutung", "Klassenherrschaft"
oder "Entfremdung" nicht nur eine deskriptive Bedeutung haben, also einen
bestimmten Tatbestand bezeichnen, sondern zugleich ein hochgradig wertendes
Moment enthalten. Bei den Begriffen "Ausbeutung", "Klassenherrschaft" und "Entfremdung"
ist immer zugleich die Forderung nach ihrer Abschaffung und ihre negative
Bewertung mitgedacht.
Allerdings bleiben diese wertenden bzw. normativen Elemente
implizit und es wird auch von den meisten marxistischen Theoretikern abgelehnt,
überhaupt zwischen positiven und normativen Theorieelementen analytisch zu differenzieren.
Die methodologische Unterscheidung von Behauptungen, die auf der Ebene des Seins
liegen (Beschreibungen, Erklärungen usw.) und Behauptungen, die auf der
Ebene des Sollens liegen (Werturteile, Normensätze u. ä.) wird gewöhnlich nicht
akzeptiert.
Trotz dieser Schwierigkeiten soll der Versuch gemacht
werden, nach der Bewertung der politischen Demokratie durch die marxistische
Theorie zu fragen, und die spezifisch marxistische Verbindung von Erklärung und
Bewertung in diesem Zusammenhang näher zu analysieren.
Eine der wichtigsten Argumentationsfiguren, mit deren
Hilfe der Übergang von der Analyse des Gegenstand zu seiner (negativen)
Bewertung vollzogen wird, ist der Nachweis, dass ein Phänomen seinen Ursprung in
den kapitalistischen Produktionsverhältnisse hat bzw. der Aufrechterhaltung
dieser Verhältnisse dient. Phänomene, die auf Grund ihres Ursprungs oder ihrer
Funktion das Attribut "bürgerlich" zugesprochen bekommen – sei es als "bürgerliche Wissenschaft", "bürgerliche Kunst", "bürgerlicher Staat", "bürgerliches Recht" oder "bürgerliche Demokratie" – verfallen
damit der gleichen Kritik wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse
selber.
Die Frage, ob die politische Demokratie in einem kausallogisch oder begrifflich-dialektisch notwendigen Zusammenhang zum
kapitalistischen Systems steht, ist in vorangegangenen Überlegungen bereits
beantwortet worden, so dass die Kennzeichnung der oben skizzierten politischen
Demokratie als "bürgerliche Demokratie" theoretisch nicht gerechtfertigt ist.
Die bloße Tatsache, dass sich Formen politischer Demokratie in kapitalistischen
Gesellschaften – übrigens nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und auch
keineswegs durchgängig – herausgebildet haben, ist als solche eben kein Beweis
für deren" bürgerlichen" Charakter, ebenso wenig wie die Arbeiterbewegung "bürgerlich" ist, weil sie sich in kapitalistischen Gesellschaften
herausgebildet hat.
Auch der Vorwurf gegen die politische Demokratie, dass sie
die ökonomische Klassenstruktur durch den Anschein von Freiheit und Gleichheit
verschleiere und insofern "bürgerliche Demokratie" sei, zäumt das Pferd vom
Schwanz auf. Nicht die Existenz politischer Demokratie bewirkt die
Verschleierung, sondern die Verschleierung muss bereits in den Köpfen der
Individuen sein, damit diese in freien Wahlen pro-kapitalistisch wählen.
Dabei
wäre noch zu prüfen, inwiefern sich ein solches Wahlverhalten nicht nur aufgrund
einer "Verschleierung" ergibt, sondern auch aus dem Verlust einer positiven
sozialistischen Zukunftsperspektiven und aus dem Fehlen einer fassbaren
sozialistischen Alternative.
Wenn sich in einer politischen Demokratie pro-kapitalistische
Mehrheiten ergeben, so muss das noch nicht gegen die politische Demokratie
sprechen. Es kann vielmehr auch gegen die Sozialisten bzw. gegen die
Attraktivität ihres politischen Programms sprechen.
Wenn sich politische Demokratie nicht als "kapitalistisch" oder "bürgerlich" identifizieren lässt, so stellt sich die Frage, wie sie im
Rahmen der marxistischen Theorie dann bewertet werden kann. Verschiedene
Argumentationsmuster sollen hier einmal kurz skizziert und analysiert werden.
Eine gebräuchliche Denkfigur ist die Konzeption der "historischer Errungenschaften".
Dabei wird die Geschichte der Menschheit als ein
Fortschrittsprozess gedeutet, der sich durch die einander ablösenden
Gesellschaftsformationen und Revolutionen stetig hindurch aufbaut.
An diesem historischen Fortschritt haben auch solche
Klassen ihren Anteil, die zu einem späteren Zeitpunkt reaktionär und
fortschrittshemmend werden. So ist nach diesem Verständnis zum Beispiel die
Entwicklung der Produktivkräfte und der Wissenschaft ein "historisches
Verdienst" der aufstrebenden Bourgeoisie, d. h. dass Wissenschaft und Technik
historische Errungenschaften sind, die auch nach dem Untergang des Kapitalismus
erhalten bleiben.
In ähnlicher Weise könnte man auch die politische
Demokratie als historische Errungenschaft deuten, die zwar in der Epoche des
Kapitalismus entstanden ist, mit diesen jedoch nicht untergehen soll.
Das Problem bei dieser Betrachtungsweise ist jedoch, dass
man ein Kriterium benötigt, um zu unterscheiden, was eine "historische Errungenschaft" bzw. was "fortschrittlich" ist und was
nicht. Dies Kriterium lässt sich jedoch nicht aus Analyse der tatsächlichen
historischen Entwicklung gewinnen, denn es gibt natürlich auch historische
Tendenzen, die gerade zu bekämpfen sind – zum Beispiel bestimmte Formen der
Bürokratisierung, der Arbeitsteilung oder der Umweltzerstörung.
Daraus folgt, dass man sich nicht auf einen historischen Optimismus verlassen kann, der die tatsächliche historische Entwicklung mit
Fortschritt gleichsetzt, sondern dass man sich explizit die Frage vorlegen muss
nach den Kriterien für die Bewertung politischer Demokratie. Das bedeutet, dass
sich ohne eine normative Rechts- bzw. Sozialphilosophie derartige
Bewertungsfragen nicht lösen lassen.
Ein anderer Versuch, auf marxistischer Grundlage eine
Bewertung politischer Demokratie vorzunehmen, beruht auf der Feststellung, dass
diese für den politischen Kampf der Arbeiterklasse förderlich ist. So gibt es
zum Beispiel die Auffassung, dass politische Demokratie zumindest in
kapitalistischen Gesellschaften zu bejahen ist, weil sie der eigenen
sozialistischen Politik den größten Spielraum lässt.
Eine solche Rechtfertigung kann jedoch höchstens für
diejenigen ein Argument sein, an deren Vorteil hier appelliert wird, also für
Angehörige der sozialistischen Bewegung selber. (Außerdem ist eine solche
Zweckmäßigkeitsüberlegung immer an eine bestimmte Situation gebunden, so dass
eine solche Rechtfertigung politischer Demokratie zum Beispiel ohne weiteres mit
der Auffassung vereinbar ist, dass eine derartige politische Demokratie in einer
sozialistischen Gesellschaft nicht notwendig ist, da dort die kommunistische
Partei aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über die richtige Politik
entscheidet.)
Wenn politische Demokratie in dieser Weise als geeignetes
Mittel zum Zweck gerechtfertigt wird, so muss die Richtigkeit des Zweckes, in
diesem Fall die sozialistische Umwälzung der Produktionsverhältnisse, immer
schon vorausgesetzt werden. Die Rechtfertigung des Sozialismus als einer - gegenüber den
bestehenden kapitalistischen Verhältnissen - besseren Gesellschaftsordnung kann
aber wiederum nur von einer normativen Sozialphilosophie geleistet werden. Kein
Determinismus historischer Gesetzmäßigkeiten nimmt uns die Entscheidung darüber
ab, wofür und wogegen wir in einer gegebenen historischen Situation uns
einsetzen sollen.
***
Kritik der Thesen zur marxistischen Rechtstheorie von O. Negt
(1976)
Anhang: Zur Kritik am "ahistorischen Vorgehen" der normativen Rechtstheorie
***
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die These, dass sich im Zusammenhang
politischen Handelns notwendig Fragen stellen wie die Folgenden:
- ob ein bestimmtes Handeln positiv oder negativ zu bewerten ist;
- ob ein bestimmter sozialer Zustand ein erstrebenswertes Ziel ist oder
nicht;
- ob eine bestimmte ethische oder rechtliche Norm zu bejahen oder
abzulehnen ist;
- ob sich eine bestimmte soziale Ordnung vernünftig rechtfertigen lässt
oder nicht.
