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Methodologie der empirischen Politikwissenschaft

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Inhalt:

      1. Methodenprobleme der beschreibenden Politikwissenschaft:

Intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmung als Wahrheitskriterium
Die Beschreibung vergangener Sachverhalte
Hintergrundtheorien
Aussagen mit zusammenfassenden Begriffen
Aussagen über innerpsychische Sachverhalte
Motivunterstellungen
Positive Behauptungen mit verstecktem normativem Inhalt
Die Selektivität jeder Beschreibung
Die Werthaltigkeit beschreibender Aussagen
Die Beschreibung durch Bilder und Metaphern


 
     2. Methodenprobleme der erklärenden Politikwissenschaft:

Die Grenzen deskriptiver Aussagen
Orientierungshypothesen
Das deduktive Erklärungsmodell
Statistische Zusammenhänge
Experimentelle Verfahren zur Aufdeckung empirischer Regelmäßigkeiten
Die Theorie der Zufallsstichprobe
Quasi-experimentelle Anordnungen
Theoriebildung in der Politikwissenschaft: Modelle rationalen Verhaltens
Konzeptionen einer verstehenden Politikwissenschaft
Anhang: Notizen zur empirischen Methodologie




Textanfang

Einleitung
Den Kern der empirischen Politikwissenschaft machen "positive" Behauptungen aus. "Positiv" sollen all jene Behauptungen genannt werden, die etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit behaupten. (Das Wort stammt aus dem Lateinischen, wo "positivum" soviel bedeutet wie "gegeben".) Statt von "positiver Wissenschaft" wird auch von "Realwissenschaft" oder "Erfahrungswissenschaft" gesprochen.

Bei den positiven Behauptungen handelt es sich nicht um eine einheitliche Gruppe, denn man kann in Bezug auf die Beschaffenheit der Realität unterschiedliche Arten von Fragen stellen :

- Ist ein bestimmter Sachverhalt gegeben?
- Warum existiert ein bestimmter Sachverhalt?
- Welche Folgen wird ein bestimmtes Ereignis haben?
- Unter welchen Umständen ist das Eintreten eines bestimmten Sachverhalts möglich?
- Wie wahrscheinlich ist das Eintreten eines Ereignisses unter den jetzigen Bedingungen?
- etc. etc.

Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Arten von positiven Behauptungen über die Realität als Antworten auf diese Fragen.

 

1. Methodenprobleme der beschreibenden Politikwissenschaft

Begonnen werden soll mit der methodologischen Analyse der relativ einfachsten Gruppe positiver Behauptungen, den beschreibenden bzw. "deskriptiven Aussagen".

(Eine Anmerkung zur Terminologie: Der Terminus "Aussage" wird in der logisch-empirischen Tradition für solche Sätze reserviert, die einen Sachverhalt behaupten und grammatisch in der Form des Indikativs auftreten. Insofern entspricht eine "Aussage" einer "positiven Behauptung" nach der hier verwendeten Terminologie).

Unter einer "beschreibenden Aussage" sollen solche Behauptungen verstanden werden, die über raum-zeitlich bestimmte Phänomene der Wirklichkeit informieren, die also einen konkreten Sachverhalt feststellen und beschreiben. Der allergrößte Teil der in der Politikwissenschaft gemachten Behauptungen ist von derart deskriptiver Art.

Beispiele für deskriptive Aussagen sind etwa:

"Am 7. Juni 1948 beschloss eine in London tagende Konferenz der westlichen Alliierten (England, Amerika, Frankreich und die Beneluxländer), eine westdeutsche Konstituante einzuberufen, mit dem Auftrag, eine 'föderative Regierungsform mit angemessener Zentralautorität' zu schaffen." (W. THEIMER, Lexikon der Politik, Hamburg: Auerdruck 1952, S. 137.)

"Der erste Bundestag wurde in Westdeutschland am 14. August 1949 gewählt. Die Wahlbeteiligung betrug 78,5 %. Gegenüber den Landtagswahlen zeigt sich eine leichte Rechtsverschiebung." (THEIMER S. 139)

"Der Wachstumsprozess in der BRD-Wirtschaft vollzog sich keineswegs so gleichförmig, wie es zunächst durch die Angabe einer durchschnittlichen Wachstumsrate von ca. 6,5% erscheint." (Aus: Projekt Klassenanalyse, Materialien zur Klassenstruktur der BRD. 2. Teil. Westberlin: VSA 1974, S. 49.)

"Unter den Arbeitern überwiegt … auch heute noch die Meinung, sie seien eine in zentralen Bereichen benachteiligte gesellschaftliche Gruppe." (aus: M. SCHUMANN, Am Beispiel der Septemberstreiks .., nach K. H. HÖRNING: Der 'neue' Arbeiter, Frankfurt a.M.: Fischer TV 1971, S. 240.)

 

    Intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmung als Wahrheitskriterium

All diese Aussagen behaupten bestimmte reale Sachverhalte. Wie lässt sich nun der darin enthaltene Anspruch auf Wahrheit bzw. Allgemeingültigkeit überprüfen? Wie lässt sich feststellen, ob sich über diese Aussagen ein argumentativer Konsens herstellen lässt?

Offenbar spielt bei der Herstellung eines Konsens in solchen Fragen die Wahrnehmung der Individuen eine zentrale Rolle. Wenn die Wahrheit der Behauptung: "Hier im Raum befinden sich jetzt 4 Stühle" überprüft werden soll, so müsste jeder sich "mit eigenen Augen" von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen können, d. h. jeder müsste aufgrund eigener Wahrnehmung zu der gleichen Aussage gelangen können. (Voraussetzung dafür ist allerdings, dass auch jeder mit dem Satz und seinen Wörtern die gleiche Bedeutung verbindet.)

In der wissenschaftlichen Praxis ist bei direkt beobachtbaren Sachverhalten die Übereinstimmung der Wahrnehmung der verschiedenen Individuen gewöhnlich unproblematisch. Erkenntnistheoretisch lässt sich jedoch selbst in diesem einfachsten Fall die Wahrheitsfrage noch weiter problematisieren. Es könnte ja sein, dass jemand sagt: "Ich sehe keine Stühle in diesem Raum". Insofern die Übereinstimmung der Erfahrung verschiedener Subjekte gefordert ist, bleibt der Konsens eine problematische Angelegenheit.

In der wissenschaftstheoretischen Literatur wird die Problematik der Erfahrungsbasis der positiven Wissenschaft ausführlich diskutiert, und vor allem seit Poppers Arbeit "Logik der Forschung" (zuerst erschienen 1935) und der darin enthaltenen Diskussion der so genannten "Basissatz-Problematik" ist man von der Vorstellung abgerückt, dass es mit den Sinneseindrücken ein unbezweifelbares und sicheres Fundament der positiven Wissenschaften gibt, das man nur noch protokollieren muss. (Einen Überblick über diese Diskussion gibt W. STEGMÜLLER, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Stuttgart: Kröner 1965, 3.Aufl., S. 445-449).

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    Hintergrundtheorien

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass selbst für die Überprüfung einfachster Sachverhalte gewöhnlich die bloße Wahrnehmung nicht ausreicht, sondern erklärende Theorien und Gesetzmäßigkeiten herangezogen werden müssen.

Ein Beispiel von CARNAP mag dies verdeutlichen: Wenn jemand den Satz "Auf diesem Tisch liegt ein Stück weißes Papier" bezweifelt, weil er meint, das sei kein Papier, so kann man versuchen, aus diesem Satz Voraussagen abzuleiten und überprüfen, ob diese eintreffen. Wenn die Gesetzmäßigkeit gilt, dass Papier durch eine Streichholzflamme zum Brennen gebracht werden kann, so könnte man eine Bestätigung dadurch erhalten, dass man das Papier in eine Streichholzflamme hält.

Oder um ein politisches Beispiel zu wählen: Um festzustellen, ob die in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA veröffentlichten Tonbänder mit kompromittierenden Äußerungen über die Strategie zur Verhinderung einer islamischen Revolution im Iran tatsächlich vom abgesetzten Schah Reza Pahlevi stammen, kann man Stimmenvergleiche unter Heranziehung akustischer und phonetischer Theorien vornehmen.

Der enge Zusammenhang zwischen rein beschreibenden Aussagen und theoretischen Aussagen über Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten der Realität ergibt sich dadurch, dass für die Formulierung der beschreibenden Aussage nicht nur solche Wörter verwendet werden, die einen raum-zeitlich bestimmten individuellen Gegenstand bezeichnen, also Eigennamen wie "SPD", sondern auch Begriffe von allgemeinem Charakter, die eine ganze Klasse von Gegenständen bezeichnen, wie etwa im letzten Beispiel "menschliche Stimme" oder "Tonbandaufnahme".

Über die menschliche Stimme und ihre Veränderbarkeit sowie über die Tonbandtechnik existieren nun vielfältige Kenntnisse allgemeiner Art, die auf den einzelnen, singulären Fall angewandt werden können, um den beschreibenden Satz "Die Stimme auf dem Tonband ist die Stimme des Schahs" zu bestätigen oder zu widerlegen. Damit wird die Wahrheit der rein beschreibenden Aussage abhängig von der Wahrheit der herangezogenen Theorien. (Zu diesen so genannten "Hintergrundtheorien" s. a. K. D. OPP, Methodologie der Sozialwissenschaften, Reinbek: Rowohlt 1970, S. 283ff.).

 

    Die Beschreibung vergangener Sachverhalte

Durch die verschiedensten Umstände kann auch die Feststellung der Wahrheit rein deskriptiver Aussagen sehr erschwert werden oder überhaupt unmöglich gemacht werden. Dieser Fall tritt etwa ein, wenn der Sachverhalt in der Vergangenheit liegt.

Mit der Feststellung vergangener Sachverhalte und den Problemen, die dabei auftauchen, haben z. B. Gerichte und Historiker zu tun. Man zieht - wenn möglich - Augenzeugenberichte und Quellen oder auch "Indizien" heran, um die tatsächlichen Vorgänge zu rekonstruieren. Doch die Fehlerquellen sind bekannt: Erinnerungslücken, Wahrnehmungslücken, Probleme der "Echtheit" der Quellen, bewusste Verfälschungen, Unzugänglichkeit der Quellen für den Wissenschaftler etc.

Wo Zeugen fehlen und Quellen mangelhaft sind, lässt sich häufig die Wahrheit von Behauptungen über vergangene Sachverhalte überhaupt nicht mehr feststellen.

 

    Aussagen mit zusammenfassenden Begriffen

Ein weiteres und für die Politikwissenschaft wichtiges Problem ergibt sich dann, wenn sich die beschreibende Aussage auf nicht unmittelbar beobachtbare Sachverhalte bezieht wie etwa bei Aussagen über gesamtgesellschaftliche oder psychische Sachverhalte. Die Wachstumsraten einer Volkswirtschaft oder die politischen Einstellungen von Arbeitern lassen sich nicht unmittelbar beobachten.

Trotzdem sind diese Aussagen als Beschreibungen der im Prinzip für jedermann zugänglichen, gemeinsamen Wirklichkeit gemeint und nicht als Aussagen über nicht jedermann zugängliche Spezialwelten wie bei manchen religiösen Weltanschauungen. Damit stellt sich die Frage, wie sich auch dann ein argumentativer Konsens herstellen lässt, wenn Begriffe benutzt werden, die keine unmittelbar empirische Bedeutung besitzen.

Wenn solche Aussagen trotzdem etwas Bestimmtes über die erfahrbare Wirklichkeit aussagen sollen, müssen sie zumindest einen indirekten Bezug zur beobachtbaren Wirklichkeit haben. Eine der häufigsten Ursachen unfruchtbarer Polemiken in der Politikwissenschaft ist das Fehlen eines klaren empirischen Bezugs der strittigen Thesen.

Bei der zitierten Aussage über die Entwicklung der ökonomischen Wachstumsrate lässt sich der empirische Bezug noch einigermaßen kontrolliert nachvollziehen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich hier, dass die Aussage auf die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik im Zeitraum von 1950-1970 bezogen ist, und dass das "reale" und nicht das "nominale" Wachstum des Bruttosozialprodukts gemeint ist, dass also Preissteigerungen durch den Bezug auf die Preise von 1962 eliminiert wurden.

In der Amtlichen Statistik, die als Quelle von den Autoren angegeben wird, wird das Bruttosozialprodukt definiert als: "Von Doppelzählungen (Vorleistungen) bereinigter Marktwert der durch die Volkswirtschaft neu erzeugten Güter und Dienstleistungen vor Abzug der Abschreibungen und sonstigen Betriebsrückstellungen." (W. WETZEL / K. GRENZDÖRFER: Stichworte und Definitionen zur Amtlichen Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistik der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Gruyter 1965.)

Auch über die Bedeutung der in der Definition des realen Bruttosozialprodukts verwandten Begriffe wie "Vorleistungen", "Abschreibungen", "Preisentwicklung des Sozialprodukts" etc. finden sich in den Begriffserläuterungen der amtlichen Statistik weitere Hinweise. Damit ist der Begriff "Wachstumsrate des Sozialprodukts" im Prinzip auf beobachtbare Sachverhalte - wie z. B. der Wert der getätigten Umsätze - reduziert. Ein anderes Problem ist es, wie die vielen Millionen von Daten, die für die Berechnung des Bruttosozialprodukts nötig sind, tatsächlich erfasst werden können und wie zuverlässig z. B. das bestehende System der Amtlichen Statistik in dieser Hinsicht ist.

