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PhilTalk-Diskussion
 

Wahrheit VI

 

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PhilTalk Philosophieforen    Theoretische Philosophie >> Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie >> Wahrheit VI
(Thema begonnen von: Eberhard am 21. Jan. 2005)

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Titel: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 21. Jan. 2005, 21:37 Uhr

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Hallo allerseits,

Diese neue Diskussionsrunde schließt an "Wahrheit V" und deren Vorgänger an.

Wir haben uns auf die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit konzentriert und sind der Frage nachgegangen:

" Was meinen wir, wenn wir eine Aussage über unsere Welt als "wahr" bzw. "falsch" kennzeichnen und welches ist das Kriterium für die Wahrheit bzw. Unwahrheit solcher Aussagen?"

Dabei haben wir verschiedene Aspekte der Wahrheitsproblematik diskutiert, wie z. B.:

- Bezieht sich die Kennzeichnung "wahr" auf Sätze oder auf die Bedeutung dieser Sätze?

- Was meinen wir, wenn wir etwas als "wirklich" bezeichnen?

- Woran erkennt man, ob es sich bei einem Satz um eine Aussage über die Wirklichkeit handelt?

- Sagen Werturteile etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus?

- Inwiefern sind Werte und Normen Bestandteil der Wirklichkeit?

- Wie kann man Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit von Definitionen unterscheiden?

- logische und pragmatische Bedeutung von Wahrheitsansprüchen,

- Wahrheit von Aussagen und Erkenntnis als Handlung

- Lebensweltliche und wissenschaftliche Wahrheit

- Wahrheit und logische Widerspruchsfreiheit als Kriterium der Wahrheit

- Wahrheit und Wahrnehmung als Kriterium der Wahrheit

- Wahrheit und innere (Selbst)Wahrnehmung

- Wahrheit und Objektivität von Aussagen

- Wahrheit und intersubjektive Gültigkeit von Aussagen

- Wahrheit und Verlässlichkeit (dauerhafte Gültigkeit) von Aussagen

- Wahrheit und Genauigkeit von Aussagen

- Wahrheit und Vollständigkeit von Aussagen

- Wahr sein und für wahr halten von Aussagen

- Dogmatische und rationale Ansprüche auf Wahrheit

und anderes mehr.

Gegenwärtig geht die Diskussion um die Frage, ob es Aussagen über die Wirklichkeit gibt, deren Wahrheit festgestellt werden kann ohne direkten oder indirekten Bezug auf unsere Wahrnehmungen.

Es sind alle zur Mitarbeit eingeladen, die etwas zur Klärung und Beantwortung der Fragen beizutragen haben.

Da die Richtigkeit einer Behauptung unabhängig davon ist, wer diese Behauptung aufgestellt hat, sollte für unserer Diskussion weiterhin das Motto gelten: "Kritik an der Position ohne Angriff auf die Person!"

Herzliche Grüße an alle, denen klares Denken und Sprechen wichtig ist, von Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von dirkson am 22. Jan. 2005, 12:53 Uhr

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Sorry, aber wenn du bei Teil XXXI bist melde ich mich gerne.

dirkson

p.s.: Es gibt nur eine Wahrheit.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 22. Jan. 2005, 21:19 Uhr

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Hallo Thomas J,

nochmals zu der Frage, welche sprachlichen Gebilde man als "wahr" oder "falsch" auszeichnen soll, die Sätze als solche oder die Sätze mit bestimmten Bedeutungen.

Wenn es die Sätze als grammatisch geordnete Folge von Wörtern sind, die wahr oder falsch sind, dann ist der Satz "Helmut Kohl ist Bundeskanzler" heute falsch. Derselbe Satz war aber im Jahr 1990 wahr.

Damit ergibt sich das Problem, dass der Satz "Helmut Kohl ist Bundeskanzler" das eine mal wahr ist und das andere mal falsch ist. Der Satz bekommt je nach dem Kontext, in dem er geäußert wird, eine andere Bedeutung und ist insofern vieldeutig.

Verantwortlich für die Mehrdeutigkeit des Satzes sind nicht die im Satz vorkommenden Wörter, verantwortlich ist das im Kontext weg gelassene – weil "selbstverständlich" gemeinte - Wort "gegenwärtig".

Das Wort "gegenwärtig" in einem Satz bedeutet: "zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Satz geäußert wird". Damit gleicht das Wort "gegenwärtig" einer mathematischen Variablen x, die verschiedene Werte annehmen kann.

Ausführlich formuliert lautet der Satz "Helmut Kohl ist Bundeskanzler'" also: "Helmut Kohl ist zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Satz geäußert wird, Bundeskanzler."

Er hat deshalb soviel verschiedene Bedeutungen, wie es Zeitpunkte der Äußerung dieses Satzes gibt.

Nun ist bekannt, dass das Argumentieren mit mehrdeutigen Sätzen problematisch ist, weil ein unbemerkter Wechsel der Bedeutungen von Wörtern stattfinden kann. Durch Mehrdeutigkeit kann sich ein Bedeutungsgehalt in die Schlussfolgerung einschmuggeln, der in den ursprünglichen Prämissen gar nicht implizit enthalten war.

Nicht umsonst lautet die grundlegende methodische Forderung der deduktiven Logik: "A gleich A". Wenn dies nicht gewährleistet ist, wenn A nicht mit sich selbst identisch ist sondern die Bedeutung von A je nach Kontext ein anderer ist, dann ist nicht mehr gewährleistet, dass die Wahrheit der Prämissen auf die Konklusionen übertragen wird. Dann kann man aus dem Satz "Das Bier hat eine schöne Blume" unzulässiger Weise folgern "Also blüht das Bier".

Und aus dem Satz "Helmuth Kohl ist (im Jahr 1990) Bundeskanzler" könnte man folgern "Helmut Kohl bestimmt (im Jahr 2005) die Richtlinien der Politik.

Um solche logischen Fehler zu vermeiden, sollte vor Anwendung logischer Schlussfolgerungen die Mehrdeutigkeit von Wörtern und Sätzen durch die Einführung unterschiedlicher Begriffe für unterschiedliche Bedeutungen beseitigt werden.

Damit wird bereits VOR jeder Argumentation der Kontextabhängigkeit von Wort- und Satzbedeutungen entsprochen. Innerhalb einer logischen Argumentation stiftet die Vieldeutigkeit aufgrund von kontextabhängigen Bedeutungen nur Verwirrung.

Du schreibst::

" Die aussage, helmut kohl sei bundeskanzler, muss nicht intertemporal stabil sein, sondern vielmehr -ich entlehne einen begriff aus der mathematik/informatik- es muss entscheidbar sein, ob dem so ist, oder nicht.

helmut kohl ist zwar eine person auf die es einmal zutraf, bundeskanzler zu sein - er ist jedoch nicht der aktuelle, d. h. am 19.01.2005, bundeskanzler. in diesem sinne ist die aussage "helmut kohl ist der aktuelle bundeskanzler" im kontext des jahres 2005 falsch."

Meine Frage an Dich: Wie setzt Du die von Dir geforderte Entscheidbarkeit praktisch um?

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 23. Jan. 2005, 15:36 Uhr

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Hallo Eberhard!

Die Formulierung "Aussagen über die Wirklichkeit, deren Wahrheit unabhängig von jeder Wahrnehmung feststeht", ist missverständlich. Meinst Du "unabhängig von jeder EINZELNEN Wahrnehmung" oder unabhängig von "Wahrnehmung überhaupt" ?

Um diese Doppeldeutigkeit zu vermeiden, könnte man mit Kant zwischen "Anschauung" und "Empfindung" unterscheiden. "Anschauung" ist das Vermögen, überhaupt sinnliche Empfindungen zu haben; "Empfindung" bezeichnet die einzelne Anschauung, die ein Individuum aktuell hat.