Solche Fragen, die die Bewertung, Kritik oder Normierung sozialer
Sachverhalte zum Gegenstand haben, kann man als "normative" Fragen bezeichnen, insofern sie
direkt oder indirekt menschliches Handeln und Entscheiden anleiten bzw.
normieren. (Zum logischen und erkenntnistheoretischen Status von Werturteilen
und Normen s. z. B. den Beitrag von Rottleuthner in ders.: 1975. Die
angegebenen Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden auf diesen Sammelband, in
dem auch die Thesen von Negt enthalten sind.)
Wenn man zugesteht, dass sich solche normativen Fragen tatsächlich stellen und
dass sie außerdem weder irrelevant noch sinnlos sind, so erhebt sich für die
verschiedenen Rechtstheorien die Frage, auf welche Weise sie diese normativen
Fragen beantworten. Im Folgenden soll die Konzeption Oskar Negts daraufhin
untersucht werden.
Vorweg ist festzustellen, dass eine Analyse des Negtschen Textes nicht einfach
ist, da er in seinen Thesen nicht systematisch im Sinne eines logisch geordneten
Aufbaus seiner Behauptungen argumentiert. Er bezieht sich außerdem auf einen
nicht näher geklärten Traditionsbestand marxistischer Theorie, ohne dabei die
jeweiligen philosophisch-methodologischen Grundlagen noch einmal ausdrücklich zu
reflektieren.
Hinzukommt, dass Negt nicht klärt, wie sich für ihn die verschiedenen
Erkenntnisebenen einer Theorie des Rechts zueinander erkenntnistheoretisch
verhalten. Generell scheint Negt den Bemühungen um eine normative Rechtstheorie
eher ablehnend gegenüberzustehen, was deutlich wird, wenn er von den "heutzutage
wieder wie Pilze aus dem Boden schießenden Ansätzen zur philosophischen
Überwindung des Gesetzespositivismus" (S.1) spricht. An anderer Stelle bezieht
er sich zustimmend auf Engels, wenn dieser sich "mit Entschiedenheit dagegen
(wendet), eine von der Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus
abgetrennte Rechtsphilosophie aus dem Parteiprogramm der Arbeiterklasse zu
entwickeln." (S.36).
Es erhebt sich also die Frage, in welcher Weise Negt die oben skizzierten
normativen Fragestellungen rechtstheoretisch zu beantworten gedenkt. Dazu müssen
zuerst die eher verstreut sich findenden Bemerkungen hierzu
systematisch rekonstruiert werden.
Zur Methode der Rechtstheorie finden sich verschiedene Äußerungen. Zum einen
muss nach Negt "historisch" vorgegangen werden, denn Negt wendet sich mehrfach
gegen den "geschichtslosen Rahmen" und die "scheinbar geschichtslosen
Vernunftpostulate" nicht-marxistischer Rechtsphilosophien. Zum andern muss die
Methode "materialistisch" sein. Es gilt "den materiellen Grund (festzulegen),
auf den die Dialektik von Genesis und Geltung der Rechtsnormen ... zwangsläufig
zurückgeht." Die Gefahr liegt für Negt "in jeder Abtrennung des normativen Gehalts des
Rechts von seiner gesellschaftlichen Genesis. Produktion und Produktionsweise
sind die Kategorien der Realität, die diesen Ausgangs- und Bezugspunkt
bezeichnen." (S.42)
Negt demonstriert die Verfahrensweise einer derartigen historischen und
materialistischen Rechtstheorie am Begriff der Gerechtigkeit. Ausgangspunkt
ist ein Zitat von Marx, der schreibt: "Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die
zwischen den Produktionsagenten vorgehen, beruht darauf, dass diese
Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz
entspringen. ... Sklaverei, auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise,
ist ungerecht; ebenso der Betrug auf die Qualität der Ware." (S.42f.) Negt zieht
aus diesem Zitat den Schluss, dass die Produktionsweise der Maßstab für die
Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse als "gerecht" und "ungerecht" ist.
Das bedeutet, dass der Begriff "Gerechtigkeit" auf die jeweilige
Produktionsweise und ihre Systemlogik relativiert wird. Offensichtlich handelt
es sich für Negt hier um eine Aussage über die faktische Gebundenheit von
Gerechtigkeitsvorstellungen an die Bedingungen der jeweiligen Produktionsweise.
Entsprechend argumentiert er auch mit dem faktischen Hinweis, dass es "in Rom
... niemand als ungerecht (empfand), den Sklaven als rechtloses instrumentum
vocale zu bezeichnen." (S.44).
Wie man sieht, gibt sich Negt realistisch-nüchtern in Bezug auf irgendwelche
Gerechtigkeitsforderungen und verengt den Begriff "gerecht" auf "systemgerecht".
Die Kritik einer ganzen Produktionsweise als ungerecht will er damit
ausschließen, wobei noch unklar ist, ob er damit meint, dass solche
systemtranszendenten Vorstellungen von Gerechtigkeit faktisch nicht existieren, oder
ob er solche Gerechtigkeitsvorstellungen nur für unzulässig hält.
Die großen politischen Gefahren einer derartigen Verengung des
Gerechtigkeitsbegriffs scheinen jedoch Negt letztlich selber bewusst geworden zu
sein, denn im letzten Absatz des entsprechenden Abschnitts hält er sich
plötzlich selber nicht mehr an seine historische Relativierung. Unvermittelt
kommen Maßstäbe von Gerechtigkeit zum Vorschein, die es ihm erlauben, bei der
Ablösung der einen Produktionsweise durch eine andere diese danach zu befragen,
ob sie "ein Mehr an materieller Gerechtigkeit" verbürgt (S.44). Plötzlich
bedient sich Negt eines Gerechtigkeitsbegriffs, von dem her bestimmte
historische Entwicklungen als "Rückfall in objektiv überflüssig gewordene
Gewalt" (S.44) verurteilt werden können.
Die zuvor beschworene "Dialektik von Genesis und Geltung der Rechtsnormen"
stellt sich damit bei genauerem Hinsehen als eine rechtstheoretische Position
dar, die weder in Bezug auf die Entstehung
noch auf die Geltung wissenschaftlichen Standards gerecht wird.
Was die Genese von Gerechtigkeitsvorstellungen betrifft und ihre behauptete Gebundenheit an
die jeweils bestehende Produktionsweise, so ist dies in dieser Allgemeinheit schlicht
falsch, denn z. B. war und ist die Verurteilung der kapitalistischen Produktionsweise als
ungerecht in der politisch aktiven Arbeiterschaft
verbreitet.
Was die Geltung von Gerechtigkeitsvorstellungen betrifft, so kulminiert die Negtsche
Position im unvermittelten Einbringen materialer
Gerechtigkeitsvorstellungen, die eigentlich eine ganze normative
Rechtsphilosophie voraussetzen, ohne dass sich Negt aber dieser Mühe je unterzogen
hätte.
Negts apodiktischer Stil in Bezug auf normative Fragen wird auch daran
deutlich, dass er in seiner letzten (!) These ohne viel
historisch-materialistische Umstände fordert, "alle Verhältnisse umzustürzen, in
denen der Mensch ein erniedrigtes und ausgebeutetes Leben zu führen gezwungen
ist" (S.58).
Diese Forderung mag richtig sein, aber ohne jede inhaltliche Präzisierung und
argumentative Begründung ist es eine Parole aber keine Rechtstheorie.
In
ähnlich unvermittelter Weise führt Negt auch seine sonstigen normativen
Vorstellungen ein, die vor allem um den Begriff der "Selbstverwaltung" kreisen. Negt
liefert hierfür weniger eine erkenntnistheoretisch reflektierte Begründung, wie es die von ihm abgelehnten Rechtsphilosophien zumindest versuchen,
sondern er präsentiert stattdessen nur eine Vielzahl austauschbarer Formulierungen wie "Selbstregulierung", "Autonomie", "Selbstverwirklichung der Subjekte", "freie
Assoziation" etc., die offenbar für sich selber sprechen.
Das Fehlen einer erkenntnistheoretischen Reflexion der normativen Fragestellung
durch Negt wirkt sich auch negativ auf die Beurteilung konkreter historischer
Entwicklungen aus, wie im Folgenden am Beispiel seiner Einschätzung der sowjetischen
Entwicklung verdeutlicht werden soll.