Ist das "Bruttosozialprodukt" als Terminus der amtlichen Wirtschaftsstatistik ein aus mehreren Einzelphänomenen zusammengesetzter, aber noch mit einem relativ eindeutigen Bezug zur Realität ausgestatteter Begriff, so wird das bei anderen politischen Begriffen schwieriger. Wenn etwa gesagt wird: "Seit 1975 gibt es in der Bundesrepublik einen zunehmenden Rechtstrend", so handelt es sich bei dem Begriff "Rechtstrend" um einen Begriff, der Phänomene aus den verschiedensten politischen Bereichen umfassen kann, ohne dass eindeutig bestimmt wäre, wie die Zusammenfassung und Gewichtung dieser Phänomene vorzunehmen ist. Heranzuziehen wären etwa folgende Bereiche: die Wahlergebnisse von Rechtsparteien, Verschiebungen in Programmatik und praktischer Politik aller Parteien nach rechts, Verschiebungen in den Einstellungen von Massenmedien und der Bevölkerung nach rechts oder eine verstärkte Aktivität und wachsende Mitgliederzahl rechtsgerichteter Verbände.

Selbst wenn man sich in der Definition dessen, was als politisch "rechts" anzusehen ist, einig ist, können sich aus unterschiedlichen Tendenzen in den Teilbereichen der Politik und aus einer unterschiedlichen Gewichtung der Phänomene unterschiedliche Auffassungen darüber ergeben, ob in der Bundesrepublik  eine Entwicklung nach politisch rechts stattgefunden hat oder nicht. Ein solcher Dissens kann dabei selbst dann bestehen, wenn man sich über die einzelnen Fakten einig ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Streit um derartig unpräzise Globalbehauptungen eher müßig.

Analoge Probleme ergeben sich bei allen Aussagen, die nicht näher präzisierte zusammenfassende Begriffe benutzen wie: "Schärfe der Klassenauseinandersetzung" oder "Grad der Lebensqualität".

Ähnliche Probleme ergeben sich auch bei globalen Aussagen über Kollektive. So ist z. B. die Aussage: "Die politische Aktivität der Studentenschaft ist heute niedriger als 1971" als solche nicht auf einen präzisen Sachverhalt beziehbar, denn bestimmte Teile der Studentenschaft mögen heute aktiver sein als früher, während andererseits die Zahl derer, die überhaupt aktiv sind, geringer sein mag. Wer ist "die Studentenschaft" ? Sind es die Studentenorganisationen oder die einzelnen Studenten?

Besonders deutlich wird diese Problematik an dem Zitat aus dem Philosophischen Wörterbuch von KLAUS/BUHR: "Durch die Entwicklung der marxistisch-leninistischen Theorie und die Herausbildung der revolutionären proletarischen Partei wurde die Arbeiterklasse aus einer 'Klasse an sich' zu einer 'Klasse für sich', die sich ihrer Aufgabe, Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft und Schöpfer der sozialistischen Gesellschaft zu sein, bewusst ist." (KLAUS/BUHR, S.105)

Die Arbeiterklasse setzt sich aus Millionen von Individuen zusammen. Was soll es bedeuten, wenn der Arbeiterklasse als ganzer ein bestimmtes Bewusstsein zugeschrieben wird? Sind alle Arbeiter gemeint? Ist die Mehrzahl der Arbeiter gemeint? Ist der typische Arbeiter gemeint? Sind die Führer der Arbeiter gemeint? Sind die Organisationen der Arbeiter gemeint? Sofern dies nicht näher präzisiert wird, fehlt ein eindeutiger Bezug zu realen Sachverhalten.

 

   Aussagen über innerpsychische Sachverhalte

Auch Aussagen über psychische Sachverhalte sind nicht unmittelbar beobachtbar. Hierzu gehören etwa Aussagen über Einstellungen, Werte, Absichten, Motive, intellektuelle Fähigkeiten und sonstige Charaktereigenschaften. Wie lässt sich z. B. die Behauptung "Unter den Arbeitern überwiegt … auch heute noch die Meinung, sie seien eine in zentralen Bereichen benachteiligte gesellschaftliche Gruppe" empirisch bestätigen? (aus: K.H. HÖRNING, S.240)

Wenn man annimmt, dass Menschen ihre Meinungen äußern, wenn sie danach gefragt werden, hat man mit den Meinungsäußerungen bei Umfragen empirische Daten, von denen sich auf die Meinung zurück schließen lässt. So wurde in der genannten Untersuchung den Arbeitern die Frage vorgelegt: "Glauben Sie, dass die Arbeiter in unserer Gesellschaft benachteiligt sind oder sind sie gleichberechtigt mit anderen Gruppen?" 61% der befragten Arbeiter sahen sich als "benachteiligt" und 21% sahen die Arbeiter als "gleichberechtigt". Mit den Problemen, die beim Rückschluss von verbalen Äußerungen und Verhalten auf zugrunde liegende Einstellungen, Meinungen, Interessen usw. auftreten, befasst sich insbesondere die Theorie der Interviewtechnik.

 

    Motivunterstellungen

Eine wichtiger Bereich von nicht direkt beobachtbaren psychischen Sachverhalten sind die Motive (Ziele, Absichten) von politischen Akteuren. In zeitgeschichtlich orientierten politikwissenschaftlichen Untersuchungen geht es häufig um die Beschreibung politischer Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften. Dabei wird jedoch gewöhnlich nicht nur das unmittelbar der Wahrnehmung zugängliche Verhalten der Akteure beschrieben, sondern diesem Verhalten werden bestimmte Ziele und Absichten beigelegt, es wird als Handeln interpretiert und den Akteuren werden  bestimmte Motive unterstellt.

Das Problem bei derartigen Motivunterstellungen besteht darin, dass eine bestimmte Handlung sehr verschiedenen Motiven entspringen kann. Wenn z. B. eine Regierungskoalition ein Gesetz durchbringt, das einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung unmittelbar Vorteile bringt, wie z. B. die Verbesserung des Mutterschutzes für berufstätige Frauen, so kann man diese Gesetzesreform mit den verschiedensten Absichten verknüpfen. Die Regierungskoalition mag das getan haben,

- "um den berufstätigen Müttern ihre schwierige Lage zu erleichtern",
- "um die zunehmende politische Unruhe unter den Frauen zu bekämpfen und weitergehende Forderungen abzuwehren",
- "um das weitere Absinken der Geburtenrate mit seinen negativen wirtschaftlichen Folgen zu bekämpfen".

Jedes mal erscheint das Handeln der Regierung in einem andern Licht.

Ein Beispiel aus der deutschen Geschichte mag dies noch einmal verdeutlichen:

"Als nach dem Aufstand der Matrosen am 3.November 1918 die Spartakusgruppe systematisch zur Revolution drängte, womit sie auch am 7. November in Nordwestdeutschland und in Bayern Erfolg hatte, sah sich angesichts der auch auf Berlin übergreifenden revolutionären Welle die Mehrheitssozialdemokratie zum schnellen Handeln gezwungen. Ebert war keineswegs für die Beendigung der Monarchie. .. Ebert versuchte noch, den Kanzler Prinz Max von Baden, in dessen Regierung die SPD mit Scheidemann im Oktober 1918 eingetreten war, als Reichsverweser zur zumindest vorläufigen Bewahrung der Monarchie zu gewinnen. Die Ereignisse überstürzten sich aber nun. Am Mittag des 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann vom Fenster des Reichstages die Republik aus, um die Wiederholung der russischen Vorgänge in Deutschland zu vermeiden." (G. Olzog / A. Herzig: Die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. München-Wien: Olzog 1973, S.70-71).

Eine Aussage, wie die, dass die Mehrheitssozialdemokratie "diesen Umsturz nicht gewollt … hatte", bezieht sich offensichtlich nicht auf einen direkt beobachtbaren Sachverhalt, sondern lässt sich nur indirekt aus bestimmten beobachtbaren Tatbeständen und unter Zuhilfenahme bestimmter theoretischer Annahmen erschließen. Vor allem kann man nicht einfach auf Selbstdarstellungen der eigenen Absichten zurückgreifen, da es in politischen Auseinandersetzungen für die Akteure häufig vorteilhaft ist, ihre wahren Absichten zu verbergen.

Um zu verhindern, dass beliebige Motivunterstellungen vorgenommen werden, die geeignet sind, die betreffenden Akteure herabzusetzen oder aufzuwerten, müssen die methodologischen Kriterien solcher Motivunterstellungen geklärt werden.

Wenn keine glaubwürdigen eigenen Äußerungen über die mit bestimmten Handlungen verbundenen Absichten vorliegen, so lassen sich diese nur auf sehr komplizierte Weise erschließen, wozu hier nur einige Hinweise gegeben werden können.

Wenn man davon ausgeht, dass ein Akteur bestimmte Wert- und Interessenstrukturen hat, die er möglichst verwirklichen möchte, so muss man zuerst analysieren, welche Handlungsmöglichkeiten ihm in einer bestimmten Situation offen stehen.

Man muss dann zeigen, dass diejenige Handlungsmöglichkeit, die seinen eigentlichen Zielen am nächsten kommt, nicht gewählt werden kann, weil sie Konsequenzen mit zu großen Nachteilen für den Akteur hätte, also mit anderen, wichtigeren Zielen in Konflikt gekommen wäre. Aufgrund solcher Nachteile könnte man davon sprechen, dass jemand "gezwungen" war, statt der direkten Verfolgung seines eigentlichen Zieles eine andere Handlung zu wählen.

Im obigen Beispiel argumentieren die Autoren folgendermaßen:
"Ebert war keineswegs für die Beendigung der Monarchie. Das Schicksal Wilhelms II. hielt er erst für entschieden, als er sehen musste, dass durch dessen Person der Linksradikalismus gestärkt wurde." (OLZOG/HERZIG, S. 71). Die Führer der Mehrheitssozialdemokratie haben danach also eigentlich nicht die Republik errichten wollen, sondern sie haben die Republik nur deshalb ausgerufen, weil sie Schlimmeres verhindern wollten, nämlich den Sieg des Spartakusbundes und die "Wiederholung der russischen Vorgänge".

Ohne über die historische Richtigkeit dieser Darstellung hier entscheiden zu wollen, soll doch auf einige Probleme dieser Argumentation hingewiesen werden. Ausgegangen wird dabei von der Annahme folgender Zielstruktur bei Ebert, die dann auf die Mehrheitssozialdemokratie übertragen wird: Sein eigentliches Ziel war eine parlamentarische Regierungsform unter Beibehaltung der Monarchie, die zweitbeste Lösung war die parlamentarische Republik und die schlechteste Lösung war eine Räterepublik nach russischem Vorbild. Da der Versuch zur Durchsetzung der besten Lösung die Gefahr eines Umschlagens in die schlechteste Lösung mit sich gebracht hätte, entschied sich die Führung der Mehrheitssozialdemokraten für die zweitbeste Lösung, die parlamentarische Republik.

Eine solche Interpretation ist sicherlich in sich stimmig und macht das Handeln der Beteiligten rational verstehbar und nachvollziehbar. Aber genauso plausibel wäre das Handeln der Führung der Mehrheitssozialdemokraten natürlich auch bei folgender Präferenzrangfolge: 1. parlamentarische Republik, 2. parlamentarische Monarchie, 3. Räterepublik.

Damit verlagert sich das Problem auf die Bestimmung der Zielstruktur bestimmter Akteure. Um zu entscheiden, welche der beiden möglichen Zielstrukturen angenommen werden sollte, müsste man das übrige Verhalten der Akteure daraufhin untersuchen, mit welcher der möglichen Zielstrukturen es besser vereinbar wäre. Kompliziert wird die ganze Analyse dabei immer noch dadurch, dass sich die Zielstrukturen der Akteure im Laufe der Zeit verändern können, so dass das Handeln Eberts im Jahre 1919 bereits schon keine Rückschlüsse mehr über seine Einstellung zur Monarchie im November 1918 zulässt.

Um Rückschlüsse auf die Motive der Akteure ziehen zu können, muss man außerdem die Situation immer aus der Sicht der Akteure rekonstruieren und kann nicht einfach die Situation zugrunde legen, wie sie sich einem selbst heute aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen darstellt.

Aus den angestellten Überlegungen wird deutlich, welche komplizierten Sachverhalte zu klären sind, wenn man Behauptungen über Motive und Absichten politischer Akteure machen will. Deshalb lässt sich mit solchen Behauptungen auch gut polemisieren.

 

    Positive Behauptungen mit verstecktem normativen Inhalt  

Handelt es sich bei den Motivunterstellungen noch um Behauptungen, die sich - wenn auch indirekt - auf beobachtbare Sachverhalte beziehen, so finden sich in der Politikwissenschaft häufig auch Aussagen, die zwar als Aussagen über die Wirklichkeit auftreten, deren Bezug zu erfahrbaren Sachverhalten jedoch völlig unklar ist.

Ein Beispiel hierfür ist der Satz: "Die Abschaffung des Lohnsystems und die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft ist das objektive Interesse aller Lohnabhängigen."

Handelt es sich bei dieser Behauptung um die Feststellung eines tatsächlichen Sachverhalts oder nicht? Offensichtlich sind mit dem Begriff "objektives Interesse" nicht die tatsächlich bewussten Ziele und Absichten der abhängig Beschäftigten gemeint, denn es gilt nicht als Widerlegung des genannten Satzes, wenn gezeigt wird, dass ein Teil oder gar die Mehrheit der Lohnabhängigen auf Befragen kein Interesse an der Abschaffung des Lohnsystems äußert. Was ist aber dann der Sinn dieser Behauptung? Welche Eigenschaft wird einem Lohnabhängigen zugeschrieben, wenn ihm ein derartiges objektives Interesse unterstellt wird?