Dass es Sätze gibt, deren Wahrheit nicht von einzelnen Wahrnehmungen abhängt, ist, denke ich, verhältnismäßig leicht einzusehen. Jede Feststellung einer beobachtbaren Regelmäßigkeit erfüllt diese Bedingung, denn einzelne Wahrnehmungen sind immer abzählbar (endlich), während die Regelmäßigkeit sich auf ALLE möglichen Wahrnehmungen (dieser bestimmten Art) bezieht, auch solche, die noch niemand gemacht hat, sondern erst in der Zukunft machen wird.

Zwar lassen sich solche Regelmäßigkeiten nicht OHNE JEDE Wahrnehmung feststellen, aber eine Regelmäßigkeit, die ALLGEMEIN GILT, kann umgekehrt auch NICHT ALLEIN aus einer endlichen Zahl von Wahrnehmungen abgelesen sein. Die Behauptung der allgemeinen Geltung ist offenkundig eine "Zutat" des oder der Wahrnehmenden. Diese allgemeine Geltung "transzendiert" sozusagen jeden einzelnen "Fall" der Wahrnehmung.

Aber diese "Transzendenz" lässt sich bereits in der Struktur jeder singulären Aussage über etwas so und so Bestimmtes aufzeigen. Wir haben darüber schon im Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen Eigennamen und (Klassen-)Prädikaten gesprochen.

Wahrnehmungen finden immer hier und jetzt statt und beziehen sich auf Einzelnes. Sie setzen uns in ein "unmittelbares Verhältnis" (Kant) zum gerade hier und jetzt gegenwärtigen Gegenstand. Wenn wir diesen Gegenstand aber bestimmen (" Dies ist ein Tisch" ), bestimmen wir ihn als einen "Fall von...". Wir haben und verwenden also einen Begriff, der sich auf ALLE Tische bezieht, auch solche, die wir nie wahrgenommen haben oder wahrnehmen werden.

Ich denke, es ist klar, dass die Allgemeinheit des Begriffs "Tisch" nicht aus den einzelnen Wahrnehmungen abgeleitet sein kann (durch "Zusammenzählen" ). Der Begriff Tisch ist nicht eine "Sammelbezeichnung" für alle die einzelnen Tische, die wir bis dato aktuell wahrgenommen haben, sondern gilt auch für noch unbekannte und sogar noch nicht einmal existierende Tische. Wir können mithilfe dieses Begriffs vorkommende Gegenstände eigenständig ALS Tische klassifizieren - oder auch welche herstellen (wenn wir dazu die nötigen handwerklichen Fähigkeiten und Materialien haben).

 

Die Aussagen übrigens, die ich hier über Wahrnehmungen und Begriffe im Allgemeinen gemacht habe, behaupten etwas über die STRUKTUR unseres Erkennens. "Wahrnehmungen sind immer singulär". "Begriffe sind immer allgemein". Es sind Aussagen über die Konstitution unseres Erkennens, also über deren konstitutive Elemente, die sich daran ALLGEMEIN unterscheiden lassen. Und offenbar sind diese Aussagen keine Beschreibungen von etwas, das ich "in mir" oder "in uns" (sinnlich) wahrgenommen hätte. Es sind Unterscheidungen, die sich aus der Reflexion darauf ergeben, wie ich (oder wir) "immer schon" erkenne(n).

Sind es Aussagen über die Wirklichkeit? Es sind jedenfalls Aussagen darüber, wie unser Wissen von der Wirklichkeit zustande kommt, indem wir auf eine bestimmte (allgemeine, regelmäßig strukturierte) Art und Weise mit Dingen umgehen.

 

Nun zu Deiner Frage:

Quote:Meine Frage an die zweite Gruppe: Wenn die Kategorien Raum und Zeit nicht der Wahrnehmung entstammen, woher stammen sie sonst?

 

Zunächst: Dein Ausdruck "der Wahrnehmung entstammen" in der zitierten Frage ist in der oben schon angedeuteten Weise unscharf. Meinst Du einzelne Wahrnehmungen (" Empfindungen" ) oder meinst Du die allgemeine Struktur unserer Wahrnehmung?

Ohne Klärung dieses Unterschieds ist Deine Frage nicht zu beantworten.

 

Hier noch eine Erläuterung: Raum und Zeit sind keine "Kategorien" – wenn wir unter Kategorien BEGRIFFE verstehen wollen. Es sind – nach Kant – FORMEN DER ANSCHHAUNG. Sie sind also nicht "diskursiv", sondern "intuitiv". (Zwar sind "Raum" und "Zeit" Begriffe, aber sie bezeichnen keine Begriffe, sondern allgemeine Strukturen der Wahrnehmung.)

Kant behauptet – ich finde, einsichtig -, dass wir z. B. die Gegenstände der Geometrie nicht rein begrifflich erfassen oder konzipieren können. Eine Linie, ein Dreieck, ein rechter Winkel... von diesen Dingen hätten wir keine Vorstellungen ohne Annschauung. Dennoch sind Raum und Zeit allgemein, denn JEDE unserer einzelnen Anschauungen ist räumlich und zeitlich. Aber es ist eben eine Allgemeinheit, die sich von der Allgemeinheit der Begriffe unterscheidet.

Diese allgemeine Form unseres Anschauens ist nach Kant auch die Voraussetzung dafür, dass wir z. B. geometrische Gesetze formulieren können, die streng allgemein und notwenig sind – und zwar auch in ihrer Anwendung auf die Empirie: JEDES einzelne Dreieck, das wir konstruieren (und dann anschauen) können, hat die Winkelsumme von 180 Grad.

 

 

Du charakterisierst die unterschiedlichen Standpunkte folgendermaßen:

 

Quote:Der Unterschied besteht darin, dass die einen sagen:

" Die Kategorien Raum und Zeit werden von uns zusammen mit den Objekten wahrgenommen, sie werden durch unsere Wahrnehmung gewonnen",

während die andern sagen:

" Die Kategorien Raum und Zeit machen unsere Wahrnehmungen erst möglich, sie konstituieren unsere Wahrnehmung".

Wie soll man sich (Standpunkt 1) näherhin vorstellen, dass die Begriffe von Raum und Zeit "durch unsere Wahrnehmung gewonnen" werden? Geschieht das durch "Verallgemeinerung" ? Machen wir dabei die einzelnen Wahrnehmungen zum Gegenstand der Beobachtung und unterscheiden dann räumliche und zeitliche Eigenschaften daran?

Zum Begriff der "Konstitution" habe ich oben schon einige Erläuterungen gegeben. "Konstitutiv für..." bezeichnet zwar in gewissem Sinne eine "Ermöglichung". Aber von dieser Ermöglichung ist jede zeitliche Assoziation fernzuhalten. "machen erst möglich" – diese Formulierung könnte so verstanden werden, als handle es sich um eine methodische Reihenfolge, in der etwas konstruiert werden muss, damit die Sache am Ende klappt: Erst brauchen wir Raum und Zeit, dann können wir wahrnehmen.