Da Negt keine Kriterien dafür entwickelt, wo "notwendige Gewalt" aufhört
und wo "überflüssige Gewalt" anfängt, beschränkt sich seine Kritik darauf,
dass die Perspektive vom Absterben der Rechtsform aufgegeben wurde. Und in einer
für einen Verfechter der Selbstverwaltung seltsam
unkritischen Berufung auf Lenin und den frühen Lukacs werden für Negt Partei
und Staat unversehens zu Repräsentanten des Allgemeininteresses: "Rechtsverhältnisse sind unter den Anfangsbedingungen der nachrevolutionären
Gesellschaft vor allem notwendig, um den Widerspruch zwischen den privaten
Interessen und Bedürfnissen der Menschen und dem von der Partei und dem
proletarischen Staat repräsentierten Allgemeininteresse zu lösen." (S.19)
Unversehens taucht hier der zentrale Begriff jeder normativen Staats- und
Rechtstheorie auf, der Begriff des "Allgemeininteresses",
ohne den offensichtlich auch Negt nicht auszukommen scheint, wo es um die
Rechtfertigung staatlicher Machtausübung geht. Problematisch ist dabei, dass er
derart zentrale normative Positionen eher beiläufig einfließen lässt und sie
damit einer offenen, gründlichen Diskussion entzieht. Negt unterlässt das, was
man von jeder einigermaßen reflektierten normativen Staatstheorie verlangen
muss, nämlich seinen Begriff des Allgemeininteresses näher auszuführen und zu
begründen. Anstatt diesen Begriff als Blankoscheck für jede staatliche
Unterdrückung ungeklärt stehen zu lassen, hätte er fragen müssen: Wie lassen
sich die Interessen der Individuen bestimmen? Wie verhält sich das
Allgemeininteresse zu den individuellen Interessen und wie lässt es sich
bestimmen? Unter welchen Bedingungen kann ein Staat oder eine Partei
Repräsentant des Allgemeininteresses sein? Hier liegen die brisanten Fragen
jeder normativen Staats- und Rechtstheorie, die Negt zwar fortlaufend irgendwie
für sich entscheidet, ohne dass er sie jedoch jemals systematisch angegangen
ist.
Entsprechend ist der Vorwurf, den Negt gegenüber der Stalinschen Politik erhebt,
dann auch nicht der, dass tatsächlich "überflüssige", nicht zu rechtfertigende
Gewalt ausgeübt wurde; zu kritisieren ist allein, dass das Maß notwendiger
Gewalt gegenüber den eigenen Klassenindividuen nicht mehr offen ausgesprochen
wurde, sondern "unter dem Schleier der Anwendung revolutionärer Legalität durch
die Arbeiterklasse gegenüber konterrevolutionären Kräften verdeckt ist." (S.22).
Falsch war also nicht die Politik Stalins sondern nur deren mangelhafte Begründung.
Demgegenüber ist jedoch zu fragen, ob nicht schon in der Parteitheorie Lenins
und des frühen Lukacs, auf die Negt sich beruft, die Möglichkeit der Stalinschen
Repression angelegt ist, ob diese Parteitheorie nicht ein geradezu ideales
apologetisches Instrument für die Stalinsche Politik darstellte. Denn wenn die
Partei bzw. der von ihre gesteuerte Staat Repräsentant des Klasseninteresses bzw. des
Allgemeininteresses ist, so stellen alle mit der Politik der Partei
unvereinbaren Interessen private Abweichungen der Individuen vom
Klasseninteresse dar, wogegen nach Lukacs "das Proletariat die Diktatur auch auf
sich selbst" anwenden muss. (S.22).
Die Frage, unter welchen Bedingungen denn die Partei Repräsentant des
Klasseninteresses ist, diese politisch zentrale Frage, mit der alles weitere
steht und fällt, wird von Negt nicht mehr diskutiert.
Es bleibt übrigens rätselhaft, wie Negt als Vertreter einer
Selbstverwaltungskonzeption zugleich implizit die Parteitheorie Lenins und des
frühen Lukacs vertreten kann. Für beide sind – zugespitzt gesprochen - die
vorhandenen Interessen der einzelnen Arbeiter vielleicht eine zu
berücksichtigende reale Größe, aber für die Bestimmung des Klasseninteresses und
damit für die Zielbestimmung der Politik sind sie letztlich irrelevant. (S. etwa
Georg Lukacs: "Klassenbewusstsein" in: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin
1923, S.57ff.) Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Wo die Partei als solche
zum Repräsentanten des Klassen- bzw. Allgemeininteresses erklärt wird, müssen
alle anderen Formen des politischen Willensbildungsprozesses bloße Fassade
bleiben - und seien es auf dem Papier auch autonome Räterepubliken.
***
Zur Kritik am "ahistorischen Vorgehen" der normativen Rechtstheorie
(1977)
Es gehört heute zu den philosophischen Allgemeinplätzen, dass Fragen der
Gerechtigkeit bzw. der Gültigkeit von Normen nicht "ahistorisch" betrachtet
werden dürfen. Diese Auffassung, die keineswegs nur von Marxisten geteilt wird,
ist in dieser Allgemeinheit zweifellos richtig. Kaum jemand würde wohl
behaupten wollen, es gäbe nur eine einzige, für alle Zeiten und Völker "beste"
und gerechte Gesellschaftsordnung.
Allerdings ist mit dieser allgemeinen Feststellung von der historischen
Relativität sozialer Normen das Verhältnis von normativer Gültigkeit und
Geschichtlichkeit keineswegs gelöst, sondern eigentlich erst gestellt: Was sind
- z. B. bezogen auf die Frage nach der Gerechtigkeit - die relevanten historischen
Unterschiede, die zu den unterschiedlichen normativen Ergebnissen führen?
Die Antworten, die hierauf gegeben werden, sind vielfältig. So meint z. B. Oskar
Negt in seinen Thesen zur marxistischen Rechtstheorie, dass der
Entwicklungsstand der Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse, sowie Art
und Richtung der intendierten sozialen Umwälzung zu berücksichtigen seien.
Ohne inhaltlich weiter auf diese Position einzugehen, wird am vorhergehenden Satz doch deutlich, dass auch jemand wie Negt, der sich
ausdrücklich zum
historischen Vorgehen bekennt, damit eine methodische Aussage macht, die selber
nicht mehr historisch relativ ist.
Negts Aussage enthält die normativen
Gesichtspunkte, unter denen die verschiedenen historischen Epochen zu beurteilen
sind. Sie kennzeichnet die Methode, mit der Fragen der Gerechtigkeit unabhängig vom historischen
Zeitpunkt zu behandeln sind. Solche methodischen Aussagen sind keineswegs in derselben
Weise historisch relativ, wie es die normativen Ergebnisse sind,
die für die verschiedenen Epochen gewonnen werden.
Ein Beispiel soll den Unterschied zwischen der methodischen Ebene und der Ebene
der inhaltlichen Normen verdeutlichen: Man kann z. B. die methodische Position
vertreten, dass es bei der Beantwortung von Fragen nach dem, was sein soll, vor allem auf
die gegebenen Möglichkeiten - also auf das, was sein kann - ankommt und dass
dabei besonders die produktiven Möglichkeiten, d. h. der
Entwicklungsstand der Produktivkräfte, entscheidend sind.
Unter Einbeziehung
weiterer Gesichtspunkte könnte sich aus dieser Position als inhaltliche Norm
z. B. ergeben, dass in einer Epoche mit geringeren produktiven Möglichkeiten eine
längere Arbeitszeit und eine größere Einkommensdifferenzierung gerechtfertigt
ist als in einer Epoche mit hervorragend entwickelter Produktionstechnik. Das gleiche methodische Prinzip führt hier also zu
unterschiedlichen normativen Ergebnissen, wenn es auf verschiedene historische
Epochen mit unterschiedlichen Bedingungen angewandt wird.
Dass solche methodischen Prinzipien auftauchen, die selber nicht historisch
relativiert sind, ist eigentlich gar nicht verwunderlich, denn man richtet
ja an unterschiedliche historische Epochen dieselbe Frage nach der
Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse und man wendet den gleichen
Begriff "Gerechtigkeit" an.
Die unabhängig von den historischen Epochen geltenden Prinzipien,
die die Methode angeben, wie Fragen der Gerechtigkeit zu beantworten sind, sind im Grunde
ja nichts anderes als die Ausformulierung dessen, was man meint, wenn man die
Frage nach der Gerechtigkeit sozialer Verhältnisse stellt.