Eine mögliche Antwort darauf gibt G. LUKACS in seiner Arbeit "Geschichte und Klassenbewusstsein":

"Indem das Bewusstsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus ergebenden Interessen sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den - diesen Interessen gemäßen - Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären; die Gedanken usw. also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind." (G. LUKACS: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 62)

Gemeint sind demnach die "wahren" Interessen der Lohnabhängigen, also diejenigen Interessen, die die Lohnabhängigen vernünftigerweise haben sollten. Wenn es sich aber bei den "objektiven Interessen" um die Interessen handelt, die die Individuen unter der Bedingung völliger Aufgeklärtheit haben würden, so zeigt schon die Form des Konjunktivs an, dass es sich hier nicht um die Bezeichnung eines realen Sachverhalts handelt.

Man könnte dieser Konstruktion "objektiver Interessen" dadurch eine empirische Bedeutung geben, dass man von der Annahme ausgeht, dass Menschen auf die Dauer tatsächlichen subjektiven Interessen diesem objektiven Interesse angleichen. Die falschen Vorstellungen und Hoffnungen der Lohnabhängigen werden durch die Wirklichkeit  enttäuscht und damit korrigiert. Die objektiven Interessen wären dann gewissermaßen eine Art Zielpunkt, auf den hin sich der kollektive Lernprozess faktisch bewegt.

Unabhängig von solchen überaus problematischen Annahmen darüber, dass sich in den Köpfen der Menschen letztlich ihr wahres Interesse durchsetzen wird, wird der Begriff eines objektiven oder - wie man wegen der Vieldeutigkeit des Begriffs "objektiv" besser sagen würde - eines aufgeklärten Interesses nicht dadurch sinnlos, weil er keinen realen Sachverhalt bezeichnet. Der Begriff des aufgeklärten Interesses ist z. B. von Bedeutung bei normativen Fragestellungen, also Fragen danach, wie die Wirklichkeit beschaffen sein soll.

 

    Die Selektivität jeder Beschreibung

Im Vorangegangenen wurde immer von bestimmten beschreibenden Aussagen ausgegangen und es wurde gefragt, wie sich über diese Aussagen anhand von Erfahrung ein argumentativer Konsens herstellen lässt. Nun lassen sich über einen Gegenstandsbereich jedoch unbegrenzt viele beschreibende Aussagen machen, die alle wahr sein können. Anders ausgedrückt: die vollständige, erschöpfende Beschreibung eines Gegenstandes ist unmöglich.

Ein Alltagsbeispiel mag dies verdeutlichen. Selbst wenn ich einen relativ einfachen Gegenstand habe wie z. B. einen Tisch, so kann ich darüber beliebig viele beschreibende Aussagen machen. Beispiele wären etwa: "Dieser Tisch ist 20 kg schwer, er ist 70 cm hoch und 2 m lang, seine Beine sind aus Eisen, die Platte ist aus Holz, er ist 10 Jahre alt, usw. usw." Diese unvermeidliche Selektivität jeder Beschreibung gilt auch für die beschreibende Politikwissenschaft.

Wenn fünf Autoren ein Buch über die Nachkriegsentwicklung Westdeutschlands schreiben, so können dabei fünf völlig unterschiedliche Texte zustande kommen, ohne dass irgendeiner in dem Sinne falsch sein müsste, dass es die jeweils behaupteten Sachverhalte nicht gegeben hätte. Jeder der fünf Autoren kann aus einem andern Blickwinkel und mit anderen Begriffen denselben Gegenstand beschrieben haben.

Der Streit, wer von den Autoren den Gegenstand nun "richtig" oder "richtiger" darstellt, lässt sich auf der Ebene rein beschreibender Aussagen nicht entscheiden und auf dieser Ebene ist der Streit insofern auch müßig. Auch der Nachweis, dass ein Autor diesen oder jenen Sachverhalt nicht erwähnt hat, ist als solcher kein Einwand, denn - wie bereits gesagt - ist jede Beschreibung in diesem Sinne unvollständig.

Trotzdem ist der Streit um die angemessene Beschreibung politischer Sachverhalte nicht sinnlos. Er wird sinnvoll, wenn man die Beschreibung nicht als Endpunkt des Erkenntnisprozesses versteht, sondern als Erkenntnis, auf Grund derer dann weitere Fragen beantwortet werden sollen. Vom Standpunkt solcher übergeordneter Fragestellungen werden dann bestimmte Sachverhalte wichtig und andere unwichtig.

Der Vorwurf, ein Autor habe "wesentliche Aspekte der Sache nicht erfasst" oder gar "unterschlagen", bleibt solange ein leerer Vorwurf, wie nicht ausgeführt wird, von welcher Problemstellung aus diese Gewichtung der Sachverhalte vorgenommen wird. Für den einen mag an einem Buch wesentlich sein, welchen Inhalt es hat, während für den andern wichtig ist, wie lange das Buch im Ofen brennt und sein Zimmer erwärmt.

Dass Beschreibungen von Sachverhalten als solche vielleicht wahr sind, aber trotzdem unter bestimmten Gesichtspunkten ungenügend sein können, drückt sich im Alltag schon in der Redewendung aus, "dass dies nur die halbe Wahrheit" sei.

Wenn vor Gericht Zeugen gehört werden, so werden sie nicht nur aufgefordert, nicht die Unwahrheit zu sagen, sondern sie werden auch aufgefordert, die "ganze" Wahrheit zu sagen und nichts auszulassen oder zu verschweigen. Hier ist der Zusammenhang offensichtlich, von dem her die Relevanz bestimmter Tatbestände beurteilt werden muss, denn vor Gericht geht es um die Frage, ob ein Angeklagter die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat oder nicht; und wenn ja, wie schwer er dafür bestraft werden soll. Es gibt also eine übergeordnete normative Fragestellung, von der her die Relevanz bestimmter Sachverhalte beurteilt werden kann. Solche normativen Fragestellungen ("Wie ist ein bestimmter politischer Akteur und dessen Handeln zu bewerten?") liegen Auseinandersetzungen um die "dem Gegenstand angemessene Darstellung" häufig zugrunde.

So wird man das Verbot der KPD im Jahre 1956 und die strafrechtliche Verfolgung einer Tätigkeit im Sinne der verbotenen KPD unterschiedlich bewerten, je nachdem, wie zur gleichen Zeit nazistisch orientierte Organisationen und unbelehrbare ehemalige Mitglieder der NSDAP von der Justiz behandelt wurden.

Ebenso wird man die Proklamierung der SPD zur "Volkspartei" auf dem Godesberger Parteitag von 1959 weniger kritisch bewerten, wenn man berücksichtigt, dass die SPD in den 10 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik bei Bundestagswahlen niemals mehr als ein Drittel der Wählerstimmen bekam.

Immer wenn es in der Politikwissenschaft offen oder unausgesprochen darum geht, in einem politischen Konflikt eine bestimmte Parteinahme nahe zu legen, steht eine normative Fragestellung im Hintergrund und die Sachverhalte werden unter diesem Gesichtspunkt relevant. Dies ist z. B. in politikwissenschaftlichen Untersuchungen von Oppositionsbewegungen, Streiks oder Kriegen der Fall.

Neben übergeordneten normativen Fragestellungen können jedoch auch theoretische Fragen nach den ursächlichen Bedingungen bestimmter Phänomene ein Kriterium für die Relevanz bestimmter Sachverhalte abgeben. Wieso ging z. B. die politische Justiz der Weimarer Republik gegen linke Gegner der parlamentarischen Republik so viel schärfer vor als gegen rechte? Ohne eine Untersuchung der personellen Zusammensetzung von Beamtenschaft und Militär, die durch eine ungebrochene Kontinuität seit der Kaiserzeit gekennzeichnet war, muss die Entwicklung der Weimarer Republik in vieler Hinsicht unerklärlich bleiben.

Übergeordnete theoretische Fragestellungen können auch beim Streit zwischen unterschiedlichen Beschreibungen der Bundesrepublik als "Klassengesellschaft" oder als "geschichtete Gesellschaft" Gesichtspunkte abgeben, von denen her die Angemessenheit beider Beschreibungen beurteilt werden kann.

Wenn man die "Klassen" innerhalb einer Bevölkerung durch das jeweilige Besitzverhältnis zu den sachlichen Produktionsmitteln definiert, so lassen sich in der Bundesrepublik verschiedene Klassen beschreiben, da es einerseits Individuen gibt, die sachliche Produktionsmittel besitzen, und andererseits Individuen, die nur über ihre Arbeitskraft verfügen können.

Die Bundesrepublik lässt sich aber auch als geschichtete Gesellschaft beschreiben, wenn man "Schichtung" als die Ordnung sozialer Positionen bzw. ihrer Inhaber nach dem Grad ihres sozialen Ansehens definiert. Auf der Ebene solcher Beschreibungen erscheint ein Streit um die richtige Auffassung als müßig, weil mit beiden Begrifflichkeiten zutreffende Aussagen über die soziale Realität der Bundesrepublik gemacht werden können, auch wenn es sich um unterschiedliche Sachverhalte handelt.

Wenn man jedoch Fragestellungen verfolgt, die über die bloße Beschreibung hinausgehen, so erscheinen beide Beschreibungen als unterschiedlich brauchbar. Will man etwa die Frage nach den Bedingungen für bestimmte Konflikte wirtschaftlicher und politischer Art stellen, sind Feststellungen über die Klassenzugehörigkeit im oben definierten Sinne sicherlich nützlicher sein als Feststellungen über die Stellung in einer Hierarchie sozialen Ansehens.

Andererseits muss auch ein solches Schichtungsschema nicht völlig unbrauchbar sein, denn es kann vielleicht Unterschiede in der Häufigkeit der sozialen Interaktion und bestimmte kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen bestimmten Teilen der Bevölkerung erklären, wenn man voraussetzt, dass die Einzelnen bestrebt sind, möglichst Kontakte mit Leuten aufzunehmen, die im sozialen Ansehen mindestens gleich oder höher als sie selber stehen.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich geworden sein, dass die Konfrontation unterschiedlicher beschreibender Darstellungen politischer Gegenstände inhaltsleere Polemik bleibt, solange nicht die übergeordneten Fragestellungen, zu deren Beantwortung die beschreibenden Aussagen einen Beitrag leisten sollen, deutlich gemacht werden.

Sofern allerdings in den Fragestellungen selber bereits Unterschiede bestehen, verlagert sich der Streit auf die Frage nach der Relevanz dieser verschiedenen Fragestellungen. Dahinter steht die politisch-ethische Frage, welchen Problemen und Interessen die wissenschaftliche Tätigkeit dienen soll.

 

            Die Werthaltigkeit beschreibender Aussagen

Das Problem der Wertbezogenheit von Beschreibungen betrifft bereits die einzelnen Wörter und sprachlichen Ausdrücke, die zur Beschreibung umgangssprachlich benutzt werden. Die Umgangssprache dient nicht nur zur Mitteilung von Informationen über die Beschaffenheit der Realität, sondern sie vermittelt zugleich die positive oder negative Einstellung des Sprechers zu dieser Realität. Dies muss nun nicht unbedingt in ausdrücklichen Werturteilen geschehen wie: "Ich verurteile dies Verhalten" oder: "Solche Vorkommnisse sollten verhindert werden" oder: "Diese Forderung ist berechtigt" etc., sondern die Sprache stellt Wörter zur Verfügung, die neben ihrem empirischen Gehalt zugleich auch eine bestimmte Einstellung ausdrücken. Rhetorisch nutzt man diesen Umstand, indem man durch eine geschickte Wortwahl den jeweiligen Gegenstand in positivem oder negativem Licht erscheinen lässt.

Beispiele für die positive oder negative Wertgeladenheit der Begriffe lassen sich in der Politikwissenschaft ohne Schwierigkeiten finden:
Der eine spricht vom "Friedensvertrag von Versailles", der andere vom "Diktat von Versailles",
der eine spricht von der "amerikanischen Schutzmacht", der andere von den "amerikanischen Besatzern",
der eine spricht von der "Remilitarisierung" der Bundesrepublik, der andere von ihrer "Wiederbewaffnung",
der eine spricht von der "führenden Rolle der Partei in allen gesellschaftlichen Bereichen", der andere spricht von einem "totalitären Einparteienregime",
der eine spricht von einer "unermüdlichen Überzeugungsarbeit", der andere von einem "aktivistischen Propagandaeinsatz".

Die Reihe solcher Gegenüberstellungen von beschönigenden oder herabsetzenden Bezeichnungen des gleichen Sachverhalts ließe sich noch beliebig fortsetzen.

Insofern solche unterschiedlichen Formulierungen tatsächlich den gleichen Sachverhalt ausdrücken, ist der Streit darum, welche der Beschreibungen empirisch "richtig" ist, sinnlos. Leider erschöpfen sich viele politische Streitgespräche in der Gegenüberstellung von unterschiedlichen Beschreibungen, die bei näherem Hinsehen den gleichen empirischen Sachverhalt behaupten. Der Dissens besteht dann offensichtlich nur in Bezug auf die Wertung des Sachverhalts.