Dass Raum und Zeit konstitutiv für unsere Wahrnehmung sei, bedeutet vielmehr, dass wir keine einzelne Wahrnehmung machen können, die nicht räumlich oder zeitlich wäre. (Wir sind keine "Nasenwurze", sondern "haben unsere fünf Sinne beieinander". :-) ) d. h. wir können von unserer Wahrnehmung ALLGEMEIN sagen, sie sei räumlich und zeitlich. Und da wir die Wahrnehmung nicht nur "reproduktiv" gebrauchen, um damit natürlich gegebene Dinge wahrzunehmen, sondern auch PRODUKTIV, um räumliche und zeitliche Dinge zu konstruieren, an denen streng notwendige Gesetzmäßigkeiten gelten, kann man mit einigem Recht behaupten, Raum und Zeit seien Strukturen/Formen unserer Wahrnehmung. Raum und Zeit können also NICHT NUR vorfindliche Eigenschaften von Dingen sein, sie müssen zu unserer Anschauung gehören. Denn unsere räumlich und zeitlich strukturierte Anschauung erstreckt sich auf eine größere Klasse von Gegenständen als nur die natürlich gegebenen und wahrgenommen; sie erstreckt sich auch auf die von uns konstruierbaren.

 

So weit erst mal.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 23. Jan. 2005, 23:05 Uhr

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Hallo Hermeneutikus,

 

on 01/23/05 um 15:36:28, Hermeneuticus wrote:Die Formulierung "Aussagen über die Wirklichkeit, deren Wahrheit unabhängig von jeder Wahrnehmung feststeht", ist missverständlich. Meinst Du "unabhängig von jeder EINZELNEN Wahrnehmung" oder unabhängig von "Wahrnehmung überhaupt" ?

 

Ich denke, Eberhard will hier den sog. "linguistic turn" der anal. Philosophie vollziehen, dh Aussagen nicht in ihrem Verhältnis zur empirischen Wirklichkeit betrachten (also nicht das Problem der empirischen Wahrheit von Aussagen thematisieren), sondern das Verhältnis von Aussagen untereinander, also die aussagenlogische Problematik von Wahrheit, thematisieren. Also wird es mit "Wirklichkeit, deren Wahrheit unabhängig von jeder Wahrnehmung feststeht" um den formal-allgemeinen aber nicht zufällig-empirischen Aspekt von "Wirklichkeit" gehen. Ob es von der Wortwahl glücklich ist, hier den Begriff "Wirklichkeit" zu gebrauchen, sei dahingestellt, da der Begriff "Wirklichkeit" mE doch wesentlich durch die Vorstellung von sinnlicher Erfahrbarkeit geprägt ist. Aber das Programm, das Eberhard vorschlägt, ist natürlich (auch unabhängig davon wie man "Wirklichkeit" versteht) vollziehbar - das zeigt ja die Geschichte der analytischen Philosophie.

 

Quote:Um diese Doppeldeutigkeit zu vermeiden, könnte man mit Kant zwischen "Anschauung" und "Empfindung" unterscheiden. "Anschauung" ist das Vermögen, überhaupt sinnliche Empfindungen zu haben; "Empfindung" bezeichnet die einzelne Anschauung, die ein Individuum aktuell hat.

...einzelne Wahrnehmungen (" Empfindungen" )

 

Falls du in der Versuchung bist, Wahrnehmung mit Empfindung gleichzusetzen, ist das mE knapp daneben: zB in B209 nämlich bezeichnet Kant Empfindung als "Materie der Wahrnehmung" - dh Wahrnehmung enthält zwar Empfindung, ist aber nicht nur Empfindung sondern hat auch immer einen formalen Aspekt (nämlich Zeit und Raum als Formen der sinnlichen Anschauung), der ja "Empfindung" per se abgeht. Wahrnehmung (=sinnliche Anschauung) ist also immer zeitlich (-räumlich) interpretierte (" apperzipierte" ) Empfindung, bzw. sinnliche Anschauung (=Wahrnehmung) enthält immer Empfindung (im Unterschied zu reiner Anschauung zB Geometrie) als essentielles Moment, ist aber nicht damit gleichzusetzen.

Während es sich bei Empfindungen um Perzeptionen (einfache Vorstellungen) handelt, sind Wahrnehmungen Interpretate von Empfindungen, zeitlich-räumlich gedeutete Empfindungen, also "Apperzeptionen" = perzipierte Perzeptionen, vorgestellte Vorstellungen. *)

 

Den folgenden (quantitativ und qualitativ gewichtigeren) Teil deiner Ausführungen finde ich klar formuliert und korrekt - soweit ich das beurteilen kann. ;-)

Gruß

Verena

*) Wahrnehmung ist also (im Unterschied zu Empfindung) bereits die Struktur des (Selbst-)Bewußtseins (Selbst-Bezüglichkeit) immanent.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 24. Jan. 2005, 14:08 Uhr

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Hallo Verena!

Danke für die terminologischen Korrekturen/Präzisierungen! Du hast da völlig Recht.

Zu meiner Rechtfertigung (:-) ): Mir ging es nicht um eine genaue Wiedergabe Kants, sondern nur um den Unterschied zwischen "Wahrnehmung überhaupt" und den einzelnen Wahrnehmungen. Wahrnehmung überhaupt meint etwas (Inter-)Subjektives, nämlich das Vermögen, einzelne Wahrnehmungen zu haben. Diese aktuellen Wahrnehmungen dagegen gehen ihrerseits auf das "Gebene" zurück, das gerade NICHT dem wahrnehmenden Subjekt zuzurechnen ist.

Auf die vorgeschlagenen Bezeichnungen "Anschauung" und "Empfindung" will ich nicht pochen. Ich habe sie eher zufällig aus Kants "Prolegomena" aufgegriffen, wo es im § 11 heißt:

" Doch betrifft dieses Vermögen, a priori anzuschauen, nicht die Materie der Erscheinung, d.i. das, was in ihr Empfindung ist, denn das macht das Empirische aus, sondern nur die Form derselben, Raum und Zeit."

Mit der Beachtung dieses sachlichen Unterschiedes indessen steht oder fällt das Kantsche Argument. Kant behauptet eben, dass Raum und Zeit Formen der Anschauung seien, d. h. etwas zum menschlichen Erkenntnisvermögen Gehörendes. Raum und Zeit sind also nicht "Eigenschaften" der Dinge, die wir vermittels sinnlicher Eindrücke gewissermaßen nur von ihnen "ablesen" und in uns "abbilden".

 

Zum Begriff der "Wahrnehmung", den ich der Einfachheit halber von Eberhard übernommen habe, wäre noch anzumerken: Ähnlich wie Du verstehe ich darunter bereits "verstandene" oder "bewusste" Perzeptionen. Wahrnehmungen sind also gewissermaßen bereits etwas Zusammengesetztes; es gehen subjektive wie objektive Momente darin ein bzw. rezeptive und spontane. Der Begriff der "Anschauung" dagegen bezeichnet - nach Kant - ein rein REZEPTIVES und "intuitives" Vermögen, das sich vom SPONTANEN und "diskursiven" Verstand elementar unterscheidet.

Und es ist nicht ganz unerheblich, sich klar zu machen, dass Kant Raum und Zeit eben der Rezeptivität zurechnet - wenn auch als deren allgemeine Formen.

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Deine Interpretation von Eberhards Standpunkt - er vollziehe den "linguistic turn" - habe ich übrigens nicht wirklich verstanden. Außerdem habe ich grundsätzlich nichts gegen den linguistic turn; es ist also nicht nötig, ihn gegen mich zu verteidigen... :-)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 24. Jan. 2005, 14:45 Uhr

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Hallo Hermeneuticus, hallo allerseits,

Wir hatten gesagt, dass das Kriterium für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit unsere Wahrnehmungen sind.

Wenn also behauptet wird, dass der schiefe Turm von Pisa gestern umgefallen ist, so ist für die Wahrheit dieser Aussage entscheidend, ob man sich durch eigenen Augenschein (oder indirekt durch vertrauenswürdige Berichte von Augenzeugen, Dokumente oder Indizien) von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugen kann.