Diejenige Teildisziplin der Philosophie, die sich mit den Implikationen des
Gerechtigkeitsbegriffes befasst (man kann sie auch als "normative Methodologie"
bezeichnen insofern sie die "Lehre von der Methode zur Beantwortung normativer
Fragen" darstellt) ist dann insofern "ahistorisch", als sie sich nicht mit
historisch-konkreten normativen Fragen befasst, sondern damit, wie Fragen einer
bestimmten Art (normative Fragen bzw. Fragen nach der Gerechtigkeit)
beantwortet werden können. Eine solche "reine praktische Vernunft" (um
einen Begriffe Kants zu verwenden) ist als
philosophische Disziplin nicht nur möglich sondern unabdingbar.
Aus den hier skizzierten Überlegungen ergeben sich einige Konsequenzen
hinsichtlich dessen, was mit der "historischen Relativität normativer
Behauptungen" gemeint sein kann und was nicht.
Zum einen: Wenn bestimmte soziale Verhältnisse gemäß den in der normativen
Methodologie entwickelten Prinzipien gerechtfertigt sind, so spielt der
Zeitpunkt ihrer Existenz keine Rolle. Der gegenteilige Eindruck einer völligen
Zeitgebundenheit des normativen Urteils - weil z. B. eine bestimmte Norm früher
gerechtfertigt war und heute nicht - entsteht aus dem Umstand, dass man dabei
nur isoliert die betreffende Norm selber im Blick hat, aber die geänderten
Verhältnisse - z. B. die geänderten Bedürfnisse und Möglichkeiten - nicht mehr
ausdrücklich erwähnt. Das was früher richtig war, bleibt auch heute richtig,
aber es ist wegen der veränderten Bedingungen nicht mehr anwendbar. Das
Untergehen von Normen im Zeitverlauf ist also in diesen Fällen kein Falschwerden
sondern ein Veralten.
Ebenso wenig spielt bei der Frage, ob bestimmte Verhältnisse gerechtfertigt sind, der Zeitpunkt eine Rolle, zu dem die Beurteilung
vorgenommen wird. Zwar kann sich eine normative Beurteilung im Laufe der Zeit
ändern: Verhältnisse, die ich gestern für gerecht gehalten habe, kann ich heute
kritisieren, aber dann habe ich gleichzeitig meine frühere Gerechtigkeitsauffassung revidiert.
Was ich heute für falsch halte war auch damals schon falsch, ich hatte es damals
nur noch nicht bemerkt.
Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass es natürlich nicht beliebig
ist, wann bestimmte normative Vorstellungen entstehen und von wem sie akzeptiert
und propagiert werden. So setzt z. B. das Entstehen von Vorstellungen normativer
Gültigkeit, die an einen intersubjektiven, argumentativen Konsens gebunden
sind, die Emanzipation der Individuen aus der unreflektierten Übernahme
tradierter sozialer Normen voraus, ähnlich wie die modernen
Naturwissenschaften die Emanzipation der Individuen aus den tradierten
Weltbildern und Glaubensinhalten voraussetzen.
Eine derartige Reflektion der
sozialen Entstehungsbedingungen normativer Positionen und Theorien ist sinnvoll
und notwendig, sie kann jedoch die Entwicklung eigener normativer Theorien nicht ersetzen.
***
Die programmatische Diskussion der Linken vorantreiben
(1977)
Inhalt:
I. Das Fehlen einer politischen Programmatik
II. Innertheoretische Gründe für das programmatische
Defizit
III. Zunehmend negative Folgen der fehlenden programmatischen Klärung
IV. Verschüttete programmatische Ansätze der APO
["Außer-Parlamentarische Opposition"]: die Rätediskussion
V. Ungeklärte Fragen sozialistischer Programmatik
VI. Das Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und politischen Grundrechten
VII. Gesellschaftliche Komplexität und Basisdemokratie
VIII. Die Zuflucht zum utopischen Menschenbild
IX. Schlussbemerkung
Textanfang:
I. Das Fehlen einer politischen Programmatik
Zu den Ursachen des Terrorismus sind an anderer Stelle
dieser SAZ-Zeitung ["SAZ" - "Sozialistische Assistenten Zelle"] bereits nähere
Ausführungen gemacht worden. Neben den dort analysierten sozialstrukturellen und
sozialpsychologischen Bedingungen einer modernen kapitalistischen Gesellschaft
hat sicherlich auch ein theoretisches Defizit der westdeutschen "Neuen Linken"
eine Rolle gespielt bei der Entwicklung der terroristischen Gruppen aus den
Reihen der ehemaligen "Außerparlamentarischen Opposition". Welches Defizit damit
gemeint ist, soll im Folgenden näher ausgeführt werden.
In der politisch-moralischen Kritik an den jüngsten terroristischen Aktionen
spielt das Argument eine zentrale Rolle, dass Mittel wie Mord, Geiselnahme und
Geiselerschießung ungeeignet sind, um dem Ziel einer sozialistischen
Gesellschaft näherzukommen, da die Inhumanität der Mittel den sozialistischen
Zielsetzungen einer humanen Gesellschaft völlig zuwider läuft. In diesem Sinne
argumentierte z. B. das Sozialistische Büro in seiner Stellungnahme zu den
terroristischen Aktionen. Das Problem bei einer solchen Kritik der Mittel des
politischen Kampfes von den politischen Zielsetzungen her besteht jedoch darin,
dass diese Zielsetzungen von der Neuen Linken selber bisher weitgehend
unbestimmt gelassen wurden. So fehlen z. B. in den programmatischen "Thesen" des
Sozialistischen Büros aus dem Jahr 1975 die politisch-ökonomischen
Zielvorstellungen völlig, anhand derer sich Mittel des politischen Kampfes
konkreter bestimmen ließen.
Auch in anderen programmatischen Äußerungen der Linken finden sich bis auf
wenige Ausnahmen - wie z.B. bei Mandel - nur negative Zielbestimmungen in Form
einer Kritik dessen, was man nicht will; während die Gesellschaft, die
man will, meist durch sehr allgemeine und vieldeutige Begriffe wie "sozialistisch", "demokratisch", "human", "herrschaftsfrei" oder ähnliches eher
angedeutet als beschrieben wird. Überspitzt könnte man sagen, dass die Neue
Linke - trotz erheblicher Fortschritte in der theoretischen Analyse - bis heute
das geblieben ist, als was sie einmal angetreten ist, nämlich eine
Protestbewegung, d.h. eine Bewegung, die zwar mit Vehemenz die bestehenden
Verhältnisse - in West wie in Ost - kritisieren kann, der es aber bis heute
nicht gelungen ist, eine eigene politisch-ökonomische Programmatik zu
entwickeln.
II. Innertheoretische Gründe für das programmatische
Defizit
Die Gründe für dies programmatische Defizit der Neuen
Linken sind dabei vielfältiger Art und sie liegen sicherlich zum erheblichen
Teil in der Schwierigkeit der Materie selbst. Neben dieser unvermeidlichen
Schwierigkeit hat sich die Neue Linke den Weg zur Entwicklung einer Programmatik
jedoch auch selber durch Positionen verbaut, die das Fehlen einer Programmatik
als unproblematisch, unvermeidlich oder gar als wünschenswert erscheinen ließen.
In dieser anti-programmatischen Haltung sind dabei die verschiedensten
theoretischen Elemente zusammengeflossen, Elemente mit einer teilweise
ehrwürdigen Tradition in der sozialistischen Bewegung:
Da gab es Positionen, für die jede Entwicklung einer konkreten Programmatik "utopischer Sozialismus" oder ein Ausmalen des Schlaraffenlandes bedeutete; da
stützte man sich - meist unausgesprochen - auf eine optimistische
Geschichtsphilosophie, die sich über die Gestaltung der Zukunft nicht den Kopf
zerbrechen brauchte, weil sie das den historischen Gesetzmäßigkeiten und einem
darin wohnenden Fortschrittsprinzip der Höherentwicklung überlassen konnte; da
gab es methodische Vorstellungen von "bestimmter Negation" und "negativer
Dialektik", für die die Formulierung einer positiven Zielsetzungen die Sünde
wider den Geist darstellte; und da gab es die bescheidenen Intellektuellen, die
der Arbeiterklasse nicht vorschreiben wollten, wie die sozialistische
Gesellschaft auszusehen hat.
All diese verschiedenen Positionen hatten die gleiche Wirkung, dass das Fehlen
einer politisch-ökonomischen Programmatik nicht als Mangel erlebt wurde und
folglich auch keine Anstrengungen in dieser Richtung unternommen wurden. Dies
kam zumindest anfänglich auch praktisch-politischen Überlegungen entgegen, denn
als Folge programmatischer Diskussionen und den dabei wahrscheinlich zutage
tretenden Differenzen befürchtete man eine Zersplitterung und Schwächung der
Linken.