Wertgeladene Begriffe stellen für die positive Politikwissenschaft solange kein Problem dar, wie der empirische Gehalt der benutzten Begriffe eindeutig bestimmt ist. Die beschreibende Aussage: "Im Gefolge des 2. Weltkriegs gab es unter der Bevölkerung der Sowjetunion mehr als 20 Millionen Tote" enthält für viele Menschen implizit zugleich einen Vorwurf gegen die Verantwortlichen für diesen Krieg.

Die Werttönung von Begriffen lässt sich nicht völlig beseitigen. Selbst wenn ein Wissenschaftler völlig neue Kunstworte bilden würde - was methodologisch ja zulässig ist -, so könnte er nicht verhindern, dass diese Worte im Laufe der Zeit ebenfalls eine bestimmte Wertfärbung erhalten.

Problematisch für eine positive Politikwissenschaft ist es jedoch dann, wenn die empirische Bedeutung der benutzten Begriffe vage, unklar oder uneinheitlich ist. Da viele Begriffe der Politikwissenschaft der politischen Umgangssprache entstammen und kein Versuch zu ihrer Präzisierung unternommen wird, bleibt der affektgetönten, wertgeladenen Wortwahl in der Politikwissenschaft ein weites Feld. Mit empirisch entleerten Begriffen können jedoch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen werden. Man kann damit nur noch bestimmte Einstellungen verstärken.

Gerade hochgradig wertgeladene Begriffe sind in der Gefahr, zu "Schlagworten" abzusinken, da sie in der politischen Auseinandersetzung besonders wirksam sind. Wenn heute z. B. "faschistisch" bei den meisten Leuten ein stark negativ geladener aber in seiner Bedeutung vager Begriff ist, so liegt die Versuchung nahe, den jeweiligen Kontrahenten als "faschistisch" abzustempeln und ihn dadurch zu diskreditieren. Wenn gleichzeitig keine Definition des Begriffes "faschistisch" mitgeliefert wird, lässt sich kaum entscheiden, ob die Anwendung des Begriffes in einem bestimmten Fall nun gerechtfertigt ist oder nicht.

Ein anderes Beispiel für das Absinken von Begriffen zu reinen Schlagworten und Kampfbegriffen findet sich bei BLANKE u. a. Dort heißt es:

"Dass der Begriff 'marxistische Wissenschaft' von ihren Gegnern fast nur als Denunziationsformel benutzt wird, braucht nicht näher ausgeführt zu werden. Aber auch 'bürgerliche Wissenschaft' kann zum bloßen Kampfbegriff werden. Er richtet sich dann nicht nur gegen den etablierten Wissenschaftsbetrieb, sondern wird ebenfalls als Diffamierungsstrategie in den Fraktionierungsprozessen der Neuen Linken verwendet. 'Bürgerliche Wissenschaft' wird so zum Sammelbegriff für Apologetik, Verwertbarkeit im Sinne des Kapitals, falsche Parteilichkeit, Oberflächlichkeit, falsche Marx- bzw. Marxismusrezeption, Seminarmarxismus, Theorietreiberei und anderes mehr; er verliert schließlich jede spezifische analytische Bedeutung" (BLANKE u.a., S. 12-13).

Begriffe, die wenig über den bezeichneten Sachverhalt aussagen aber dafür umso mehr über die Einstellung des Sprechers zu diesem Sachverhalt, finden sich in der politischen Argumentation häufig. Beispiele sind: "reaktionär", "freiheitlich", "extremistisch", "subversiv". Fast alle zentralen Begriffe der Politischen Wissenschaft wie "liberal", "konservativ", "sozialistisch", "anarchistisch", "kommunistisch" usw. sind durch ihre Verwendung in der politischen Auseinandersetzung vage und uneinheitlich geworden, d. h. sie können nur dann zur Beantwortung von Fragen über die Beschaffenheit der politischen Realität brauchbar sein, wenn jeweils ausdrücklich präzisiert wird, auf welche Sachverhalte man diese Begriffe anwenden will.

Wenn jemand mit empirisch gehaltlosen aber affektiv aufgeladenen Worthülsen politische Phänomene etikettiert, um - je nach politischem Standort -  zustimmende oder ablehnende Reaktionen hervorzurufen, so besteht nicht die geringste Gewähr dafür, dass diese Reaktionen einer normativen Begründung fähig sind - eher ist das Gegenteil zu vermuten. So können sich z. B. entschiedene Wertungen an bloßen Worthülsen festmachen, mit denen ihre Benutzer keine klare Bedeutung verbinden. Das Wort "zionistisch" kann z. B. für jemanden ein extrem negatives Wort sein, ohne dass er aber damit eine auch nur halbwegs präzise Bedeutung verbindet. Aber etwas Unbestimmtes, nur vage Bekanntes kann man vernünftiger Weise nicht sinnvoll bewerten.

Das Problematische an der Etikettierung mit relativ ungenauen aber stark wertgeladenen Begriffen wird dann deutlich, wenn an solche Etiketten reale Sanktionen geknüpft werden. Was bedeutete es z. B. während der Stalinschen Säuberungen, wenn jemand als "Rechtsabweichler" etikettiert wurde? Oder was bedeutete es während der McCarthy-Ära in den USA, als "Kommunist" zu gelten? Ähnliche Probleme - wenn auch unterschiedlichen Ausmaßes - stellen sich praktisch in allen politischen Systemen.

Die wertgeladene Beschreibung eines Sachverhaltes muss unterschieden werden von der expliziten Bewertung eines Sachverhaltes. Die Beschreibung eines bestimmten politischen Systems als "faschistisch" beinhaltet kein negatives Werturteil, denn "faschistisch" hat für bestimmte Gruppen einen positiven Klang. Der Wertgehalt liegt hier also eigentlich nicht in dem Bedeutungsgehalt des Wortes "faschistisch" sondern in den wertgeladenen Assoziationen, die dieser Begriff auslöst.

Wertgeladene Beschreibungen appellieren an bereits vorhandene Werthaltungen, ohne dass damit diese Werthaltungen selber in Frage gestellt werden. Insofern können wertgetönte Beschreibungen und Klassifizierungen eine normative Diskussion nicht ersetzen. Möglicherweise sind diese Werthaltungen nur "Vorurteile" und gefühlsmäßige Assoziationen, die in keiner Weise begründbar sind.

Wo es nicht nur um Rhetorik geht sondern um allgemeingültige politische Wertungen, reicht die bloße Beschreibung politischer Sachverhalte in wert- und affektgeladenen Begriffen nicht aus. Die Werthaltungen, an die appelliert wird, müssen ausformuliert und in die Argumentation einbezogen werden.

            Die Beschreibung durch Bilder und Metaphern

Eine besondere Problematik taucht für die beschreibende Politikwissenschaft dann auf, wenn die politischen Sachverhalte durch Bilder und Analogien, also in einer Metaphernsprache dargestellt werden. Die Bilder können dabei den verschiedensten Bereichen entnommen sein, von der Kriegführung bis zur Medizin. Da wird ein Staat als "Satelliten-Staat" bezeichnet, eine Regierung als "Marionettenregime", ein Land als "Speerspitze des US-Imperialismus", eine Partei als "5. Kolonne Moskaus", ein Staat als "Organismus", "'Wesen" oder gar "Person", es ist von der "Knebelung der Bevölkerung" die Rede, vom "Vormarsch des Faschismus", von der "Krise" eines politischen Systems usw.

Das Problem bei der Verwendung einer solchen Bildersprache zur Beschreibung politischer Sachverhalte besteht darin, dass gewöhnlich nicht präzisiert wird, welchen Sachverhalt das Bild bezeichnen soll und wieweit die Analogie zwischen dem Bild und dem damit charakterisierten Sachverhalt gehen soll. Natürlich ist kein Staat ein "Satellit" eines andern Staates im Sinne der Astronomie. Welche Form der Abhängigkeit zwischen den beiden Staaten behauptet man, wenn man die Metapher "Satelliten-Staat" anwendet? Was behauptet man, wenn man feststellt, dass sich eine politisches System in der "Krise" befindet oder "krank" und "verfault" ist?

Eine politische Bildersprache mag einprägsame Formeln ergeben und die Aufmerksamkeit ohne die Kenntnis einer komplizierten Begrifflichkeit auf bestimmte Aspekte und Zusammenhänge richten, aber solange der empirische Gehalt der verwendeten Bilder nicht präzisiert ist, eignen sich Metaphern nicht für die wissenschaftliche Beschreibung politischer Sachverhalte. Insofern Bilder nur im übertragenen Sinne Geltung beanspruchen, lässt sich über deren Wahrheit oder Falschheit nicht sinnvoll streiten, höchstens über deren Angemessenheit. Nicht umsonst spricht man ja auch kritisch von einem "schiefen", "unglücklichen" Bild. Wie soll man sich etwa über den folgenden Satz streiten: "Der Antikommunismus, von den Haupteinpeitschern imperialistischer Aggression zur Staatsdoktrin erhoben, wurde zum schmutz- und bluttriefenden Banner, unter dem sich die reaktionären Kräfte aller Schattierungen sammeln." (Politisches Grundwissen, S. 273) "Antikommunismus" ist offenbar etwas ganz Schlimmes, aber was hier wirklich vorgegangen ist, bleibt weitgehend unklar und damit undiskutierbar.

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2. Methodenprobleme der erklärenden Politikwissenschaft

            Die Grenzen beschreibender Aussagen

Fragen danach, wie sich bestimmte Missstände verändern lassen oder wie sich bestimmte Ziele erreichen lassen, können  allein mit deskriptiven Aussagen nicht beantwortet werden. Auch bei Fragen in Bezug auf die Zukunft reicht die Beschränkung auf deskriptive Aussagen nicht aus. Im Prinzip kann man zwar Prophezeiungen in der Form deskriptiver Aussagen machen, z. B. "Die CDU/CSU wird die nächste Bundestagswahl gewinnen", aber da zukünftige Sachverhalte noch nicht real und deshalb auch noch nicht wahrnehmbar sind, bleibt die Gültigkeit einer solchen Prophezeiung völlig ungewiss. Um begründete Voraussagen zu machen, muss man über die bloße Beschreibung hinausgehen und z. B. empirische Regelmäßigkeiten und Beständigkeiten aufdecken.

Die beschränkte Aussagekraft deskriptiver Aussagen wird daran deutlich, dass genau genommen jede raum-zeitlich bestimmte Aussage zum Zeitpunkt ihrer Formulierung bereits veraltet ist und vergangene Sachverhalte beschreibt. Ob der beschriebene Sachverhalt gegenwärtig noch gilt, ist eine offene Frage. Allerdings gibt es bestimmte soziale Sachverhalte, die sich entweder nur sehr langsam oder aber nur in größeren Zeitabständen verändern. Deshalb können z. B. frühere Beschreibungen der Bevölkerungsstruktur, der politischen und wirtschaftlichen Institutionen oder der Parteienstruktur der Bundesrepublik Informationen über die gegenwärtigen Verhältnisse liefern, obwohl die Beobachtungen, die diesen Beschreibungen zugrunde liegen, sich auf einen vergangenen Zeitraum beziehen. Ohne diese relative Konstanz bestimmter sozialer Phänomene wäre der Großteil der empirischen Politikwissenschaft wohl nur für die Geschichtswissenschaft von Bedeutung.

Neben der zeitlichen Beschränkung haben deskriptive Aussagen auch eine räumliche Beschränkung. Sie gelten nur für jeweils bestimmte Gegenstände. Wenn ich z. B. das Verhalten der Wähler in einer bestimmten Gemeinde untersuche und beschreibe, weiß ich damit erstmal noch nichts über das Verhalten der Wähler in anderen Gemeinden. Wenn ich außerparlamentarische Einflüsse auf ein bestimmtes Gesetz untersuche und beschreibe, weiß ich damit noch nichts darüber, wie dieser Einfluss im Falle anderer Gesetze aussieht. Mit deskriptiven Aussagen allein ist kein Schluss vom untersuchten Gegenstand auf andere gleichartige Gegenstände möglich.

 

            Die Aufdeckung empirischer Regelmäßigkeiten

Generell lässt sich also feststellen: Immer dann, wenn wir Fragen in Bezug auf Sachverhalte haben, über die keine Beobachtungen vorliegen, reichen deskriptive Aussagen nicht aus. Nur unter der Voraussetzung, dass wir bestimmte Dauerhaftigkeiten und Regelmäßigkeiten in der Realität annehmen, ist es uns möglich, von beobachteten Sachverhalten auf noch nicht beobachtete Sachverhalte zu schließen.

Wenn z. B. vorausgesetzt werden kann, dass die Existenz eines Sachverhalts x eine hinreichende Bedingung für den Sachverhalt y ist, wenn also der Satz gilt: "Immer wenn x gegeben ist, dann ist auch y gegeben", kann ich bei Vorliegen des Sachverhalts x auf das Vorliegen des Sachverhalts y schließen. Unter der Voraussetzung einer solchen Regelmäßigkeit in der Realität kann ich z. B. den Sachverhalt y herbeiführen, indem ich den Sachverhalt x erzeuge.

Eine andere Form des Zusammenhangs in der Realität besteht, wenn x eine notwendige Bedingung für das Auftreten von y ist und der Satz gilt: "Nur wenn x gegeben ist, ist auch y gegeben". Falls y ein unerwünschter Sachverhalt ist, könnte man y dadurch beseitigen, dass man x beseitigt. Ein trivialer Fall einer notwendigen Bedingung wäre etwa "Nur wenn ein Individuum über die Durchführung einer Wahl informiert ist, wird es sich an der Wahl beteiligen". Durch entsprechende Information bzw. Nicht-Information kann man also unter Voraussetzung dieser Regelmäßigkeit einen Einfluss auf die Wahlbeteiligung nehmen.