In diesem Zusammenhang kam die Frage auf, ob man wahre Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit machen kann, ohne deren Wahrheit anhand unserer Wahrnehmungen prüfen zu müssen. Beispiele für die sprachliche Wiedergabe von Wahrnehmungen wären: "Ich sehe vor mir einen viereckigen Tisch", "Ich hörte einen lang anhaltenden Heulton", "Ich spüre, wie mein Herz schlägt", "Es riecht nach Vanille".

Da die Erörterung derart elementarer Sachverhalte wie Raum und Zeit erfahrungsgemäß nicht leicht ist, sollten wir diese Frage anhand eines konkreten Beispiels diskutieren. Diejenigen, die der Meinung sind, dass es Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit gibt, deren Wahrheit wir ohne Rückgriff auf die Inhalte unserer Wahrnehmung feststellen können, sollten am besten eine solche Aussage formulieren.

Da keinerlei Kritik an dem von mir formulierten Satz kam (" Alles, was geschieht, geschieht in Raum und Zeit" ), sollten wir die Frage vorerst an diesem Beispiel diskutieren.

Ich verstehe die Bedeutung dieses Satzes so, dass die Wirklichkeit räumlich und zeitlich angeordnet ist. Oder anders ausgedrückt: dass alles, was existiert und somit wirklich ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort existiert.

Als erstes muss die Frage beantwortet werden, ob es sich bei dem Satz: um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handelt.

Es könnte sich bei näherem Hinsehen auch um eine Tautologie, also in der Sprache Kants um ein "analytisches Urteil" handeln.

Dies wäre dann der Fall, wenn wir das Wort "Wirklichkeit" zuvor als das definiert hätten, was zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort existiert.

Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. So formulierst Du in Deinem Beitrag vom 14. Januar: " … Die Wahrnehmung samt ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit ist ja das, was unsere Wirklichkeit ÜBERHAUPT strukturiert. Oder anders gesagt: Wir nennen etwas "wirklich", wenn es in Raum und Zeit wahrgenommen wird. d. h. Wahrnehmung in Raum und Zeit ist ein KRITERIUM, ein Konstituens dessen, was wir "Wirklichkeit" nennen."

Die entscheidende Frage ist, ob hier mit dem Wort "Konstituens" etwas anderes bezeichnet wird als ein "Definiens", und ob damit aus den Begriffen möglicherweise nur das herausholt wird, was zuvor hineingesteckt wurde.

Du führst zur Bedeutung des Wortes "konstituieren" aus:

" Dass Raum und Zeit konstitutiv für unsere Wahrnehmung sei, bedeutet .., dass wir keine einzelne Wahrnehmung machen können, die nicht räumlich oder zeitlich wäre. … d. h. wir können von unserer Wahrnehmung ALLGEMEIN sagen, sie sei räumlich und zeitlich." Die Worte "Raum" und "Zeit" bezeichnen allgemeine "Formen der Anschauung", "denn JEDE unserer einzelnen Anschauungen ist räumlich und zeitlich".

Folgt aus dem bisher Gesagten, dass es sich bei dem Satzes "Alles, was geschieht, geschieht in Raum und Zeit" um eine Aussage über die Wirklichkeit handelt, deren Wahrheit wir ohne Rückgriff auf die Inhalte unserer Wahrnehmung feststellen können?

Aus meiner Sicht stellen sich die Dinge folgendermaßen dar. Dass die Welt räumlich und zeitlich geordnet ist, ergibt sich aus meinen Wahrnehmungen.

Ich öffne die Augen und bemerke Ungleiches: An einer Stelle ist es hell, an einer anderen ist es dunkler. Mit dieser Unterscheidung von zwei Orten ist die Grundlage für eine räumliche Wahrnehmung und den Aufbau eines räumlich geordneten Weltbildes gelegt.

 

ich halte die Augen weiter geöffnet und bemerke Ungleiches: Dort, wo es dunkel war, ist es nicht mehr dunkel. Mit dieser Wahrnehmung einer Veränderung (" Erst ist es so, dann ist es nicht so" ) ist die Grundlage für eine zeitlich geordnete Wahrnehmung und den Aufbau eines zeitlich geordneten Weltbildes gelegt.

Dagegen hätte mich mein Geruchsinn wohl kaum zur Unterscheidung verschiedener Orte und zu einer räumlichen Weltsicht gebracht.

Soviel erstmal. Ich denke, es gibt hiermit bereits genug Diskussionsstoff.

Grüße an alle "Tiefschürfer" von Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 25. Jan. 2005, 08:17 Uhr

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Hallo Eberhard!

Nur eine kurze, vorläufige Überlegung. Du schreibst:

Quote:In diesem Zusammenhang kam die Frage auf, ob man wahre Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit machen kann, ohne deren Wahrheit anhand unserer Wahrnehmungen prüfen zu müssen. Beispiele für die sprachliche Wiedergabe von Wahrnehmungen wären: "Ich sehe vor mir einen viereckigen Tisch", "Ich hörte einen lang anhaltenden Heulton", "Ich spüre, wie mein Herz schlägt", "Es riecht nach Vanille".

Der Ausdruck "Beschaffenheit der Wirklichkeit" ist (mindestens) zweideutig. Man kann ihn so verstehen, als sei damit jeweils das von (Teilstücken) der Wirklichkeit AUSGESAGTE gemeint. Deine Beispiele deuten an, dass Du den Ausdruck auf diese Weise verstehst. Da ist ein viereckiger Tisch, da ist ein lang anhaltender Heulton, ein schlagendes Herz, ein vanilleartiger Geruch.

Aber man kann ja auch fragen, ob es eine ALLGEMEINE Beschaffenheit der Wirklichkeit gibt, d. h. ob ALLES, was wir jeweils als so und so beschaffen wahrnehmen und aussagen können, bestimmte gleichbleibende Strukturen aufweist. Danach kann mn mit gutem Grund fragen, denn die Wirklichkeit ist ja kein chaotisches Sammelsurium aus isolierten Vorkommnissen. sondern ein geordneter Zusammenhang. So definiert z. B. Kant lapidar: "Natur ist das Dasein der Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist." (Proleg. § 14)

An dieser Definition ist jedes Wort wichtig, am wichtigsten erscheint mir aber "BESTIMMT IST". Wer oder was "bestimmt" hier? Sind die Dinge in ihrem Dasein "an sich" bestimmt, und wir buchstabieren diese Bestimmtheit nach? Bilden wir die Dinge mit ihren konstanten Relationen nur in einem anderen Medium ab (Sprache, Gedanken)?

Wenn es so wäre, dann müssten unsere Erfahrungen/Wahrnehmungen derselben Gesetzmäßigkeit unterliegen wie die wahrgenommenen Dinge. d. h. sie müssten IMMER so und nicht anders sein (also "notwendig" sein wie jene Gesetzmäßigkeiten). Das würde aber bedeuten, dass es gar keinen Irrtum und keine Sinnestäuschung geben könnte. Wir hätten dann natürlich auch kein Wahrheitsproblem und keine Kontroversen.

Aber erfahrungsgemäß fallen unsere Wahrnehmungen mal so, mal anders aus, differenziert je nach Standpunkt, nach Aufmerksamkeit usw. d. h. unsere Wahrnehmungen sind "kontingent" (" zufällig" ). Und so sagt Kant: "Nun lehrt mich Erfahrung zwar, was dasei und wie es sei, niemals aber, dass es notwendiger Weise so und nicht anders sein müsse." (ebd.)