III. Zunehmend negative Folgen der fehlenden programmatischen Klärung
Im Laufe der Zeit hat sich jedoch immer deutlicher
herausgestellt, dass eine Einheit der Linken unter der Rubrik "antikapitalistische Kräfte" mehr und mehr zur Illusion geworden ist und dass
die Nicht-Thematisierung der programmatischen Zielvorstellungen zukünftig die
Politik derer eher schwächen als stärken wird, die man einmal grob als "emanzipatorische Linke" bezeichnen kann. Denn hinter der gemeinsamen Ablehnung des Kapitalismus und allgemeinen sozialistischen
Formeln verbergen sich inzwischen weit auseinandergehende politische
Zielvorstellungen und diesen entsprechende divergierende Strategien.
Ausdruck
dieser grundsätzlichen Divergenzen sind nicht zuletzt die Diskussionen darüber,
ob z.B. Gruppen wie der KSV [" Kommunistischer Studenten-Verband] oder auch die
RAF [" Rote Armee-Fraktion" ] überhaupt noch als "Teile der Linken" anzusehen sind.
Insofern man dabei allerdings die politischen Zielvorstellungen dieser Gruppen
nicht ausdrücklich in die Diskussion mit einbezieht und damit letztlich doch der
Gleichung 'links gleich antikapitalistisch' verhaftet bleibt, müssen solche
Ausgrenzungsversuche von geringer Aussagekraft bleiben.
Bei divergierenden
politischen Zielen stellt das fortgesetzte Postulat von der Einheit der Linken
insofern eine Schwächung für die emanzipatorische Linke dar, als ihr deshalb
auch die teilweise wahnwitzigen Aktionen derjenigen Sekten und Grüppchen
angelastet werden, für die diese emanzipatorischen Zielvorstellungen bestenfalls
noch philanthropisches Gefasel sind.
Die Aufsplitterung der Linken in Kräfte mit teilweise entgegen gesetzten
Tendenzen ist ein Faktum, das durch eine programmatische Diskussion nicht erst
erzeugt, sondern nur verdeutlicht wird. Nur wenn die politischen
Zielvorstellungen jedoch verdeutlicht werden, können sie auch rational
diskutiert und argumentativ verändert werden.
Dazu ist es allerdings notwendig,
dass diese Diskussion ohne die weit verbreitete Arroganz jener Theoretiker
geführt wird, die auch bei den ungeklärtesten Fragen sozialistischer Politik
ihre eigene Position immer mit dem Habitus einer Verkündung ex cathedra
vortragen. Außerdem muss im Auge behalten werden, dass eine programmatische
Konkretisierung keinesfalls bedeutet, dass man ein detailliertes und
ein-für-alle-mal fixiertes Zukunftsmodell entwirft.
Stattdessen kommt es darauf
an, auf der Grundlage der gegenwärtig bekannten Bedingungen und
Entwicklungstendenzen in der Bundesrepublik die Grundzüge einer realisierbaren
sozialistischen Gesellschaft zu entwerfen. Dabei kann man in dem Maße konkreter
werden, wie bereits historische Erfahrungen anderer Revolutionsversuche
vorliegen. Zugleich bedeutet dies, dass die programmatische Diskussion in dem
Maße weiterentwickelt werden muss, wie veränderte Bedingungen und neue
Erkenntnisse dies notwendig machen.
IV. Verschüttete programmatische Ansätze der APO
["Außer-Parlamentarische Opposition"]:
die Rätediskussion
Wenn im vorangegangen die These vertreten wurde, dass die Neue Linke
praktisch keine Programmatik entwickelt hat, so muss andererseits festgehalten
werden, dass es trotzdem verschiedene Ansätze dazu im Laufe der Jahre gegeben
hat. Allerdings sind diese Ansätze letztlich nicht weitergeführt worden, sondern
als unerledigte Fragen einfach liegengeblieben.
So gab es auf dem Höhepunkt der
APO Ende der 60er Jahre die Diskussion um Rätedemokratie, die als Alternative
zum parlamentarisch-kapitalistischen System propagiert wurde. In kritischem
Bezug sowohl auf den Parlamentarismus als auch auf den organisierten
Kapitalismus wurde eine alternative Ordnung skizziert, die sich als Realisierung
einer Basisdemokratie auf betrieblicher und lokaler Ebene verstand. Zentrale
Stichworte waren z.B.: direkte Demokratie durch imperatives Mandat und
jederzeitige Abberufbarkeit; Aufhebung der Trennung von Politik und Ökonomie
durch eine einheitliche Produzentendemokratie; Abbau von Bürokratie durch
Ämterrotation.
Die Frage ist, warum diese programmatischen Ansätze nicht in
einer kontinuierlichen Diskussion überprüft und konkretisiert wurden, sondern
schon bald in den Hintergrund gedrängt wurden.
Einer der Gründe hierfür war sicherlich das praktische Scheitern der
Basisgruppen-Bewegung. Die propagierten Betriebs- und Stadtteilgruppen hatten
schon bald nach der hoffnungsvollen Gründungsphase stagniert, und es stellte
sich heraus, dass eine Ausweitung der Bewegung über das Studenten- und das
Schüler-Lehrlings-Milieu hinaus nicht in nennenswertem Umfang gelang. In dieser
Situation, als die Versuche zu einer breiteren Massenbewegung scheiterten,
traten naturgemäß Konzeptionen in den Vordergrund, die - ausgerichtet an
historischen Vorbildern - gegenüber der bisherigen "Handwerkelei" - den
Schwerpunkt auf die schlagkräftige Organisierung der Aktiven selber legten. Das
Gründungsfieber der Kadergruppen grassierte oder aber man orientierte sich
wieder stärker an den bestehenden Organisationen der "alten" Linken. Auch die
Propagierung des bewaffneten Kampfes ("Sieg im Volkskrieg" ) und die Gründung der
RAF fällt in diese Phase erfolgloser Versuche, nennenswerte Teile der
Lohnabhängigen zu mobilisieren.
In gewisser Weise war damit auch auf der Ebene der theoretischen Diskussion die
autonome Entwicklung der westdeutschen Studentenbewegung abgebrochen. Anstelle
einer selbstbewussten, kontinuierlichen Diskussion der eigenen Erfahrungen und
Denkansätze suchte man sein Heil in der Anlehnung an erfolgreichere Positionen vergangener
Epochen und ferner Länder: autoritätsgläubige Identifikationen mit Personen und
Parteien, schematische Nachahmungen ganz andersartiger Bewegungen und eine zu
dogmatischen Phrasen erstarrte Sprache beherrschten für längere Zeit die linke
Szene. Kein Wunder, dass die Weiterführung der programmatischen Diskussion
misslang, wo der Schlagabtausch festgefügter Sekten vorherrschte.
V. Ungeklärte Fragen sozialistischer Programmatik
Dass die gerade in Deutschland sicherlich notwendige Rezeption der
internationalen sozialistischen Traditionen nicht zu ihrer produktiven
Verarbeitung führte sondern zu entfremdeten Identifikationen mit ihren
verschiedenen Traditionsbeständen, dass der Neuen Linken deshalb letztlich
keiner der historischen Irrwege erspart geblieben ist, ist jedoch auch ein Indiz
für die geringe theoretische Substanz und Einheitlichkeit der Studentenbewegung,
die sich bereits mit der Selbstauflösung des SDS ["Sozialistischer Deutscher
Studentenbund"] andeutete.
Dies soll anhand der offen gebliebenen Fragen der Rätediskussion verdeutlicht
werden, wobei die folgenden Ausführungen nicht so zu verstehen sind, als gäbe es
bereits die fertigen programmatischen Antworten, sondern eher als Anstoß dazu,
um die programmatische Diskussion wieder in Gang zu bringen. An einigen Punkten
soll aufgezeigt werden, inwiefern die basisdemokratischen Vorstellungen - die
auch heute noch bzw. wieder eine wichtige Rolle in der praktischen Politik der
Linken spielen - vage oder unausgeführt geblieben sind.
VI. Das Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und politischen Grundrechten
Ein ungeklärtes Problem ergibt sich aus der Existenz unterschiedlicher
politischer Meinungen und Interessen als Frage nach der Art ihrer Artikulation
und Organisation. Wollte man diese Möglichkeit nicht entgegen allen
gegenwärtigen und historischen Erfahrungen leugnen, so musste man sich genauer
mit dem Faktum einer Vielzahl konkurrierender Organisationen auseinandersetzen
und man musste klare Aussagen machen zum Recht auf Kritik und Opposition, zur
Bildung von Koalitionen und Fraktionen, zu Meinungsfreiheit, Zensur und Zugang
zu den Massenmedien, zu freien Wahlen und zum Mehrheitsprinzip.