Aufgrund der außerordentlichen Leistungsfähigkeit von Aussagen, die einen regelmäßigen Zusammenhang zwischen verschiedenen Phänomenen behaupten, ist es verständlich, dass die Suche nach derartigen empirischen Regelmäßigkeiten in der Wissenschaft einen wichtigen Platz einnimmt. Es gibt sogar Wissenschaftstheoretiker, die Wissenschaft gleichsetzen mit der Entdeckung solcher Regelmäßigkeiten und deren Formulierung in entsprechenden Theorien. Maßstab ist hierbei meist die Physik, die als die am weitesten entwickelte positive Wissenschaft gilt. Die Physik hat eine Fülle von Theorien über regelmäßige Zusammenhänge in der Realität geliefert und damit die Grundlage für deren technische Anwendung geliefert.

Auch in der positiven Politikwissenschaft gibt es Versuche zur Formulierung empirischer Regelmäßigkeiten und zur Aufstellung allgemeiner Theorien, die in ihrem Anwendungsbereich nicht auf bestimmte einzelne Gegenstände beschränkt sind, sondern auf ganze Klassen von Gegenständen anwendbar sind, z. B. auf alle kapitalistischen Wirtschaftssysteme, auf alle parlamentarischen Regierungssysteme, auf alle Industriegesellschaften, auf alle bürokratischen Organisationen, auf alle politischen Parteien, auf alle Wähler, auf alle Industriearbeiter.

Bevor die Probleme einer Aufstellung und Überprüfung derartiger Theorien näher behandelt werden, sei jedoch darauf hingewiesen, dass gerade auf dem Gebiet der Theoriebildung viele Fragen methodologisch ungeklärt und zum Teil heftig umstritten sind. Über Fragen sozialer und historischer "Gesetzmäßigkeiten" und über den Kausalitätsbegriff gibt es unter den Methodologen und Philosophen die verschiedensten Positionen. Was ich hier vortrage, kann deshalb nur ein vorläufiges Zwischenergebnis mit vielen offenen Problemen sein.

            Orientierungshypothesen

Geht man einmal die politologische Literatur daraufhin durch, welche empirischen Regelmäßigkeiten darin behauptet werden, so fällt auf, dass Behauptungen über strikte Regelmäßigkeiten etwa von der oben genannten Art: "Immer wenn A, dann B" oder "Nur wenn A, dann B" außerordentlich selten sind. Stattdessen finden sich Formulierungen, die zwar einen Zusammenhang zwischen bestimmten Sachverhalten behaupten, dabei jedoch Art und Eindeutigkeit dieses Zusammenhangs mehr oder weniger offen lassen. Ein Beispiel für eine derartige unbestimmte Regelmäßigkeit ist etwa die bekannte These der materialistischen Geschichtsauffassung, dass das gesellschaftliche Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt.

Der Zusammenhang, der in dieser These behauptet wird, ist offensichtlich ganz allgemeiner Art, denn es wird nicht gesagt, welche Veränderungen im gesellschaftlichen Sein zu welchen Veränderungen im Bewusstsein führen bzw. welchem gesellschaftlichen Sein welches Bewusstsein entspricht. Es wird nur ganz allgemein behauptet, dass Veränderungen im gesellschaftlichen Sein zu Veränderungen im Bewusstsein führen und dass umgekehrt Veränderungen im Bewusstsein der Menschen nicht zu Veränderungen in ihrem gesellschaftlichen Sein führen. Wenn ich also ein bestimmtes Bewusstsein, z. B. religiöse Vorstellungen, verändern will, so kann mir die obige These nicht sagen, welche Aspekte des gesellschaftlichen Seins der betreffenden Individuen ich in welcher Weise ändern muss.

Solche Aussagen, die sich auf die Feststellung beschränken, dass bestimmte Zusammenhänge bestehen und die Faktoren bzw. die Faktorenbereiche nur nennen, ohne zu präzisieren, welcher Art dieser Einfluss genau ist, kann man als "Orientierungshypothesen" bezeichnen, weil sie eher eine Orientierung für die weitere Forschung geben, als dass sie selber schon brauchbare Antworten lieferten. (S. dazu OPP, Methodologie, S. 206ff.)

Orientierungshypothesen dieser Art finden sich häufig in der Politikwissenschaft. Beispiele hierfür sind etwa folgende Aussagen:

"Die politische Einstellung eines Menschen wird vor allem bestimmt durch die familiäre Sozialisation und durch die Einstellungen, die in der betreffenden Bezugsgruppe vorherrschen",

"Das Aufkommen neuer Parteien hängt ab von der Veränderung der gesellschaftlichen Probleme und von der Anpassungsfähigkeit der existierenden Parteien an diese veränderte Lage",

"Die Ursachen für das schlechte Abschneiden der Partei x bei der letzten Wahl sind in den verstärkten Flügelkämpfen innerhalb der Partei und in der geringen Einsatzbereitschaft der Parteibasis im Wahlkampf zu suchen".

Auch bei vielen Erklärungsversuchen, die sich in der politikwissenschaftlichen Literatur finden, wird die Regelmäßigkeit, auf die sich die Erklärung stützt, nicht näher präzisiert. So heißt es etwa:

"Im Deutschen Reich der Bismarckzeit konnte es nicht zur Durchsetzung einer dem Parlament verantwortlichen Regierung kommen wie etwa in Großbritannien, weil die deutschen Parteien zersplittert waren und keine stabilen Mehrheiten existierten",

"Die Ursachen für das Fehlen einer radikalen sozialistischen Bewegung in Großbritannien trotz großer ökonomischer Schwierigkeiten liegt in der traditionellen Einbindung der englischen Arbeiterbewegung in das politische System der repräsentativen Demokratie",

In beiden Fällen werden zwar bestimmte Sachverhalte miteinander verknüpft, aber die Regelmäßigkeit, auf die man sich bei dieser Verknüpfung beruft, wird selber nicht ausformuliert.

 

    Das deduktive Erklärungsmodell

Eine mögliche Struktur solcher Verknüpfungen bildet das nach seinen Begründern benannte "HEMPEL-OPPENHEIMSCHE Erklärungsschema", das auch als "Deduktives Erklärungsmodell" oder als "Subsumptionsmodell der Erklärung" bezeichnet wird. (Zum Folgenden siehe OPP, Methodologie, S. 29ff.)

Die Bezeichnung "deduktives Erklärungsmodell" bezieht sich darauf, dass die Existenz des zu erklärenden Sachverhalts y logisch aus zwei Prämissen deduziert wird: einer Prämisse über die Existenz eines Sachverhalts x, die so genannte "Anfangsbedingung", und einer Gesetzesaussage von der Form "Wenn x, dann y". Auf das zuletzt genannte Beispiel angewandt, könnte eine solche Erklärung als Deduktion aus Anfangsbedingung und Gesetzesaussage etwa folgendermaßen lauten:

1.) Zu erklärender Sachverhalt (Explanandum): "Die englische Arbeiterschaft akzeptiert das ökonomische System".

Diese Aussage lässt sich logisch deduzieren aus zwei anderen Aussagen:

2.) der Anfangsbedingung (oder Randbedingung): "In England wird das politische System durch die Arbeiterschaft bejaht" und

3.) der Gesetzesaussage: "Immer wenn eine Bevölkerungsgruppe das politische System einer Gesellschaft bejaht, dann wird von ihr auch das ökonomische System akzeptiert."
 
Eine solche explizite Formulierung der Gesetzmäßigkeit oder Regelmäßigkeit, auf die sich eine Erklärung stützt, erleichtert eine Kritik der vorgebrachten Erklärung. Die bloße Nennung einer Ursache für einen Sachverhalt dagegen klingt zwar häufig plausibel, aber dies liegt manchmal nur daran, dass man sich die implizit gemachten Gesetzesannahmen und deren Problematik nicht bewusst vergegenwärtigt.

So mag es plausibel sein, dass als Folge einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen die Zahl der tödlichen Unfälle zurückgeht, aber richtig kritisierbar wird diese Behauptung erst, wenn die Gesetzmäßigkeiten formuliert werden, die implizit herangezogen werden, um die beiden Sachverhalte miteinander zu verknüpfen.

 

    Wissenschaftliche Voraussagen: Prognosen

Die logische Struktur einer Prognose entspricht der logischen Struktur der Erklärung, nur dass jetzt aus einer Anfangsbedingung und einer Gesetzesaussage der zu prognostizierende Sachverhalt deduktiv gefolgert wird.

Ein Beispiel für eine solche deduktiv strukturierte Prognose sähe etwa folgendermaßen aus:

1.) Anfangsbedingung: "Es wird eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen eingeführt."

2.) Gesetzesaussage: "Immer wenn auf Autobahnen eine Geschwindigkeitsbeschränkung eingeführt wird, dann sinkt die Zahl der tödlichen Unfälle."

3.) Deduktiv gefolgerte Prognose: "Die Zahl der tödlichen Unfälle sinkt."

Die Gesetzesaussagen, die für eine Erklärung oder Prognose von Sachverhalten herangezogen werden, müssen übrigens nicht immer von der Form "Wenn x, dann y" sein.

Abgesehen davon, dass die Anfangsbedingung meist einen ganzen Komplex von Sachverhalten umfasst (" Wenn p, q, r, s und t, dann y" ), können empirische Regelmäßigkeiten auch die Form von "Je-desto-Sätzen" haben. Beispiele hierfür aus dem ökonomischen Bereich wären etwa: "Je höher das Einkommen einer Person ist, desto höher ist seine Sparrate" oder: "Je höher das Einkommen einer Person ist, desto niedriger ist der Anteil, der für Nahrungsmittel ausgegeben wird."

Eine andere Form von Gesetzesaussagen sind Sätze von der Art "Alle x haben die Eigenschaft y" z. B. die Behauptung "Alle Großorganisationen bilden eine oligarchische innere Machtstruktur aus."

 

    Statistische Zusammenhänge

Die bisher genannten Gesetzesaussagen hatten immer eine deterministische Struktur, d. h. sie behaupteten eine ausnahmslose Regelmäßigkeit im Auftreten verschiedener Sachverhalte. Solche deterministischen Beziehungen sind jedoch in den Sozialwissenschaften bisher nicht entdeckt worden. Stattdessen finden sich Regelmäßigkeiten folgender Art:

"Frauen wählen häufiger konservative Parteien als Männer" oder

"Studenten der Sozialwissenschaften sind häufiger politisch links eingestellt als Studenten der Naturwissenschaften" oder

"Industriearbeiter sind häufiger gewerkschaftlich organisiert als Beschäftigte im Handel" oder

"In der Regel treten in parlamentarischen Systemen Regierungen zurück, wenn sie im Parlament in die Minderheit geraten" etc.

Solche statistischen Regelmäßigkeiten sind "Regelmäßigkeiten mit Ausnahmen". Sie enthalten natürlich nicht so viel Informationen wie deterministische Aussagen, die ein Ereignis mit 100%iger Wahrscheinlichkeit festlegen. Trotzdem können sie mein Nicht-Wissen in der Weise verkleinern, dass sie mir sagen, was ich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu erwarten habe.

Aus der Anfangsbedingung "Herr A ist ein ausländischer Arbeitnehmer" und der statistischen Regelmäßigkeit, dass 95% der ausländischen Arbeitnehmer weniger als 1.000 € im Monat verdienen, kann ich zwar nicht mit 100%iger Gewissheit aber doch mit 95%iger Wahrscheinlichkeit folgern, dass auch Herr A weniger als 1.000 € im Monat verdient.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass ich zur Beantwortung von Fragen nach Ursachen und Folgen auf Aussagen über empirische Regelmäßigkeiten zurückgreifen muss. Ideal zur Beantwortung dieser Fragen wären dabei raum-zeitlich völlig unbegrenzte Regelmäßigkeiten, die also für "Klassen" von Gegenständen gelten. Dies sind die Gesetzesaussagen im strengeren Sinne, wie sie in der Physik üblich sind. Weiterhin wären natürlich deterministische Regelmäßigkeiten für die Beantwortung von Fragen am leistungsfähigsten, weil sie Ereignisse mit 100%iger Gewissheit festlegen.

Wenn diese Ziele nicht erreichbar sind - weil z. B. bestimmte Regelmäßigkeiten nur für die Bundesrepublik der 50er Jahre gelten und weil nur statistische Regelmäßigkeiten bekannt sind - ermöglichen jedoch auch solche statistischen und womöglich raum-zeitlich begrenzten Regelmäßigkeiten eine gewisse Beantwortung der gestellten Fragen.

 

    Experimentelle Verfahren zur Aufdeckung empirischer Regelmäßigkeiten  

Sachverhalte können erklärt oder prognostiziert werden unter der Annahme empirischer Regelmäßigkeiten, seien sie nun deterministischer oder statistischer Art. Die Frage ist, wie man solche Behauptungen über empirische Regelmäßigkeiten überprüfen kann. Wie kann man z. B. die Annahme überprüfen, dass durch Gesamtschulen größere Chancengleichheit hergestellt wird und die Bevorzugung von Schüler aus den besser gestellten sozialen Schichten beim Erreichen des Abiturs abgebaut wird?