Wenn Wirklichkeit (Natur) mit Kant auch "der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung" genannt werden kann (Proleg. § 16), dann richtet sich die Frage nach ihrer Beschaffenheit auf die besagten Gesetzmäßigkeiten, die einen solchen strukturierten "Inbegriff" überhaupt ermöglichen. Die Frage ist: Wie können wir, angesichts der Kontingenz unserer Erfahrungen/Wahrnehmungen, überhaupt allgemeine und notwendige Gesetzmäßigkeiten in der Wirklichkeit feststellen?

Ich muss hier abbrechen. Heute abend vielleicht mehr.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 25. Jan. 2005, 09:04 Uhr

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hallo eberhardt,

der vollständigkeit halber:

Quote:Dann kann man aus dem Satz "Das Bier hat eine schöne Blume" unzulässiger Weise folgern "Also blüht das Bier".

nur dann, wenn zusätzlich gilt "alles, was eine blume ist/hat, blüht".

 

Quote:Wie setzt Du die von Dir geforderte Entscheidbarkeit praktisch um?

in dem man die aussage einer semiotischen analyse unterzieht.

am beispiel helmut kohls hieße das, dass wenn jemand im jahre 2005 den o.g. satz äußert, muss der zuhörer wissen, wen "helmut kohl" bezeichnet, was ein "bundeskanzler" ist, und wie die temporale bestimmung zu lesen ist.

ein einfaches beispiel aus dem alltag:

ich denke, wir alle kennen die tagesschau. dort werden abend für abend die aktuellen nachrichten vorgetragen. allerdings gibt es in einigen dritten programmen eine "nostalgie-tagesschau" - die sog. "tagesschau von vor 20 jahren". angenommen ein zunächst unbedarfter beobachter schaltet sein fernsehgerät ein. idealerweise schreiben wir einmal den 05.05.2005. dort sind gerade bilder zu sehen, wie jemand an einem grab einen kranz niederlegt. aus dem off berichtet der sprecher »heute legte der amerikanische präsident ronald reagan in bitburg am kolmeshöher friedhof einen kranz nieder.« und just in dem moment fällt der strom aus. - ein wenig konstruiert, aber das beispiel erfüllt wohl seinen zweck.

um diese nachricht korrekt zu decodieren benötigt der zuschauer einige zusatzinfomationen. zunächsteinmal muss er wissen, wer der aktuelle präsident in amerika ist, bzw. benötigt er die information, ob ronald reagan identisch ist mit dem "aktuellen präsidenten von amerika". diese information ist schon ausreichend, um "heute" nicht mit "aktuell" gleichzusetzen, sondern um die nachricht in einen historischen kontext einzuordnen.

gesetz den fall, wir haben nicht die angegebene information, wer der aktuelle präsident von amerika ist, so haben wir dennoch verschiedene andere möglichkeiten, die gegebene information nicht als aktuell, sondern als "historisch" zu klassifizieren. es gibt z. B. die möglichkeit, dass sich der zuschauer an das jahr 1985 erinnert, in welchem diese nachricht tatsächlich aktuell war. oder aber, er erkennt am kleidungsstil/frisurentyp der beteiligten personen, dass es sich um nicht mehr zeitgemäße unmodische kleidung, bzw. frisur handelt (man denke besonders an die 70er jahre). evtl. ist auf dem parkplatz vor dem friedhof eine reihe von nichtmehr zeitgemäßen autos zu sehen, die den rückSchluss auf das jahr bzw. jahrzehnt zulassen. vielleicht erkennt der zuschauer auch die stimme des sprechers, und besitzt die information, dass der sprecher aktuell nicht mehr unter den lebenden weilt.

dies nur als ansatz, soll verdeutlichen, wie komplex zum beispiel eine botschaft codiert ist, und wie sich eine kontextuelle einordnung durch den empfänger der botschaft gestalten kann.

 

Quote:Damit ergibt sich das Problem, dass der Satz "Helmut Kohl ist Bundeskanzler" das eine mal wahr ist und das andere mal falsch ist. Der Satz bekommt je nach dem Kontext, in dem er geäußert wird, eine andere Bedeutung und ist insofern vieldeutig.

ich weiß nicht, von welcher art deine vorstellung von sätzen ist, eberhardt. zumindest -auch wenn ich mich jetzt auf eine position von hermeneuticus berufe- schweben sätze nicht wie autonome entitäten im reich der ideen, sondern werden in einem kontext geäußert, der ein wissensmodell der welt von sprecher und zuhörer -technisch: sender und empfänger- voraussetzt, welches es beiden erlaubt, nachrichten zu (de)codieren.

- mfg thomas

p.s.:

Quote:Dagegen hätte mich mein Geruchsinn wohl kaum zur Unterscheidung verschiedener Orte und zu einer räumlichen Weltsicht gebracht.

unterschlägst du in deiner "welterfahrung" nicht die motorik? schließlich stehen wir ja nicht an einem festen punkt wie ein pfifferling im wald und sortieren unsere eindrücke, sondern bewegen uns (manchmal) auch von der stelle; blinde z. B. können orte mit sicherheit auch durch die jeweiligen gerüche identifizieren. insofern kann auch eine olfaktorische zuordnung erfolgen.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 25. Jan. 2005, 14:58 Uhr

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Hallo Eberhard!

Statt den heute früh begonnenen Gedankengang fortzusetzen, springe ich vor zu dem Punkt, den Du für den entscheidenden hältst. (Ich hatte nämlich dazu vorhin auf dem Nachhauseweg einen Einfall, den ich gleich loswerden will... :-) )

Du schreibst:

Quote:Die entscheidende Frage ist, ob hier mit dem Wort "Konstituens" etwas anderes bezeichnet wird als ein "Definiens", und ob damit aus den Begriffen möglicherweise nur das herausholt wird, was zuvor hineingesteckt wurde.

Mein Gedanke war, kurz gefasst, dieser:

Zu einem "Konstituens" wird eine Definition in ihrer Anwendung auf die Erfahrung.

Eine Definition ist die Abgrenzung einer Wortbedeutung gegen andere Wortbedeutungen. So kann man definieren: "'Körper' nennen wir Entitäten mit messbarer Ausdehnung." Damit haben wir noch nichts über die "Beschaffenheit der Wirklichkeit" gesagt. Aber wir haben damit gewissermaßen ein "Feld" abgesteckt, innerhalb dessen uns wirkliche Körper begegnen können.

Dieser Schritt ist entscheidend: Durch die Definition sind allgemeine Kriterien festgelegt, anhand derer wir unsere vielfältigen Wahrnehmungen durchmustern können. Und jedesmal, wenn wir etwas wahrnehmen, das so und so ausgedehnt ist, können wir urteilen: "Dies ist ein Körper."

In dieser Anwendung der Definition auf unsere Erfahrung findet eine Vorsortierung, eine Selektion unter den Wahrnehmungen statt. Es werden diejenigen ARTEN von Wahrnehmungen IM VORAUS ausgesondert, deren aktuelles Vorliegen als sicheres Indiz für das Dasein eines Körpers GELTEN SOLLEN. Und dies ist auch unbedingt erforderlich, wie man an jedem Experiment zeigen könnte: Es muss IM VORAUS festgelegt sein, WELCHE ART von aktuellen Daten als Beleg für das faktische Bestehen des behaupteten Sachverhalts GELTEN SOLL, so dass ihr Ausbleiben als Beleg für das Nicht-Bestehen GELTEN KANN. Immerhin haben wir eine schier unbegrenzte Vielfalt von zufälligen Wahrnehmungen, und nicht jede beliebige Wahrnehmung gehört zu dem Sachverhalt, von dem gerade die Rede ist.

Ich behaupte nun, dass genau diese Vorsortierung der MÖGLICHEN Wahrnehmungen jenen Gegenstand IM ALLGEMEINEN "konstituiert", der DANN, in der AKTUELLEN Erfahrung, in jeweils EINZELNEN "Exemplaren" angetroffen werden kann (oder eben auch nicht).