Dies war umso mehr notwendig, als jede sozialistische Bewegung spätestens seit
Stalin von der historischen Erfahrung mitbelastet war, dass sich die "Union der
sozialistischen Räterepubliken" als Staat einer autoritär-hierarchischen
Einheitspartei entpuppte, in der das Problem unterschiedlicher Meinungen und
Interessen nach der Devise gelöst wird, dass nicht sein darf, was nicht sein
kann. Dem verbreiteten und auch berechtigten Misstrauen gegenüber
der Möglichkeit einer sozialistischen Bevormundung oder Erziehungsdiktatur wurde
die Rätediskussion der APO-Zeit nicht gerecht: die Fragen der politischen
Grundrechte und demokratischen Prinzipien wurden nicht als eigenes
Problem begriffen, sondern sie wurden als von liberalen Kritikern aufgebrachte
Probleme - mit der für die damalige Aufbruchsstimmung typischen Mischung aus
Defensivhaltung und Arroganz - abgetan. Auch in der gegenwärtigen Situation
besteht die Gefahr, dass man in der Abwehr einer zum anti-demokratischen Knüppel
umformulierten "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" die Klärung des
eigenen Verhältnisses zu den demokratischen Prinzipien und Grundrechten
vernachlässigt.
VII. Gesellschaftliche Komplexität und Basisdemokratie
Ein weiterer Problemaspekt, der in der rätedemokratischen Konzeption
vernachlässigt worden ist, betrifft die Berücksichtigung der Komplexität
moderner industrialisierter Gesellschaften. Die Formel von der "direkten
Entscheidung durch die Betroffenen" anstelle von Entscheidungen durch
repräsentative oder administrative Organe ist umso schwieriger zu realisieren,
je komplexer und differenzierter eine Gesellschaft gegliedert ist und je
vielfältiger deshalb auch die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bereichen
sind.
Von dem, was in einem einzelnen Betrieb oder einer einzelnen Universität
geschieht, sind eben nicht nur die dort Arbeitenden und Lernenden betroffen,
sondern immer auch andere gesellschaftliche Bereiche und eine kaum zu
überblickende Zahl derjenigen, die auf die Produkte des Betriebs bzw. die
Qualifikationen der Absolventen und die Forschungsergebnisse der Universität
angewiesen sind. Einfache Formen der Basisdemokratie sind zwar geeignet zur
Ermittlung und Artikulation von Belegschaftsinteressen (und auch das nur zu
wesentlichen Entscheidungen, wie man an der chronisch knappen Zeit auf
studentischen Vollversammlungen sieht), sie genügen jedoch nicht zur
Koordination und Abstimmung der Entscheidungen, zur Abwägung und Zusammenfassung
unterschiedlicher Interessen sowie zur Durchführung und Kontrolle getroffener
Entscheidungen. Wenn jedoch die Existenz von repräsentativen und administrativen
Organen unter diesen Gesichtspunkten unabdingbar ist, so müssen die
programmatischen Diskussionen zu Parlament, Verwaltung etc. von der Linken auf
einer konkreteren Ebene wieder aufgenommen werden.
Dies gilt insbesondere für den ökonomischen Bereich, in dem
die programmatische Diskussion besonders abstrakt geblieben ist. Die Vorstellung
einer unmittelbar auf die Bedürfnisbefriedigung gerichteten Produktion von
Gebrauchswerten bleibt leer, wenn man einer Beantwortung der unmittelbar daraus
sich ergebenden Fragen ausweicht: Wie sollen die Bedürfnisse ermittelt werden?
Wie soll die Dringlichkeit verschiedener Bedürfnisse gegeneinander abgewogen
werden, wenn die Kapazitäten nicht zur Befriedigung aller Bedürfnisse
ausreichen? Wie werden die unterschiedlichen Interessen von Produzenten und
Konsumenten eines Produkts aufeinander abgestimmt? Wie wird die
gesamtgesellschaftliche Planung mit den autonomen Entscheidungen von Kollektiven
und Individuen abgestimmt?
Auch die Diskussion zur "Übergangsgesellschaft" hat hinsichtlich der
ökonomischen Programmatik kaum Fortschritte gebracht. Die Kritik an den
Wirtschaftsreformen der osteuropäischen Länder blieb ohne konstruktives
Resultat, da man sich - ähnlich wie beim Konzept der Basisdemokratie - auf eine
genauere Diskussion der Funktionsprobleme postkapitalistischer
Wirtschaftssysteme in der Regel gar nicht einließ.
VIII. Die Zuflucht zum utopischen Menschenbild
In diesen Zusammenhang gehört auch ein weiteres ungeklärtes Problem, das die
innerlinken Programmdiskussionen ständig belastet hat, ohne dass hier ernsthafte
Anstrengungen gemacht wurden. Gemeint ist die Frage nach dem "Menschenbild", das
den programmatischen Vorstellungen - meist stillschweigend – zugrunde liegt. Aus
der berechtigten Kritik an Positionen, die den durch Konkurrenz und Hierarchie
geprägten kapitalistischen Sozialcharakter zur ewigen Menschennatur
hochstilisieren wollen, wurde häufig der Umkehrschluss gezogen, der Mensch sei
in seiner "eigentlichen" Bedürfnis- und Motivationsstruktur ein völlig soziales
und moralisches Wesen und Probleme wie die Durchsetzung des individuellen
Interesses auf Kosten anderer oder Gruppenegoismen familiärer, nationaler und
ethnozentrischer Art seien höchstens als "Muttermale" der alten Gesellschaft
relevant.
Hieraus mögen sich die programmatischen Leerstellen der Linken immer dort
erklären, wo es um die Bekämpfung von Verhaltensweisen geht, die mit dem
gesamtgesellschaftlichen Interesse unvereinbar sind, seien es Probleme
mangelnder Arbeitsmotivation, bürokratischer Bequemlichkeit, persönlichen
Machtstrebens, mangelnden Interesses und Einsatzes für öffentliches
Angelegenheiten, Beschädigung oder Vergeudung öffentlichen Eigentums oder auch
allgemein-krimineller Verhaltensweisen geht.
Anstatt diese Phänomene zu ignorieren bzw. mit dem bequemen
Hinweis abzutun, dass sie sich dadurch erledigen werden, dass mit der neuen
Gesellschaft auch ein ganz anderer Menschentypus entstehen wird, wären in der
programmatischen Diskussion Fragen nach demokratisch legitimierbaren Kontroll-
und Sanktionsformen explizit aufzunehmen, die sich auf wissenschaftlich
begründbare Annahmen hinsichtlich der Veränderbarkeit menschlicher
Motivationsstrukturen stützen. Nur dann kann auch das Schicksal vergangener
sozialistischer Revolutionen vermieden werden, in denen angesichts enormer
Probleme "egoistischen" Verhaltens die linken Utopisten - nicht ganz ohne Grund
- diktatorisch regierenden Bürokraten Platz machen mussten.
IX. Schlussbemerkung
Mit diesen drei Fragebündeln an eine zu entwickelnde linke
Programmatik:
1. Verhältnis zu demokratischen Prinzipien und Grundrechten,
2. Berücksichtigung der Komplexität industrialisierter Gesellschaften und
3. Bezugnahme auf ein realistisches Menschenbild
sind natürlich die offenen Fragen einer sozialistischen Programmatik keineswegs
erschöpfend benannt. Sie sollen hier nur als beispielhafte Anstöße für eine
Wiederaufnahme der Diskussion gelten. Allerdings müssen zu diesen drei
Fragekomplexen Antworten gefunden werden, wenn man über die vagen und
vieldeutigen Formeln hinauskommen will. Die Konkretisierung ihrer eigenen
Vorstellungen darüber, wie Politik und Ökonomie in einer sozialistischen
Gesellschaft beschaffen sein sollen, ist für die emanzipatorische Linke ein
unerlässlicher Schritt, um zumindest langfristig zu einem relevanten Faktor in
den politischen Auseinandersetzungen zu werden. Die Konkretisierung der
programmatischen Vorstellungen ist zugleich auch ein Mittel gegen jene
terroristische Un-Politik, für die der politische Kampf um eine sozialistische
Zukunft zu einer perspektivlosen Rache an den "Repräsentanten des Systems"
degeneriert. Die zweifelhafte Genugtuung darüber, auch einmal einige Mächtige
vernichtet zu haben, muss eine zukunftsbezogene Arbeit ersetzen.