Die Hypothese über die erwartete Regelmäßigkeit würde lauten: "Bei Gesamtschulen ist der Anteil der Abiturienten aus Arbeiterfamilien höher als im dreigliedrigen Schulsystem." Wenn man also das Ziel hat, den Anteil der Arbeiterkinder an den Abiturienten zu erhöhen, so könnte man dies erreichen, indem man das dreigliedrige Schulsystem durch Gesamtschulen ersetzt - vorausgesetzt die Hypothese stimmt.

 Eine Möglichkeit zur Überprüfung solcher hypothetischer Regelmäßigkeiten ist das Experiment, dessen methodische Grundlagen im Folgenden skizziert werden sollen.

Im Experiment macht man einen realen Versuch, um die behauptete Regelmäßigkeit zu bestätigen oder zu widerlegen. Die Beschäftigung mit der Methodik des Experiments erscheint sinnvoll, obwohl in der Politikwissenschaft die Möglichkeit zur Durchführung echter Experimente relativ beschränkt ist. Trotzdem beziehen sich viele Diskussionen über Ursachen oder Folgen bestimmter Sachverhalte unausgesprochen auf die Methodik des Experiments bzw. sind von dorther kritisierbar.

Einen ersten Versuch zur Bestätigung der oben genannten Regelmäßigkeit könnte man dadurch machen, dass man eine Gesamtschule und ein traditionelles Gymnasium herausgreift und dort den Anteil der Arbeiterkinder an den Abiturienten eines Jahrgangs untersucht. Selbst wenn man feststellen würde, dass der Anteil der Arbeiterkinder bei der Gesamtschule größer ist, lässt dies noch keineswegs des Schluss zu, dass damit die allgemeine Regelmäßigkeit bestätigt ist.

Wenn man davon ausgeht, dass der Anteil an Arbeiterkindern unter den Abiturienten nicht nur vom Schultyp abhängt sondern von einer Reihe weiterer Faktoren wie z. B. den Eigenschaften des Lehrpersonals, den Einstellungen der Eltern und vor allem dem Anteil der Arbeiterkinder an den Schulanfängern, so könnten diese Faktoren und nicht der Schultyp für den höheren Anteil ursächlich sein. Es wäre etwa denkbar, dass im Falle einer Wahlmöglichkeit der Eltern in Bezug auf die Schulform die zur Bildung positiv eingestellten Arbeitereltern für ihre Kinder die Gesamtschule gewählt haben, und dass die größere elterliche Unterstützung bewirkt hat, dass diese Kinder vergleichsweise häufiger das Abitur geschafft haben als die Arbeiterkinder aus durchschnittlichen Elternhäusern, die das dreigliedrige Schulsystem durchlaufen haben.

Durch die experimentelle Anordnung wird der Versuch gemacht, die Auswirkung des untersuchten Faktors zu isolieren und die übrigen möglicherweise relevanten Faktoren zu kontrollieren. In den Sozialwissenschaften, für die komplexe multifaktorielle Zusammenhänge typisch sind, ist es nun außerordentlich schwierig, nur den experimentellen Faktor zu variieren und die übrigen ebenfalls wirksamen Faktoren gleich bzw. konstant zu halten. Wollte man das Problem z. B. dadurch lösen, dass man in einer bestimmten Gemeinde den Anteil der Arbeiterkinder an den Abiturienten vor und nach der Einführung eines Gesamtschulversuches untersucht, so können sich in der Zwischenzeit relevante Faktoren geändert haben, wie z. B. das allgemeine Bildungsklima (Aktion "Bildungswerbung" in den 60er Jahren) oder die Zusammensetzung der Bevölkerung (Zuzug ausländischer Arbeiter).

 

    Die Theorie der Zufallsstichprobe

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet das stochastische Experiment, das auf bestimmten wahrscheinlichkeitstheoretischen Annahmen basiert (stochastischer Prozess = Zufallsprozess). (Zum Folgenden s. MAYNTZ u.a., S. 170 ff.) Die Anwendung des stochastischen Modells ist nur dann möglich, wenn eine größere Zahl von Fällen zur Untersuchung steht, die nach dem Zufallsprinzip für das Experiment ausgesucht werden können.

Wenn ich aus einer Grundgesamtheit (z. B. allen Kindern eines Jahrgangs in der Bundesrepublik) eine Zufallsauswahl treffe, bei der jedes dieser Kinder die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzt, ausgewählt zu werden, so ergibt sich eine "repräsentative Stichprobe", die in ihren Merkmalen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit der Grundgesamtheit (alle Kinder des Jahrgangs) gleicht. (Ein Beispiel für eine Zufallsauswahl ist das Urnenmodell bei der Auslosung der Lottozahlen, wo jede Zahl von 1 bis 49 die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzt, gezogen zu werden.)

Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird gewöhnlich in Prozentzahlen zwischen 0% und 100% angegeben.

Bei einer Wahrscheinlichkeit von 0% ist sicher, dass das Ereignis nicht auftritt. Wenn sich z. B. in der Urne für die Lottozahlen keine Kugel mit der Zahl 50 befindet, so beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine 50 gewählt wird, 0%.

Bei einer Wahrscheinlichkeit von 100% ist sicher, dass das Ereignis eintritt. So beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Kugel mit der Zahl 7 gewählt wird, 100%, wenn alle Kugeln in der Urne eine 7 tragen.

Wenn ich z. B. zwei genügend große Zufallsstichproben aus der Grundgesamtheit "Kinder eines bestimmten Jahrgangs" ziehe, kann ich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich die beiden Stichproben auch in Bezug auf den Anteil bildungsbejahender Arbeitereltern oder in Bezug auf die Begabungsverteilung ungefähr gleichen.

Die Grundannahmen der Stichprobentheorie können dabei an folgendem Beispiel demonstriert werden:

Angenommen man hat eine Urne mit einer Grundgesamtheit von 1000 Kugeln darin.

Davon sind 200 Kugeln, also 20%, weiß.

Man kann nun mit Hilfe der Kombinatorik alle theoretisch möglichen unterschiedlichen Stichproben mit einem Umfang von 50 Kugeln ermitteln.

Wenn man nun die theoretisch möglichen Stichproben nach ihrem Anteil weißer Kugeln ordnet, so wird man feststellen, dass bei den meisten der möglichen Stichproben der Prozentsatz der weißen Kugeln relativ nahe bei dem Wert der Grundgesamtheit, also bei 20% liegt.

Natürlich sind auch Stichproben möglich, in denen nur weiße oder überhaupt keine weißen Kugeln vorkommen, aber solche Stichproben sind relativ selten. Mit Hilfe von Formeln kann man die Wahrscheinlichkeit dafür errechnen, dass der Anteil weißer Kugeln in der Stichprobe um nicht mehr als einen bestimmten Wert - z. B. plus oder minus 2% - vom Anteil weißer Kugeln in der Grundgesamtheit abweicht.

Umgekehrt lässt sich aufgrund der Häufigkeit, mit der sich weiße Kugeln in einer Zufallsstichprobe finden, auch der Anteil weißer Kugeln in der Urne, der Grundgesamtheit abschätzen. Man kann dazu Aussagen machen wie: "Mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% kann man annehmen, dass der Prozentsatz weißer Kugeln in der Grundgesamtheit um höchstens 2% von dem ermittelten Prozentsatz der Stichprobe abweicht."

Die Stichprobentheorie ermöglicht nun auch die Antwort auf die Frage, ob sich zwei Grundgesamtheiten (z. B. zwei Urnen mit Kugeln) in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal (z. B. die prozentuale Häufigkeit weißer Kugeln) unterscheiden.

Dazu zieht man aus Urne I und aus Urne II jeweils eine genügend große Zufallsstichprobe von je 50 Kugeln und ermittelt für beide Stichproben die Häufigkeit der weißen Kugeln. Angenommen, von den 50 Kugeln der Stichprobe aus Urne I sind 25 Kugeln weiß, und  von den 50 Kugeln der Stichprobe aus Urne II sind 15 Kugeln weiß.

Nun stellt man die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit dafür ist, bei zwei Zufallsstichproben aus ein und derselben Urne eine ebenso große oder größere Differenz der Häufigkeiten als die ermittelten 10 vorzufinden. Wenn diese Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, z. B. kleiner als 5%, so ist die Annahme sehr unwahrscheinlich, dass in beiden Urnen der Anteil weißer Kugeln gleich groß ist. Die Differenz der Prozentsätze weißer Kugeln in den Stichproben ist dann "signifikant" und lässt bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5% den Schluss zu, dass die Häufigkeit weißer Kugeln in Urne I größer ist als in Urne II.

Nach diesem Exkurs in die Theorie der Zufallsstichprobe sollen die Überlegungen zur Logik des Experiments fortgeführt werden. Wie müsste man vorgehen, um experimentell die Hypothese zu überprüfen, dass Gesamtschulen zu einem höheren Anteil von Arbeiterkindern an den Abiturienten führen? Denkbar wäre folgende - praktisch allerdings kaum zu realisierende - Versuchsanordnung.

Man teilt Deutschland in 500 Gebiete ein und zieht aus dieser Grundgesamtheit zwei Zufallsstichproben von je 30 Gebieten. Die eine Stichprobe bildet die experimentelle Gruppe, die andere Stichprobe bildet die Kontrollgruppe. Durch Untersuchungen könnte man vorweg kontrollieren, ob sich experimentelle und Kontrollgruppe in den relevanten Merkmalen tatsächlich gleichen, was ja durch die Zufallsauswahl erreicht werden sollte. So könnte man könnte z. B. prüfen, ob der Anteil der Geschlechter, der Anteil der Arbeiterkinder, der Anteil der Ausländerkinder oder die Religionszugehörigkeit in beiden Zufallsstichproben annähernd gleich ist.
 
In den 30 Gebieten der experimentellen Gruppe richtet man nun Gesamtschulen ein, während in den andern 30 Gebieten das dreigliedrige Schulsystem beibehalten wird. Nach einer gewissen Anlaufphase kann man dann feststellen, ob der Anteil der Arbeiterkinder an den Abiturienten in der experimentellen Gruppe mit Gesamtschulen tatsächlich signifikant höher ist als in der Kontrollgruppe mit dem dreigliedrigen Schulsystem.

Dabei ist noch auf ein Problem dieser experimentellen Anordnung hinzuweisen. Eigentlich hätte man eine Zufallsauswahl aus den Kindern und aus dem Lehrpersonal ziehen müssen, um durch "Randomisierung" (von englisch at random = zufällig) die Stichproben in den persönlichen Merkmalen anzugleichen. Dies hätte jedoch vorausgesetzt, dass man diese Schüler und Lehrer dann in entsprechenden Schultypen zusammenfasst. Ein solches Experiment wäre jedoch aus rechtlichen Gründen undurchführbar und moralisch auch nicht vertretbar. Insofern ist die Zufallsauswahl aus den Schuleinzugsgebieten nur eine Hilfskonstruktion. Auf derartige "Flächenstichproben" sind die Signifikanztests nur mit einer gewissen Vorsicht anwendbar.

 

    Quasi-experimentelle Anordnungen

Wie bereits angeführt, fehlt in den Sozialwissenschaften häufig die Möglichkeit zur Durchführung eines Experiments, bei dem der Forscher selber die Versuchsanordnung bestimmen kann. Es besteht allerdings unter Umständen die Möglichkeit zu so genannten "Feldexperimenten" oder "natürlichen Experimenten", wenn z. B. durch politische Maßnahmen bestimmte Veränderungen eingeführt werden. Deren Auswirkungen kann der Forscher dann dadurch zu erfassen suchen, dass er die abhängigen Variablen vor und nach Einführung dieser Maßnahme misst und vergleicht.

So könnte man die Auswirkungen, die die Todesstrafe auf die Zahl der Kapitalverbrechen hat, durch Zählungen vor und nach der Gesetzesänderung erfassen. Allerdings fehlt in diesem Fall eine vergleichbare Kontrollgruppe, die im echten Experiment unverzichtbar ist. Denn vielleicht wäre die Zahl der Morde aufgrund anderer Faktoren auch ohne Einführung der Todesstrafe gesunken.

Methodologisch besonders problematisch sind die sogenannten "Ex-post-Erklärungen". Dabei stellt man ein bestimmtes soziales Phänomen fesst, etwa die Zunahme der Jugendkriminalität, und sucht im Nachhinein nach den ursächlichen Faktoren für dies Phänomen. Man meint sie dann zu finden in vorangegangenen Änderungen, z. B. dem Wandel in den Erziehungsmethoden.

Damit derartige Ex-Post-Erklärungen jedoch überhaupt brauchbar werden, müsste man zwei Gruppen vergleichen, in denen der ursächliche Faktor (die Erziehungsmethoden) unterschiedlich ausgeprägt ist, d. h. es muss untersucht werden, ob der Anstieg der Jugendkriminalität auch in Gesellschaften oder Subkulturen zu verzeichnen ist, in denen die Erziehungsmethoden sich nicht in dieser Weise geändert haben.

Aber selbst dann ist die Logik des Experiments insofern verletzt, als die Vergleichbarkeit der Gruppen in Bezug auf andere Einflussfaktoren in Bezug auf die Rate der Jugendkriminalität keineswegs gesichert ist. Andere Faktoren wie Familiengröße, Rate der Erwerbstätigen, Schulsystem, Einkommensniveau etc. könnten ebenfalls zu der unterschiedlichen Rate der Jugendkriminalität in den beiden Gruppen beigetragen haben.