Ohne eine solche Vorsortierung der möglichen Wahrnehmungen könnten wir gar keine einzelnen, faktischen "Fälle von..." wahrnehmen. Anders gesagt: Die Vorsortierung der möglichen Wahrnehmungen nach bestimmten Arten ist die BEDINGUNG dafür, dass wir einen so und so bestimmten Gegenstand faktisch wahrnehmen können. Noch einmal anders gesagt: Die Vorsortierung der möglichen Wahrnehmungen stellt erst diejenige Beziehung zwischen Begriffen und Sinneseindrücken her, die es möglich macht, wahre Sätze über wirkliche Dinge zu äußern.

(Dies ist eine sehr knappe und vereinfachte Interpretation des Zusammenhangs von "Kategorie" - "Schema" - "Gegenstand der Erfahrung", wie ihn Kant sieht.)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 25. Jan. 2005, 22:42 Uhr

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Im übrigen ist Helmut Kohl Heute auch noch Bundeskanzler, genau wie Clinton und Carter und Bush sen. noch Präsidenten sind. Sie sind eben nur keine Amtierenden.

furchtbar besserwisserisch

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 25. Jan. 2005, 22:47 Uhr

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"... wie man an jedem Experiment zeigen könnte: Es muss IM VORAUS festgelegt sein, WELCHE ART von aktuellen Daten als Beleg für das faktische Bestehen des behaupteten Sachverhalts GELTEN SOLL, so dass ihr Ausbleiben als Beleg für das Nicht-Bestehen GELTEN KANN." (Herm.)

ich denke, weil das so ist, kann man getrost sagen, in den empirischen Wissenschaften ist vorher schon festgelegt, das man sich nachher versteht, oder?

D

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 25. Jan. 2005, 23:24 Uhr

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Hallo Dy,

Du scheinst ja etwas zynisch drauf zu sein heute Abend... :-)

Aber so ganz Unrecht hast Du nicht. In den Wissenschaften wird eben nicht einfach so ins Blaue geforscht, nach dem Motto: "Kucken wir mal, was uns die Sinne heute Schönes zutragen...." Sondern es werden Fragen gestellt und präzisiert, es werden Gegenstände definiert, spezifiziert, es werden Versuchsanordnungen konstruiert usw.

Am epochemachenden Experiment Galileis, das die Belegdaten für sein im ganzen Universum gültiges Fallgesetz anhand von rollenden Kugeln auf einer schiefen, polierten Holzplatte lieferte, lässt sich das doch sehr schön belegen. Was Galileis Augen dabei faktisch gesehen haben, musste erst im Lichte gewisser Hypothesen und Idealisierungen INTERPRETIERT werden, damit die Beobachtungen eine solche BEDEUTUNG annehmen konnten. Um nur eins zu nennen: Die faktische Reibung der Kugeln auf der Holzplatte musste ignoriert werden; sie SOLLTE keine BEDEUTUNG haben. Galilei betrachtete das Verhalten der faktischen Kugeln, ALS OB sie perfekte Kugelgestalt hätten und die faktische Holzplatte eine perfekte Ebene sei. Dagegen sollte die zunehmende Beschleunigung der Kugeln bei zunehmender Schräge der Platte sehr wohl bedeutend sein.

Ich behaupte: Solche VORAB-SORTIERUNG der faktischen Daten wird es bei JEDEM Experiment in der einen oder anderen Weise geben. Es muss im voraus klar sein, welche Daten ALS SIGNIFIKANT für welchen Sachverhalt GELTEN sollen. Insofern siind die Begriffe und Kriterien, anhand derer eine solche Spezifizierung jeweils vorgenommen werden kann, notwendige Bedingungen für die Aussagekraft von Beobachtungen.

Zugespitzt kann man darum durchaus sagen: Man muss schon wissen, wonach man sucht, um es dann auch zu finden.

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 26. Jan. 2005, 00:20 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

ich beglückwünsche dich zu deinem Gedankenblitz - da scheint dir heute wirklich ein Paradigma transzendentalphilosophischer Interpretation von Erfahrung aufgegangen zu sein! ;-)

Man könnte es in Kurzform vielleicht so formulieren:

Was einzelnen Wahrnehmungen Zusammenhang gibt, kann selbst keine Wahrnehmung sein, sondern etwas, das Wahrnehmung transzendiert: der Begriff von Etwas (Bsp. Körper) als wahrnehmungsintegrative Einheit.

Man muss also zuerst etwas "erfinden" (konstituieren = apriorische Synthesis eines Begriffs von Etwas) damit etwas (Wahrnehmungen) ALS etwas "entdeckt" (gedeutet, verstanden, erfahren, begrifflich "bestimmt" ) werden kann.

D'accord?

Gruß, Verena

PS

Leider in dieser (vielleicht missverständlichen) Kurzform, da ich für heute Schluss machen muss.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 26. Jan. 2005, 07:27 Uhr

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Guten Morgen, Verena!

Oui, d'accord.

Gruß

Hermeneuticus (!)

 

(Auch ich muss mich heute früh kurz fassen.) :-)

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 26. Jan. 2005, 09:27 Uhr

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Hallo Verena,

bei mir blitzt es leider im Augenblick gar nicht. Eher glimmt es schwach, wenn ich versuche, die Herkunft von Raum und Zeit in unserer Erkenntnis der Wirklichkeit zu klären. Vielleicht hast Du in deiner Eile Äußerungen von Hermeneuticus mir zugeschrieben …? (was seine ebenfalls eilige Zustimmung erklären würde.) Mir ist jedenfalls etwas ähnliches schon mal passiert.

Gegenwärtig sehe ich also noch nicht die Notwendigkeit, den Begriffsapparat Kants zu übernehmen, um begreifen zu können, wie die Erkenntnis unserer Welt möglich ist.

Ich hatte geschrieben:

" Dass die Welt räumlich und zeitlich geordnet ist, ergibt sich aus meinen Wahrnehmungen."

Wenn ich meine Augen öffne und ich würde nichts als ein gleichförmiges Grau sehen, dann könnte ich aus dieser Wahrnehmung keinerlei Räumlichkeit ableiten (obwohl ich zwei Augen habe, die zwei Bilder an mein Großhirn senden, so dass mir selbst ohne eigene Ortsveränderung ein räumliches Sehen möglich ist.)

Da ich aber z. B. unterschiedliche helle Stellen sehe, kann ich den Ort der einen (helleren) Stelle von dem Ort der anderen (dunkleren) Stelle unterscheiden und entnehme meiner Wahrnehmung eine räumliche Welt in der es ein "hier" und "dort", ein "vor" und "hinter", ein "über" und "unter", ein "links daneben" und "rechts daneben", in dem es also Orte, Richtungen (" von" und "nach" ), und Entfernungen (" dicht neben" und "weit von" ) gibt.

So einfach ist das.

(Den letzten Satz habe ich speziell für diejenigen unter unseren Kritikern eingefügt, die darauf bestehen, dass die Wahrheit doch einfach sei, und dass dies mit der Länge unseres Diskurses nicht vereinbar sei…).

Und wenn ich meine Augen öffne, und sehe die ganze Zeit nur ein und dasselbe unveränderliche Bild, dann könnte ich aus dieser Wahrnehmung keinerlei Zeitlichkeit ableiten (obwohl ich eine Erinnerungsvermögen habe, in dem die Bewusstseininhalte mit ihrer zeitlichen Abfolge geordnet abgelegt werden, so dass mir grundsätzlich der Aufbau eines zeitlich geordneten Weltbildes möglicht ist.)