***
Sozialismus - mit falschen Voraussetzungen
(2003 - Nach 35 Jahren)
Man soll keine Leichenfledderei betreiben. Und warum jetzt noch, wo der groß
angelegte Versuch, den Sozialismus zu verwirklichen, am Ende ist, warum jetzt
noch über den gescheiterten Versuch herziehen? Bin ich noch einer, der sein
Mäntelchen nach dem Wind hängt? Auch wenn die Situation zweideutig ist, um eines
bewussten Lernprozesses willen muss ausgesprochen werden, wo sich die
Sozialisten geirrt haben.
Der Sozialismus ist erst einmal eine sympathische Idee: die Menschen sollen als
Gleiche unter Gleichen brüderlich zusammenleben, sie sollen die Güter der Erde
und die technischen Produktionsmöglichkeiten als ihr gemeinsames Eigentum
ansehen, sie sollen ihre Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einsetzen und
sollen die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit solidarisch gemäß der Bedürftigkeit
aufteilen.
Ein solcher hier in groben Umrissen gekennzeichneter Sozialismus hat als Idee
seine Anziehungskraft, vor allem auf dem Hintergrund einer an der Hilfe für die
Schwachen und Armen orientierten christlichen Tradition und vor allem auch für
die Jüngeren, die noch nicht so sehr wie die Älteren errungene Positionen in der
sozialen Hierarchie und angehäuftes Vermögen zu verteidigen haben.
Und die Idee des Sozialismus gewinnt umso mehr an Glanz, je problematischer sich
die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerade darstellt.
Trotzdem: Der sympathische Glanz der sozialistischen Idee steht auf brüchigen
Füßen, weil er von falschen Voraussetzungen ausgeht und sich nicht in der
erhofften Weise realisieren lässt.
Die Realisierung der sozialistischen Gesellschaft aus gemeinschaftlich
arbeitenden und wirtschaftenden Genossen scheitert an falschen Annahmen über
die Menschen, über ihre Motive und Verhaltensweisen.
Schon im zentralen programmatischen Satz des Kommunismus: "Jeder (arbeitet) nach seinen
Fähigkeiten! Jedem (wird) nach seinen Bedürfnissen (zugeteilt)!" wird die Schwachstelle der sozialistischen Konstruktion deutlich.
Es
ist die Rede von den Fähigkeiten der Menschen, zu arbeiten, es ist jedoch nicht
die Rede davon, wodurch die Menschen motiviert werden können, die Mühsal auf
sich zu nehmen, diese Fähigkeiten in jahrelangem Lernen auszubilden und sie hart arbeitend einzusetzen.
Zum andern ist die Rede von den Bedürfnissen der Menschen, die zu ihrer
Befriedigung die erarbeiteten Produkte und Dienste anderer Menschen benötigen.
Wiederum ist nicht die Rede davon, wie die Menschen motiviert werden können, von
den geschaffenen Gütern einen sparsamen und schonenden Gebrauch zu machen.
Die Natur des Menschen war der weiße Fleck auf der Landkarte der meisten Sozialisten. Wer
nur davon sprach, machte sich schon des "Biologismus" schuldig. Nach Marx war
der Mensch nichts anderes als "das Ensemble der gesellschaftlichen
Verhältnisse", ein Produkt der jeweiligen Gesellschaftsformation.
Aber - wie sich herausstellte: auch nach der Revolution blieb das Eigeninteresse wirksam. Dies wurde als Überbleibsel der alten, bürgerlichen Gesellschaft
abgetan. Mit
der Entwicklung des neuen sozialistischen Menschen würde das verschwinden. Aber
diese Verhaltensweisen verschwanden nicht. Im Gegenteil. Sie bremsten den
revolutionären Schwung. Die Helden der Arbeit waren in den Sonntagsreden der
Parteigrößen zu finden, aber nicht in den
Fabriken und Büros.
Jeder sah eine Schicht von Funktionären, die sich mit allen begehrten Konsumgütern
aus kapitalistischer Produktion versorgten, und jeder sah, dass die eigenen
Arbeitsanstrengungen letztlich nicht viel einbrachten - jedenfalls nicht so viel
wie Linientreue und Parteiposten. Kreativität, Kritik und Erfindergeist waren nicht
gefragt, denn sie brachten eher ein Element der Unruhe in die Verhältnisse, die
ihren geordneten sozialistischen Gang gingen und gehen sollten.
Und so wurden die Entwicklungen in den Informationswissenschaften und in der
Mikroelektronik verschlafen und die Länder des realen Sozialismus gerieten
wirtschaftlich und waffentechnisch ins Hintertreffen. Eine Wirtschaft nach Art
der deutschen Reichspost, wie sie Lenin vorschwebte, war nicht wettbewerbsfähig,
sie löste sich auf.
***
"Whenever it ceases to be true that mankind, as a rule, prefer
themselves to others, and those nearest to them to those more remote, from that
moment Communism is not only practicable, but the only defensible form of
society." (John Stuart Mill)
***
An einen Anhänger des Marxismus-Leninismus
(Ein teils ironischer, teils ernsthafter Beitrag in einer Internet-Diskussion)
Zur "historischen Mission der Arbeiterklasse und
ihrer (kommunistischen) Partei"
Als erstes finde ich es
beruhigend, dass Du mir versicherst, dass niemand mir meine Demokratie
wegnehmen will. Denn ich war mir nicht ganz sicher, ob ich in der von Dir
angestrebten Gesellschaft noch meine Gedanken veröffentlichen dürfte, da sie sich auch kritisch gegen marxistische Thesen
richten. Aber wahrscheinlich stellt sich dies Problem gar nicht, weil mein
Denken zwar gegenwärtig noch "den Gesetzen des sich selbst verwertenden Werts"
gehorcht, aber mein Bewusstsein nach dem Übergang zur kommunistischen
Produktionsweise von dieser bestimmt sein wird: die "eigennützigen Interessen
des privaten Individuums" habe ich dann abgestreift zugunsten der
gesellschaftlichen Interessen eines gesellschaftlichen Individuums.
Du hast
meine aufkommenden Bedenken zerstreut durch deine Aussage, dass in der
kommunistischen Gesellschaft "mündige Menschen ihr gemeinsames Leben
vernünftig organisieren".
Beunruhigen könnte mich vielleicht, dass diese vernünftige Organisation nur in der kommunistischen Gesellschaft möglich sein soll. Was habe ich denn
für die Zeit bis dahin politisch zu erwarten? Etwas mulmig wird mir, wenn Du
sagst, dass Du "nur insoweit Anhänger einer Demokratie bist, soweit sie eine
kommunistische ist". Ich könnte mich also nicht mehr auf irgendwelche
demokratischen Rechte wie freie Diskussion und freie Wahlen und das Recht auf
die Organisierung einer Opposition berufen, wenn Du und Deine gleich gesinnten
Weggefährten einmal an die Macht kommen sollten?
Es wäre allerdings wohl auch naiv von mir, an der bloß "formalen Demokratie"
festhalten zu wollen, wo es doch auf eine inhaltliche Demokratie ankommt, und
die ist nun mal so lange nicht möglich, wie die die privatwirtschaftliche
Produktionsweise nicht abgestreift ist.
Wahrscheinlich ist mein Gejammer über die Verletzung demokratischer
Grundrechte auch wirklich nur ein Restbestand meines
bürgerlichen Denkens.
Eigentlich habe ich ja keinen Grund mich zu beklagen, wenn nun Leute das Sagen
haben, die wissen "was Demokratie seinem Begriff nach sein will" und die das
Gesetz des sich selbst verwertenden Wertes durchschaut und ihm den Kampf
angesagt habe. Was soll da das Greinen über den Verlust formaler demokratischer
Rechte, wo doch ohnehin in der privatwirtschaftlichen
Produktionsweise die "Regierenden nichts weiter als Anhängsel einer
kapitalistischen Nationalökonomie" waren und die demokratische
Willensbildung dadurch charakterisiert wurde, dass die Beherrschten "sich
nicht entblöden, jeder totalitären Dummheit der Regierenden das Wort zu
reden". In Wirklichkeit hatte ich doch nichts zu verlieren – höchstens die
Scheinfreiheit, meine irrigen Gedanken zu veröffentlichen. Oder?
Aber nun ernsthaft:
Es gibt die leidvollen Erfahrungen mit
kommunistischen Parteien, die sich selbst zur "Avantgarde der
Arbeiterklasse" erklärten und die vorgaben, mit den Lehren von Marx und Engels
über eine "wissenschaftliche Weltanschauung" als Grundlage ihrer Politik zu
verfügen.