Allerdings kann man dadurch eine gewisse Annäherung an ein echtes Experiment vornehmen, dass man andere möglicherweise wirksame Faktoren konstant hält, indem man z. B. die Gruppen nach dem Einkommensniveau einteilt und dann nur die Gruppen der Jugendlichen mit höherem Einkommen der Eltern in beiden Gruppen von jugendlichen Straftätern vergleicht.

Die Erfolge, die bisher mit empirisch-statistischen Verfahren der Theoriebildung in den Sozialwissenschaften erzielt wurden, sind begrenzt. Versuche werden in jüngerer Zeit vor allem in Richtung auf die Analyse konkreter sozialer Phänomenkomplexe unternommen, die als "Systeme" analysiert werden, deren Verhalten und Entwicklung man bei Annahme bestimmter empirisch-statistischer Zusammenhänge "simulieren" und zumindest für einen gewissen Zeitraum prognostizieren kann. Richtung und Stärke der Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Variablen eines solchen "Systems" werden aufgrund theoretischer Annahmen und/oder bisheriger Ergebnisse geschätzt.

Bekanntere Beispiele für derartige Systemanalysen sind etwa die Studie zu den "Grenzen des Wachstums" durch FORRESTER u. a. (vom "Club of Rome" ) oder die ökonometrischen Modelle zur Wirtschaft der Bundesrepublik (z. B. von KRELLE). Auch Probleme der Verkehrsentwicklung, der regionalen Wirtschaftsentwicklung, des Bildungssystems, der Bevölkerungsentwicklung etc. werden anhand derartiger Systemmodelle analysiert. (Zur Einführung in Modellierung und. Systemanalyse vgl. E. GEHMACHER: Methoden der Prognostik. Freiburg Rombach 1971.)

Der Zweck derartiger Systemmodelle besteht dabei allein darin, den betreffenden Planern und Politikern eine Informationsgrundlage für ihre Entscheidungen zu liefern. Eine zeitliche oder räumliche Übertragbarkeit ist meist nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. (Zur Frage des theoretischen Status ökonometrischer Modelle vgl. etwa die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion in R. MOLITOR (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft.

    Modelle rationalen Verhaltens

Neben diesen Versuchen, auf empirisch-statistischem Wege zu theoretischen Modellen der sozialen Realität zu gelangen, hat es in den Sozialwissenschaften seit langem auch den Versuch gegeben, auf logisch-deduktivem Wege zu theoretischen Modellen zu gelangen. Von besonderer Bedeutung sind dabei jene Modelle, die mit der Annahme eines rationalen Handelns der beteiligten Akteure arbeiten.

Es wird also vorausgesetzt, dass alle Individuen rational die Vor- und Nachteile ihrer verschiedenen Handlungsalternativen abwägen und sich dann so entscheiden, dass der eigene Vorteile bzw. der eigene Nutzen maximiert wird. Auf der Annahme rational ihre Ziele verfolgender Individuen werden dann Theorien über wirtschaftliche, politische oder bürokratische Prozesse entwickelt.

Der traditionelle Bereich für derartige Modelle des Rationalverhaltens war bisher die Wirtschaftswissenschaft, aus der auch der Begriff des "homo oeconomicus" stammt, doch gibt es inzwischen auch Theorien des Parlamentarismus, der Verbände oder der internationalen Politik, die als Modelle des Rationalverhaltens konstruiert sind.

Ein demokratietheoretisches Beispiel soll diesen Theorietyp etwas veranschaulichen.

Angenommen, es gibt 5 Wähler A, B, C, D und E, die zur Höhe des Spitzensteuersatzes für Einkommen unterschiedliche Ansichten haben. A möchte Einkommen gar nicht besteuern, also 0 %, B wünscht einen Spitzensteuersatz von 15%, C von 20%, D möchte bis 35% gehen und E bis 50%.

Man kann diese Interessenstruktur an einem räumlichen Modell veranschaulichen. Dazu wird auf einer Achse der von jedem Individuum bevorzugte prozentuale Spitzensteuersatz eingezeichnet, symbolisiert durch den entsprechenden kleinen Buchstaben. Der von Individuum C bevorzugte Spitzensteuersatz wird also mit c bezeichnet und wird auf der Achse bei 20% eingetragen.
 

   0        10         20         30         40         50    (Spitzensteuersatz in %)
   ._____.______.______.______.______.____>
   |               |      |                  |                 | 
   a              b      c                  d                 e      (individuelle Optima)


Die Interessenstruktur der Individuen sei nun so beschaffen, dass ihnen ein Spitzensteuersatz umso lieber ist, je weniger Prozentpunkte er von ihrem Optimum entfernt ist. Man kann nun die Frage stellen, welcher Punkt auf der Skala gewählt wird, wenn jedes Individuum rational die Befriedigung seiner Interessen verfolgt und wenn als Entscheidungsregel gilt, dass derjenige Punkt als kollektiv gewählt gilt, der bei einer Abstimmung die relativ meisten Stimmen erhält. Um ein Patt auszuschließen, sei weiterhin angenommen, dass im Falle von Stimmengleichheit der bisherige Spitzensteuersatz von 25% (Status quo) beibehalten wird.

Wie durch einfache Überlegung klar wird, ergibt sich als Resultat der Abstimmung unter den angenommenen Voraussetzungen die Alternative c, also  das Optimum des "mittleren" Individuums C, das bei 20% liegt. Denn für jeden andern Prozentsatz x als Abstimmungsergebnis würde gelten, dass mindestens 3 der 5 Individuen einen Satz von 20% gegenüber x vorziehen würden und dass sie dies Resultat durch entsprechendes Abstimmungsverhalten auch durchsetzen könnten, da sie die Mehrheit haben.

Würde sich also bei der Abstimmung ein anderer Spitzensteuersatz als c = 20% ergeben, so hätten einige der Beteiligten sich nicht rational verhalten im Sinne einer größtmöglichen Befriedigung ihrer Interessen, was unvereinbar mit den oben gemachten Voraussetzungen wäre. Das Modell kann also erklären, warum sich unter bestimmten Bedingungen bei Mehrheitsabstimmungen ein stabiles Abstimmungsergebnis einstellt und dass dies Abstimmungsergebnis dem Optimum des mittleren oder genauer des "medianen" Individuums entspricht. (S. dazu z. B.  A. Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie. Tübingen: Mohr 1950).

Ein anderes Beispiel ist die Theorie der Verbände von Mancur Olson, die er in seinem Buch "Die Logik kollektiven Handelns" entwickelt hat. Olson will eine Theorie der Wirtschaftsverbände in kapitalistisch-parlamentarischen Gesellschaften aufstellen. Dabei nimmt er an, dass sich Individuen in dem oben beschriebenen Sinne rational bei der Verfolgung ihrer Ziele verhalten und dass diese Ziele vorwiegend eigennütziger Art sind. Man könnte nun annehmen, dass Verbände bzw. Interessengruppen sich überall dort bilden, wo Individuen gemeinsame Interessen bzw. Ziele haben.

Nun gibt es bestimmte Arten von Gütern, die dadurch gekennzeichnet sind, dass von ihrer Nutzung praktisch kein Mitglied eines bestimmten Kollektivs ausgeschlossen werden kann, die so genannten "kollektiven Güter". Beispiele hierfür sind etwa staatliche Zölle, Steuern oder Subventionen, die jeweils für ganze Branchen gelten oder Tarifabschlüsse, die für alle Arbeitnehmer einer Branche gelten. Wenn nun außerdem gilt, dass für die Erreichung dieser kollektiven Güter vereinte Anstrengungen unternommen werden müssen, deren "Kosten" an Zeit, Geld etc. individuell anfallen, so kann man den Schluss ziehen, dass sich zur Erreichung derartiger kollektiver Güter keine Verbände bilden werden, insbesondere wenn das Kollektiv sehr groß ist. Rationale Individuen werden sich stattdessen als "Trittbrettfahrer" verhalten. Sie werden selber keine Kosten auf sich nehmen und von den Anstrengungen der andern profitieren. Eine solche Theorie würde erklären, warum bestimmte Interessen - z. B. Konsumenteninteressen - gewöhnlich schwach organisiert sind und warum bestimmte Verbände ihren Organisationsgrad dadurch zu steigern versuchen, dass sie für ihre Mitglieder exklusive Vorteile bereitstellen (z. B. die Streikkasse bei den Gewerkschaften).

Die Frage ist nun, was unter methodologischen Gesichtspunkten von derartigen theoretischen Modellen zu halten ist. Die Kontroversen über diese Art von Theoriebildung wurden dabei vorwiegend in den Wirtschaftswissenschaften geführt, jedoch lassen sich die Argumente leicht auf den politikwissenschaftlichen Bereich übertragen.

Ein Problem bei der Kritik derartiger Modelle besteht darin, dass oft nicht genügend klar ist, welchen erkenntnistheoretischen Status diese Modelle haben. Die Modelle selber bestehen ja nur aus bestimmten Prämissen, die bewusst vorausgesetzt werden, sowie logischen Deduktionen aus diesen Prämissen. Es handelt sich also erstmal bei ihnen nur um Aussagen über gedanklich konstruierte Welten und nicht um Aussagen über die Wirklichkeit. Das Kriterium für solche konstruierten Welten wäre allein die logische Stimmigkeit, das heißt die Schlüssigkeit der gemachten Deduktionen. Von manchen Kritikern werden deshalb solche Modelltheorien auch nur als logische Spielerei und als Übung in Mathematik abgetan.

Eine Möglichkeit zur Interpretation solcher axiomatisch-deduktiv aufgebauter Modelle wäre die empirische Interpretation, d. h. dass die Modelle als Darstellung und Erklärung bestimmter Bereiche der Wirklichkeit gelten sollen. In diesem Falle müssten sich die Aussagen der Modelle direkt oder indirekt anhand der beobachtbaren Wirklich­keit überprüfen lassen, d. h. aus den theoretischen Modellen müssen sich Hypothesen deduzieren lassen, die empirisch falsifizierbar sind. Eine Schwierigkeit bei der Falsifizierung solcher Modelle besteht darin, dass die Interessenstruktur der Individuen empirisch schwer zu ermitteln ist.

Dies kann am obigen Beispiel zur Mehrheitsabstimmung verdeutlicht werden. Das Abstimmungsverhalten eines Individuums darf in diesem Fall ja nicht als Indikator für seine Interessenstruktur genommen werden, da die Erklärung des Abstimmungsverhaltens durch die Interessenstruktur sonst tautologisch wäre. Wenn man einen Sachverhalt durch einen anderen erklären will, so müssen beide Sachverhalte unabhängig voneinander definierbar sein, da der Zusammenhang sonst nicht empirischer sondern definitorischer Natur wäre.

Eine Möglichkeit zur Ermittlung der Interessenstruktur ist die Befragung der Individuen. Man kann sie z. B. auffordern, die Alternativen a, b, c, d, e in eine Rangfolge gemäß ihren Interessen zu bringen, also eine so genannte "Präferenzordnung" der zur Entscheidung stehenden Alternativen zu bilden. (Dies wäre natürlich nur eine vereinfachte Darstellung der Interessenstruktur, da theoretisch alle Punkte auf der Rechts-Links-Skala Alternativen darstellen und in eine Präferenzordnung gebracht werden müssten.) Dann würden sich folgende Präferenzordnungen für die 5 Individuen ergeben:
 

         Präferenzordnung der Spitzensteuersätze der Individuen A, B, C, D und E
              (siehe Schaubild oben)

 

A

B

C

D

E

1.

a

b

c

d

e

2.

b

c

b

e

d

3.

c

a

d

c

c

4.

d

d

a

b

b

5.

e

e

e

a

a

 

Bei einer solchen Präferenzstruktur der 5 Individuen ist die Alternative c die Mehrheitsalternative, also diejenige Alternative, die bei einem Paarvergleich mit jeder anderen Alternative eine Mehrheit der Stimmen bekommt. Anhand der Präferenz-Tabelle sieht man leicht, dass von den Alternativen a, b, d und e keine dreimal oder öfter über der Alternative c steht.

Bei einer solchen Befragung gibt es allerdings das Problem, dass eine wahrheitsgemäße Beantwortung der Fragen durch die Individuen vorausgesetzt werden muss. Dabei sind die Möglichkeiten zur Aufdeckung bewusster Falschdarstellungen der eigenen Interessenstruktur begrenzt, wie aus der Theorie des Interviews bekannt ist.

Weiterhin stellt sich das Problem, dass sich die Präferenzordnungen der Individuen in dem Zeitraum zwischen ihrer Ermittlung durch Befragung und der Abstimmung ändern können. Wenn es hierfür keine Kontrolle gibt (z. B. durch eine nachträgliche Befragung), könnte man jedes dem Modell widersprechende Ergebnis dadurch "erklären", dass sich inzwischen die Präferenzen geändert haben müssen. Damit wäre das Modell jedoch gegen jede Widerlegung immunisiert.

Wenn man einmal voraussetzt, dass das Problem der Ermittlung der vorhandenen Interessen gelöst ist, so müsste das Modell rationalen Abstimmungsverhaltens dann als falsifiziert gelten, wenn bei Vorliegen z. B. der angenommenen Interessenstruktur sich bei einer einmaligen Abstimmung nach dem relativen Mehrheitsprinzip nicht c sondern irgendeine andere Alternative als Resultat ergibt.