Da es also bei mir noch nicht transzendental geblitzt hat, versuche ich mühsam, die Begriffe zu ordnen. Die größte Gefahr scheinen mir im Augenblick zirkelhafte Begriffsbestimmungen zu sein nach dem Muster: "Was wirklich ist, muss wahrgenommen werden können" und "Wahrnehmungen unterscheiden sich von Einbildungen dadurch, dass sie sich auf die Wirklichkeit beziehen."

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 26. Jan. 2005, 11:01 Uhr

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Lieber Eberhart,

nur ein Beitrag zur Problemvertiefung.

Wenn ein erwachsener blinder Mensch, von Geburt an blind, vor einem Hindernis steht und du ihm sagst: "gehe bitte links vorbei!", er hat gelernt was das Wort links bezeichnet, er hat aber a) um die Bedeutung des Wortes lernen zu können und um b) tatsächlich links vorbei gehen zu können eine Raumvorstellung.

Man kann sich natürlich darüber streiten, ob der Raum- und auch die Zeit anthropologisch gesehen, immer in der gleichen Art und Weise vorgestellt wurden. Ich erinnere an die Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei mit Beginn der Renaicance (Piero de la Francesca) oder an den berühmten Besuch von Francesco Petrarca auf dem Mont Ventoux. Oder noch viel früher an die zirkuläre Zeitvorstellung der Jäger und Sammler.

... oder an die Flächigkeit früher griechischer Vasen... oder an die Seitenprofile ägyptischer Reliefs, da sind selbst die plastischen Figuren "nur" vierseitige Reliefs.

All diese Artefakte (Texte, Bilder, uvm.) zeigen doch sehr deutlich eine Evolution der Raum- und Zeitvorstellung, oder?

Grüße

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 26. Jan. 2005, 11:09 Uhr

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ps...

und dann sind da noch diese Frauen-Portraits von Picasso. Die manchen seltsam erscheinenden Darstellungen wo eine Frontalperspektive und eine Seitendarstellung in eins gezeichnet sind. Manchmal sogar noch eine dritte oder vierte Perspektive. Da könnte sich doch Picasso Gedanken darüber gemacht haben wie man unsere Fähigkeit dazu, die "Eigenschaften" der Gegenstände der sinnlichen Erfahrung die uns nicht alle gleichzeitig zur Verfügung stehen, darstellen kann. Etwa die Rückseite eines Würfels den wir sehen. Das er, der Würfel eine solche hat unterstellen wir ja "automatisch" und addieren diese Vorstellung zu der sinnlichen Erfahrung dazu.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 26. Jan. 2005, 13:04 Uhr

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hallo liebe wahrnehmungssucher,

 

Quote:Eine Definition ist die Abgrenzung einer Wortbedeutung gegen andere Wortbedeutungen. So kann man definieren: "'Körper' nennen wir Entitäten mit messbarer Ausdehnung." Damit haben wir noch nichts über die "Beschaffenheit der Wirklichkeit" gesagt.

soweit stimme ich mit hermeneuticus überein. wenn wir die gegenstände, figuren etc. die sich uns in der wahrnehmung begegnen mit namen versehen, so haben wir nichts über die gegenstände ausgesagt, sondern ihnen schlicht namen vergeben. im angegebenen beispiel haben wir lediglich etwas mit "körper" benannt. man hätte es auch "corpus" oder anders nennen können.

allerdings fährt er fort mit

Quote:Aber wir haben damit gewissermaßen ein "Feld" abgesteckt, innerhalb dessen uns wirkliche Körper begegnen können.

was es heißt, dass uns in diesem "feld wirkliche körper begegnen können", bleibt aus dem gesagten unklar. es wäre unverständlich zu behaupten, man könne nur das wahrnehmen, was man auch kenne. richtig ist, dass man einen gegenstand erst dann korrekt benennt, wenn man seinen namen gelernt hat.

 

Quote:Es werden diejenigen ARTEN von Wahrnehmungen IM VORAUS ausgesondert, deren aktuelles Vorliegen als sicheres Indiz für das Dasein eines Körpers GELTEN SOLLEN.

so kann nur derjenige sprechen, der versucht quasi die wahrnehmung von zuhause aus dem fernesehsessel zu rekonstruieren. es scheint ja gerade so, dass mit wechselnder "sortierung" sich unsere wahrnehmung stets ändert. - wohlgemerkt, wir reden von den regelfällen, wie tisch, stuhl, auto und nicht von polysemen figuren der optischen täuschungen. das hieße ja, man könnte einen "stuhl" nicht wahrnehmen wenn man nicht zuvor gelernt hat, was ein "stuhl" ist. %) aber sitzen könnte man allem anschein nach schon darauf, oder?

 

Quote:Ich behaupte nun, dass genau diese Vorsortierung der MÖGLICHEN Wahrnehmungen jenen Gegenstand IM ALLGEMEINEN "konstituiert", der DANN, in der AKTUELLEN Erfahrung, in jeweils EINZELNEN "Exemplaren" angetroffen werden kann (oder eben auch nicht).

behaupten ist gut, begründen ist besser :D

eine etwas andere sichtweise von "objektwahrnehmung" liefert uns die wahrnehmungspsychologie.

an die gestaltpsycholgie angelehnt, kann man z. B. von der trennung von figur-hintergrund sprechen. wir nehmen unsere umwelt nicht wie eine digitalkamera ausschließlich in gerasterter auflösung wahr, sondern nehmen darüberhinaus "gestalten" bzw. "figuren" wahr; i.e. wenn wir uns z. B. ein blatt papier nehmen und einen schwarzen punkt einzeichnen, so nehmen wir das weiße blatt papier als hintergrund und den schwarzen punkt als figur auf diesem hintergrund wahr.

ein beispiel für das schema figur-hintergrund ist rubins vase:

http://8ch.cx/wataya-curry/archives/img/rubins-vase-thumb.jpg

wir nehmen hier entweder die schwarze farbe als hintergrund wahr und erkennen eine weiße vase, oder aber wir nehmen das weiße als hintergrund und erkennen zwei schwarze gesichter.

wichtig bei diesem bild ist mir nicht der sog. kippeffekt, sondern zunächsteinmal die triviale feststellung, dass wir nicht in der lage sind, z. B. vase und gesichter gleichzeitig wahrzunehmen.

ein zweiter punkt ist mir ebenfalls wichtig - nämlich der verweis darauf, dass es sich bei den beiden bildern "vase" und "gesichter" nicht um willkürliche konstitutionen virtueller objekte handelt, sondern, dass quasi beide lesarten im bild vorhanden sind; dass also die figuren als objektive bestand haben.

für unser thema der objektwahrnehmung heißt das, dass wenn wir objekte der wirklichkeit erkennen, so erkennen wir sie deshalb, weil sie uns als gestalten oder figuren erscheinen, die sich von einem "hintergrund" abheben.

zwar möchte ich hier kein plädoyer für die gestaltpsychologie halten -ich weiß sehr wohl um die problematik, die sich in diesem ansatz (besonders in den "gestalt gesetzen" ) stellt- denke aber einen kleinen anstoß gegeben zu haben, auch alternative, nicht-philosophische (vorallem nicht-kantische) ansätze zu bedenken.

und nachwievor denke ich, ist es einfacher erklärungsansätze für das funktionieren von wahrnehmung zu geben, wenn man die subjektive leistung des wahrnehmenden nicht überbetont.

so far ...

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 26. Jan. 2005, 13:38 Uhr

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Hallo Thomas J,

wir sind uns einig, dass man im Alltag ständig Sätze spricht, deren Bedeutung sich nur aus dem Kontext ergibt. Der Satz: "Sein Ton ist fest und geschmeidig" bedeutet im Kontext eines Geigenunterrichts etwas anderes als beim Töpferkurs.