Mit ihrer Interpretation von Geschichte als einer Geschichte der Klassenkämpfe
rechtfertigten die Kommunisten die von ihnen praktizierte Diktatur des
Proletariats als Antwort auf die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Das
Ergebnis dieses wissenschaftlichen Sozialismus war die Unterdrückung
jeglicher innerkommunistischer Abweichungen von der offiziellen Linie der
Partei (Trotzki, Bucharin, Havemann etc.) als auch die Verfolgung "bürgerlicher
Ideologien" jeglicher Spielart.
Wir können heute nicht so blauäugig sein und so tun, als hätte es das alles
nicht gegeben, und ich werde hellhörig bei Formulierungen, die den altbekannten
Mustern entsprechen:
- z. B. die Kennzeichnung der bestehenden Demokratie als
bloß formal - Wenn die Inhalte der Politik an anderer Stelle
festgelegt werden, dann braucht man allerdings solche demokratischen "Formalien"
wie geheime Wahlen nicht mehr,
- z. B. die Kennzeichnung des bestehenden demokratischen Staates als Anhängsel der kapitalistischen Wirtschaft
– woraus folgt, dass Bundestagswahlen, Kanzlerwahlen oder ähnliches bloßer
Mummenschanz sind,
- z. B. die Kennzeichnung der Wähler als unwissende
Masse, die nachplappert, was ihnen von der Regierung und den Medien
vorgesagt wird – woraus folgt, dass man bei politischen Entscheidungen auf die
Meinungen in der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen darf, denn Unmündige muss
man bevormunden,
- z. B. die Kennzeichnung der bestehenden Interessen und Wünsche der Individuen
als privat und deshalb falsch – woraus
folgt, dass es offenbar jemanden gibt, der die wahren Interessen der Individuen
besser kennt als sie selbst,
- z. B. die prinzipielle Ablehnung der
Verbindlichkeit mehrheitlich beschlossener Gesetze – die ihre
theoretische Grundlage offenbar in der Auffassung hat, dass in einer
Gesellschaft mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung alle staatlichen Gesetze
und Entscheidungen nur das Interesse der herrschenden Kapitalistenklasse
ausdrücken. Ob Bundesrepublik Deutschland oder Großdeutsches
Reich, das macht dann keinen wesentlichen Unterschied, denn
beides sind nur verschiedene Erscheinungsformen
desselben: der
kapitalistischen Klassenherrschaft.
***
zum Artikel von Jörg Schönbohm im TAGESSPIEGEL vom 09.03.2008
(ungekürzt)
Um es vorweg zu sagen: Ich bin Partei, wenn es
um die Studentenbewegung der 60er Jahre geht, denn ich gehörte zu dieser
Bewegung. Aber heute, vier Jahrzehnte danach, sollte es möglich sein, deren
Verdienste und auch deren Irrwege einigermaßen unvoreingenommen zu erörtern.
Davon ist der Artikel "1968 – Selbstbetrug einer Generation" im TAGESSPIEGEL
vom 09.03.08 allerdings weit entfernt, denn sein Verfasser, Jörg Schönbohm,
lässt – wie man so sagt – "kein gutes Haar" an der damaligen
Studentenbewegung.
Der Artikel zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Unfähigkeit zum
differenzierten Denken und Urteilen aus.
Die Studentenbewegung, in der sich sehr unterschiedliche Positionen
zusammenfanden, ist für Schönbohm ein einheitliches Gebilde, innerhalb
dessen es keine Richtungskämpfe und Personen mit unterschiedlichen
Konzeptionen gab. In dem langen Artikel wird bezeichnender Weise nicht ein
einziges Mal eine konkrete Person oder Organisation genannt, die an dieser
Bewegung beteiligt war. Stattdessen belegt Schönbohm die damalige
Studentenbewegung pauschal mit inhaltlich unpräzisen aber hochgradig
wertgeladenen Ausdrücken wie: "Protestler", "Jungrevolutionäre", "selbsternannte Gesellschaftsveränderer",
"Achtundsechziger-Ideologen", "Weltverbesserer", "weinselige Toskana-Fraktionäre" oder
"Nachwuchs-Revoluzzer".
Der Artikel zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass er seine durchgängigen
Verallgemeinerungen nicht anhand von realen Beispielen konkretisiert,
sondern stattdessen höchstens durch mehr oder oft auch weniger passende Grafitti-Sprüche belegt.
Was soll man zu einer pauschalen Abqualifizierung sagen wie: "Ihnen ging es
nicht um die Veränderung aus Vernunft, sondern um die Veränderung aus
Prinzip", wenn dieser Rundumschlag nicht näher begründet wird?
Kein Wort findet sich in dem Artikel zu den unterschiedlichen inhaltlichen
Punkten, an denen sich der Protest entzündete: In Berlin z. B. die Weigerung
des Präsidenten der Freien Universität, einen Raum der Universität für einen
Vortrag des gesellschaftskritischen Publizisten Erich Kuby zur Verfügung zu
stellen, in den USA der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg, in Frankreich
die sexualfeindliche Hausordnung eines Studentenwohnheims.
Was soll man zu Thesen sagen wie: "Im Kampf gegen das Establishment waren
eher Pflastersteine denn das Florett die Waffe der Wahl"? Bedauert
Schönbohm, dass die Schlagenden Verbindungen und deren "Schmisse" im Gesicht
für die neue Generation von Studenten nicht mehr attraktiv waren? Hat er
nichts mitbekommen von den intensiven Diskussionen innerhalb der
Studentenbewegung über Gewalt, die u. a. dazu führte, dass sich die Grünen
später ausdrücklich als "gewaltfrei" bekannten?
Die markigen Urteile, die Schönbohm in dem Artikel aneinander reiht,
scheinen nicht immer auf Kenntnis der betreffenden Sache zu beruhen. Als
Beleg für die obige Pflastersteinthese führt Schönbohm einen Grafitti-Spruch
an und schreibt dazu: "Passend reimte der Sponti-Dichter: 'Der Stein
bestimmt das Bewusstsein’ ". Aber hier wird nichts gereimt, sondern dies ist
eine witzige, wenn auch problematische Umformulierung des materialistischen
Credos "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein".
Ähnlich verbohrt deutet Schönbohm andere Sprüche dieser Zeit. "Wer zweimal
mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment" war ein humorvoller,
augenzwinkernder Spruch, der nicht so bierernst genommen werden wollte. (Das
durchschnittliche Alter der Studenten beim ersten Geschlechtsverkehr lag
damals bei 22 Jahren.) Wenn man bedenkt, dass noch in den 60er Jahren der
Bundespräsident Heinrich Lübke im Zuge der Restauration
christlich-abendländischer Werte das Verbot von öffentlichen
Kondom-Automaten forderte, musste ein solcher Spruch allerdings zutiefst
schockieren.
Fast schon komisch wirkt es, wie Schönbohm ein anderes Problem der
Studentenbewegung in die Schuhe schiebt, wenn er schreibt: "Alte und
Gebrechliche werden aus unserem Lebensalltag verbannt und abgeschoben. …
Auch hier hatten die Achtundsechziger die passende Losung zur Hand: 'Trau
keinem über Dreißig' ".
Diese nicht ganz ernstgemeinte Parole von Studenten, die ja in wenigen
Jahren selber über 30 sein würden, hatte rein gar nichts mit dem Elend in
manchen Pflegeheimen zu tun. Der ernste Hintergrund dieser Parole war die
meist nicht übernommene Verantwortung der Elterngeneration für die
entsetzlichen Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 im deutschen Namen
begangen worden waren.
Wenn Schönbohm der Studentenbewegung schließlich auch die "Verordnung einer
politisch korrekten Sprache" anhängen will, dann sollte er sich an die
sprachlichen Eiertänze im Zuge der Hallstein-Doktrin (Ablehnung der Existenz
von zwei deutschen Staaten) erinnern. Man durfte nicht von der DDR sprechen
sondern nur von der "sogenannten DDR" oder der "DDR" (in
Anführungsstrichen). Man hatte zu schreiben: "Berlin (West)" aber nicht "Westberlin".
Mit dieser Abwehr von Schönbohms unqualifizierter Kritik an der
Studentenbewegung sollen nicht die Verbrechen der Überzeugungstäter in der
RAF und nicht die Träume der Maoisten und Leninisten von der Parteidiktatur
entschuldigt werden. Auch wenn Jörg Schönbohm davon noch nichts mitbekommen
hat: Die Aufarbeitung der Irrwege und Fehlentwicklungen der 68er-Bewegung
findet statt.
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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Texte aus der Zeit der 68er
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Letzte Bearbeitung 02.06.2010 / Eberhard Wesche
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