Wenn z. B. die Individuen A und B für b gestimmt haben, während die übrigen Individuen jeweils für ihr Optimum c bzw. d oder e gestimmt haben, ergibt sich das Abstimmungsresultat b, da diese Alternative zwei Stimmen erhalten hat, während alle übrigen Alternativen nur jeweils eine Stimme oder gar keine Stimme erhalten haben. In diesem Fall hätten sich C, D und E zusammentun können, um gemeinsam für c zu stimmen. Da c für alle drei Individuen besser ist als b, wäre ein solches Handeln in ihrem Interesse, d. h. "rational" gewesen.

Hier wird jedoch deutlich, dass für die Durchführung eines solchen rationalen kollektiven Abstimmungsverhaltens weitere, im Modell nicht genannte Voraussetzungen erforderlich sind. Zum einen müssen C, D und E wissen, dass die Alternative c für alle drei höher in ihrer Präferenzordnung rangiert als b. Bei den Beteiligten wird also Kenntnis der Präferenzordnungen der andern vorausgesetzt. Wo diese Informationen nicht verfügbar sind oder wo ihre Beschaffung mit bestimmten Kosten (z. B. Zeitaufwand) verbunden ist, ist das obige einfache Modell also nicht anwendbar.

Außerdem wird an dem obigen Beispiel deutlich, dass eine weitere Voraussetzung des Modells die Information über sich anbahnende Koalitionen ist, denn wenn im C, D und E gar nichts von der sich anbahnenden Koalition zwischen A und B auf der Basis der Alternative b wüssten, so gibt es u. U. für sie keinen Grund zu einer Koalition auf der Basis c.

Eine weitere Voraussetzung des Modells ist die Möglichkeit zu Kommunikation und Kooperation zwischen allen Individuen, denn wenn zu erwarten ist, dass A und B sich zusammentun, müssen C, D und E miteinander koalieren, da sie nur geschlossen die Alternative b verhindern können. Das Modell ist also in der einfachen Form nicht anwendbar, wenn Koalitionshindernisse bestehen, sei es, dass bestimmte Individuen "prinzipiell" nicht miteinander koalieren wollen, sei es, dass die Bildung von Koalitionen und die dazu notwendigen Verhandlungen aus Zeitmangel nicht durchgeführt werden können oder dass sich dieser Aufwand für einzelne Individuen im Verhältnis zur erreichbaren Verbesserung des Abstimmungsresultates nicht lohnt.

Die Aussage des Modells, dass bei rationalem Handeln aller Beteiligten die Alternative C das Abstimmungsresultat bilden muss, setzt weiterhin voraus, dass es den Individuen bei ihrer Abstimmung allein auf das Resultat ankommt. Denkbar wäre jedoch, dass die Individuen bei der Abstimmung noch weitere Ziele verfolgen. So mag ein Individuum aufgrund langfristiger Überlegungen auf die Realisierung der in die­sem Fall individuell günstigsten Koalition verzichten, um andere Beteiligte nicht zu verprellen, von denen es sich umgekehrt Unterstützung bei späteren Abstimmungen erhofft. Auch von der Möglichkeit solchen "Stimmentauschs" bzw. von Abstimmungskoalitionen über ganze Abstimmungsserien abstrahiert das einfache Modell.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der für ein Individuum neben dem Abstimmungsresultat eine Rolle spielen kann, ist der Eindruck, den jemand mit seinem Abstimmungsverhalten auf Dritte macht. So mag jemand auf eigentlich vorteilhafte Kompromisse verzichten, um unter dem Gesichtspunkt langfristiger Interessen "sein Gesicht nicht zu verlieren". Die Abstimmung hat dann für ihn eher den Charakter eines Bekenntnisses seiner Meinung nach außen als den eines zweckrationalen Verhaltens in Bezug auf das Abstimmungsergebnis.

Aus all diesen Überlegungen wird deutlich, dass das einfache Modell rationalen Abstimmungsverhaltens der Individuen entsprechend einer Präferenzordnung der zur Abstimmung stehenden Alternativen eine Reihe von Annahmen enthält, die durch die Voraussetzung des Rationalverhaltens noch nicht abgedeckt sind. Insbesondere dürfen keine relevanten Informations-, Kommunikations- und Verhandlungskosten entstehen und es dürfen keine über die Abstimmungsthematik hinausgehenden sonstigen Interessen eine Rolle spielen. Damit das Modell rationalen Abstimmungsverhaltens als Erklärungsmodell für tatsächliches Abstimmungsverhalten brauchbar bleibt, müsste es um die genannten Aspekte erweitert werden.

Aber selbst wenn das gelungen ist, bleibt als grundlegendes Problem, ob die Annahme des Rationalverhaltens aufrechterhalten werden kann. Eine Möglichkeit, diesem Problem zu entgehen, könnte darin bestehen, dass man den Anwendungsbereich des Modells auf solche Fälle beschränkt, in denen Rationalverhalten gegeben ist. Wenn man diese Modellprämissen jedoch als Festlegung des Anwendungsbereichs für das Modell inter­pretiert, so wird das Modell tautologisch und für empirische Erklä­rungen unbrauchbar: denn die zentrale Frage, ob für einen konkreten Fall die Prämissen erfüllt sind oder nicht, bleibt unbeantwortet.

 

    Konzeptionen einer verstehenden Sozialwissenschaft

Gegen das Konzept einer erklärenden Sozialwissenschaft, die auf die Aufstellung beobachtbarer empirischer Regelmäßigkeiten bzw. Gesetzmäßigkeiten nach Art der Naturwissenschaften ausgerichtet ist, gab es beständig Einwände. Diese Einwände bezogen sich vor allem darauf, dass es die Sozialwissenschaften einschließlich der Geschichtswissenschaften mit menschlichem Handeln zu tun haben, das nicht in der gleichen Weise "erklärt" werden könne, wie z. B. Phänomene der unbelebten Natur.

Die Positionen, von denen aus die Idee einer empirischen Gesetzeswissenschaft in Bezug auf soziale Phänomene kritisiert wird, sind dabei keineswegs einheitlich. Einen historischen Überblick über die Kontroversen vermittelt z. B. Jürgen Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien. Frankfurt a. M. 1970, insbesondere der darin wieder abgedruckte Literaturbericht aus dem Jahre 1967. Zu nennen wäre weiterhin G. H. von Wright, Erklären und Verstehen. Frankfurt a. M. 1974.

Abgesehen von dieser inneren Uneinheitlichkeit haben die alternativen Konzeptionen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung zwar eine Kritik der empiristischen Ansätze geleistet, haben aber selber keine ausgearbeitete Methodologie vorgelegt. Dies gilt insbesondere für die dialektische Philosophie, die sich von Hegel herleitet.

Von gewisser Bedeutung sind hermeneutische Ansätze einer "verstehenden" Sozialwissenschaft, für die Namen wie Droysen, Dilthey, Rickert, Max Weber, Alfred Schütz und Peter Winch stehen. Ohne den Anspruch zu haben, diesen Theoretikern gerecht werden zu können, sollen hier ansatzweise die Einwände der verstehenden Sozialwissenschaften skizziert werden.

Gegen eine Anwendung der aus empirischen Regelmäßigkeiten deduzierten Erklärungen in der Geschichtswissenschaft hat sich vor der englische Historiker William DRAY in seinem 1957 erschienenen Buch: "Laws and Explanation in History" ausgesprochen. "Der Grund, warum historische Erklärungen normalerweise keinen Bezug auf Gesetze enthalten, ist danach nicht, dass die Gesetze so komplex und unbekannt sind, dass wir mit einer bloßen Skizze zufrieden sein müssen (wie HEMPEL meinte, E.W.), auch nicht, dass sie zu trivial sind, eigens erwähnt zu werden (wie Popper meinte, E.W.).

Nach DRAY liegt der Grund einfach darin, dass sich historische Erklärungen überhaupt nicht auf allgemeine Gesetze stützen." (WRIGHT, Erklären und Verstehen, S. 34). Stattdessen meint DRAY, dass menschliche Handlungen eines spezifischen Erklärungsschemas bedürfen und nicht nach dem Gesetzesschema erklärt werden können. "Eine Handlung erklären" heißt nach DRAYs Auffassung: zeigen, dass es unter den gegebenen Umständen angemessen und rational war, diese Handlung zu vollziehen. Er nennt dies "rationale Erklärung." (WRIGHT S. 35).

Wright arbeitet diesen Gedanken weiter aus. Er schließt dabei an die Idee eines "praktischen Syllogismus" an, der bereits bei Aristoteles entwickelt ist: "Der Ausgangspunkt oder Obersatz des Syllogismus erwähnt irgendeinen Wunschgegenstand oder ein Handlungsziel; der Untersatz setzt eine bestimmte Handlung quasi als Mittel zum Zweck mit diesem Gegenstand in Beziehung; die Conclusio besteht schließlich in der Verwendung dieses Mittels zur Erreichung jenes Zweckes.

Wie in einem theoretischen Schluss die Behauptung der Prämissen notwendigerweise zur Behauptung der Conclusio führt, folgt somit in einem praktischen Schluss aus der Bejahung der Prämissen die ihnen entsprechende Handlung.

Praktische Begründungen sind von großer Bedeutung für das Erklären und Verstehen von Handlungen. Es ist eine Grundannahme der vorliegenden Arbeit, dass der praktische Syllogismus eine seit langem bestehende methodologische Lücke der Humanwissenschaften schließt: Er liefert ein eigenes Erklärungsschema, das eine deutliche Alternative zum subsumptionstheoretischen Schema darstellt.

Allgemein gesagt: Was das subsumptionstheoretische Schema für Kausalerklärungen und Erklärungen in den Naturwissenschaften ist, ist der praktische Syllogismus für teleologische Erklärungen und Erklärungen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften." (WRIGHT, S. 36f.)

Das einfache Schema eines praktischen Schlusses wäre folgendes: "A beabsichtigt, p herbeizuführen." "A glaubt, dass er p nur dann herbeiführen kann, wenn er x tut." "Folglich macht sich A daran, x zu tun."

Kern dieses Erklärungsschemas ist, dass eine Handlung x erklärt bzw. verständlich gemacht wird einerseits aus den Absichten (Intentionen, Zielen) des Handelnden und andererseits aus den Handlungsmöglichkeiten, die dem Handelnden seiner eigenen Meinung nach zur Verwirklichung dieser Absichten zur Verfügung stehen.

Was leistet ein solches Schema rationaler Erklärung menschlicher Handlungen? Unstreitig ist, dass im Alltagsleben derartige teleologische "Erklärungen" von Handlungen aus Absichten außerordentlich verbreitet sind. Man sagt etwa "Er läuft, um noch den Zug zu erreichen" oder "Er öffnet das Fenster, um frische Luft hereinzulassen." Allerdings weist Wright bereits selber darauf hin, "dass der praktische Syllogismus keine Beweisform darstellt, sondern eine Begründungsform, die von anderer Art als der Beweis-Syllogismus ist." (WRIGHT S. 36.) Das heißt, die Aussage "A tut x" folgt nicht logisch aus den Sätzen "A hat die Absicht, p herbeizuführen" und "A glaubt, dass er p nur dann herbeiführen kann, wenn er x tut". Allerdings ergeben die beiden Sätze eine zweckrationale Begründung oder Rechtfertigung dafür, dass A x tut. Eine logische Folge ergäbe sich erst dann, wenn man die zusätzliche Annahme macht, dass sich A zweckrational verhält. Ergänzt man den praktischen Syllogismus um die Annahme zweckrationalen Handelns beim Akteur, so ergibt sich auch hier ein deduktives Erklärungsschema. Ob sich dieses im Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas interpretieren lässt, muss hier offen bleiben.

Ein weiterer Kritikpunkt von Seiten der hermeneutischen Richtungen bezieht sich auf die Gewinnung der Erfahrungsdaten. Gegen die Vorstellung, es ginge in den Sozialwissenschaften um die Aufdeckung beobachtbarer Regelmäßigkeiten, wird eingewandt, dass menschliche Handlungen nicht einfach nur beobachtet werden können, wie physikalische Daten, sondern dass sie immer interpretiert, also in ihrem Sinn verstanden werden müssen.

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. So setzt zum Beispiel Wahlforschung voraus, dass man die institutionellen Normen kennt, die einem bestimmten Verhalten die Bedeutung des "Wählens" gibt. Durch die bloße Beobachtung menschlichen Verhaltens käme man niemals dazu, dass drei völlig verschiedene Vorgänge wie "jemand hebt seinen Arm", "jemand verlässt den Raum durch die linke Tür", "jemand schreibt einen Namen auf einen Zettel" die gleiche Handlung des "Wählens" darstellen.

Insofern nun die Politikwissenschaft nicht ohne derartige Handlungsbegriffe auskommt, die ein beobachtbares Verhalten zugleich unter dem Gesichtspunkt "bedeutungskonstituierender" Regeln interpretieren, ergeben sich hier Probleme, die über naturwissenschaftliche Fragestellungen hinausgehen und hermeneutische Fragestellungen aufwerfen. (S. dazu P. WINCH: Die Idee der Sozialwissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.)

Allerdings scheinen diese Grundlagenprobleme für die praktische Forschungsarbeit keine großen Schwierigkeiten darzustellen, insofern die Interpretationen des Verhaltens unproblematisch sind.

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Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
  
    Allgemeine Methodologie der Wissenschaft
   
Methodologie der normativen Politikwissenschaft

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Methodologie der empirischen Politikwissenschaft"
Letzte Bearbeitung 24.11.2005 / Eberhard Wesche

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