Wir sind uns wohl auch einig, dass sich aus einer derartigen Mehrdeutigkeit Probleme ergeben können. Wenn A den akustischen Ton meint und B das Material zum Töpfern, dann kann A recht haben, wenn er den Satz "Sein Ton ist fest und geschmeidig" behauptet und gleichzeitig kann auch B recht haben, wenn er den Satz "Sein Ton ist NICHT fest und geschmeidig" behauptet.

In der Logik kann aber nicht sowohl eine Aussage als auch deren Verneinung wahr sein. Wenn wir uns also nicht von der Logik verabschieden wollen, sollten wir nur dann von "demselben Satz" sprechen, wenn wir damit den Satz in einer bestimmten Bedeutung meinen. Ein mehrdeutiger Satz wäre folglich kein "richtiger" Satz im Sinne der Logik, da er sowohl wahr (in der einen Bedeutung) als auch falsch (in der anderen Bedeutung) sein kann.

Die Frage nach wahr oder falsch kann man demgemäß nur in Bezug auf eindeutig interpretierte Sätze stellen.

Texte, die auf ihre Wahrheit hin geprüft werden, sollten deshalb bereits interpretiert sein.

Auf jeden Fall muss sich aus dem Kontext eine bestimmte Bedeutung ergeben. Wo es trotz Kontextabhängigkeit auf eine eindeutige Interpretationankommt, wie z. B. bei Versuchsprotokollen oder Testamenten, werden deshalb gewöhnlich Ort, Datum und Unterschrift verlangt, damit klar ist, wer "ich" ist, wo "hier" ist und wann "heute" ist.

Noch ein kleiner Nachtrag zu der Frage, welche Sätze etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagen und welche nicht.

Der Satz: "Er verspricht, ihre Schulden zu bezahlen" ist ein Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit.

Dagegen enthält der Satz "Ich verspreche, ihre Schulden zu bezahlen" keine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit, sondern ist eine Handlung, die im Medium der Sprache vorgenommen wird. Dieser Satz ist ein "Sprechakt" (im Sinne Searles), durch den eine Verpflichtung geschaffen wird.

Grüsse an Dich und an alle Teilnehmer und Leser von Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 26. Jan. 2005, 14:53 Uhr

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Hallo Thomas!

on 01/26/05 um 13:04:21, jacopo_belbo wrote:wenn wir die gegenstände, figuren etc. die sich uns in der wahrnehmung begegnen mit namen versehen, so haben wir nichts über die gegenstände ausgesagt, sondern ihnen schlicht namen vergeben. im angegebenen beispiel haben wir lediglich etwas mit "körper" benannt. man hätte es auch "corpus" oder anders nennen können.

Hier haben wir schon einen gravierenden Dissens!

Die Definition "'Körper' nennen wir Entitäten mit messbarer Ausdehnung" ist nicht zu verwechseln mit der Vergabe eines Namens an ein Individuum. Zwar ist das WORT "Körper" ein Name, nämlich ein arbiträres Zeichen, das ohne Schaden durch "Corpus" oder auch eine Buchstabenfolge wie "Krtzlonpüs" ersetzt werden könnte. Aber WAS bezeichnet diese Buchstabenfolge? Offenbar nicht eine unendliche Menge von Individuen, sondern Etwas, das durch die allgemeine Eigenschaft der messbaren Ausdehnung bestimmt ist.

Bezeichnende (Signifikanten) haben eine "arbiträre", d. h.willkürliche, zufällige Beziehung zum Bezeichneten (Signifikat). Aber das Zeichen (als Einheit von Signifikat und Signifikant) hat - vermöge der vorliegenden semantischen Bestimmung - eben KEINE WILLKÜRLICHE Beziehung zu den Referenten (den "wirklichen Dingen" ). Denn die Definition gibt ja gerade die REGEL an, nach der der Signifikant "Körper" in Beziehung zu seinen Referenten steht. Hier lautet die Regel: Es sollen nur solche Dinge "Körper" genannt werden, die das Kriterium "messbare Ausdehnung" erfüllen. Diese Regel schließt die Arbitrarität der Bezeichnung gerade aus.

Anders gesagt: Der Term "Entität mit messbarer Ausdehnung" ist eine VARIABLE, die nicht durch BELIEBIGE Werte ersetzt werden kann, sondern nur durch solche, die eine messbare Ausdehung aufweisen.

Wie wär's, wenn Du meine Argumente für die Unterscheidung zwischen Eigennamen und (Klassen-)Prädikaten einmal zur Kenntnis nehmen und darauf antworten würdest, statt immer wieder nur Deinen Standpunkt zu wiederholen, als hätte ich nie etwas dagegen vorgebracht?

 

 

Quote:was es heißt, dass uns in diesem "feld wirkliche körper begegnen können", bleibt aus dem gesagten unklar. es wäre unverständlich zu behaupten, man könne nur das wahrnehmen, was man auch kenne. richtig ist, dass man einen gegenstand erst dann korrekt benennt, wenn man seinen namen gelernt hat.

Was einen "Gegenstand", den man dann so oder so benennen kann, jeweils ausmacht - genau das ist der Inhalt der Definition. Oben habe ich dafür den linguistischen Terminus "Signifikat" gewählt. Man könnte auch traditionell von "Prädikat" sprechen.

Bevor ich ein Etwas mit einem Namen belege (" Dies ist ein Körper" oder "Dies ist ein Tisch" ), muss ich wissen, wodurch sich diese ART von Gegenständen von anderen ARTEN von Gegenständen unterscheidet. Diesen Unterschied kenne ich aus der Namenserklärung (=Definition). Die Definition gibt die Regel an, nach der eine KLASSE von Gegenständen korrekt benannt wird. Ohne eine solche Regel wäre übrigens auch Deine Rede von der "korrekten Benennung" sinnlos.

Eine Worterklärung, darin sind wir uns ja einig (s.o.), bezieht sich noch nicht auf wirkliche Gegenstände. "Etwas mit messbarer Ausdehnung" bezieht sich noch auf nichts Konkretes. Aber weil diese Variable durch ALLE einzelnen Dinge ersetzt werden kann, auf die das Kriterium "messbare Ausdehnung" zutrifft, habe ich gewissermaßen ein MÖGLICHES Anwendungs-" Feld" für diesen Terminus. Dieses Feld "existiert" als solches freilich nicht, zumal es sich auch auf mir noch unbekannte, ja noch inexistente Dinge erstreckt. Aber es ist eben jener "ideelle", in eine antizipierte Zukunft reichende Anwendungsspielraum, den jede Regel eröffnet.

 

Quote:das hieße ja, man könnte einen "stuhl" nicht wahrnehmen wenn man nicht zuvor gelernt hat, was ein "stuhl" ist.) aber sitzen könnte man allem anschein nach schon darauf, oder?

Man wird sicherlich etwas wahrnehmen, auch wenn man nicht weiß, was ein Stuhl ist. Aber man wird dieses Etwas eben nicht ALS Stuhl wahrnehmen.

Unsere Wahrnehmung ist kein indifferentes, entropisches Starren, für das jede einzelne Empfindung jeder anderen äquivlent wäre. Sondern sie ist immer fokussiert. Sie "konzentriert" sich, und zwar jeweils auf das, was wir als "das Wesentliche" kennen. Wäre dem nicht so, könnten wir mit den unbegrenzt vielen zufälligen Eindrücken gar nicht fertig werden. Insofern ist unsere Wahrnehmung IMMER SCHON durch "Bedeutung" oder "Relevanz" oder "Zwecke" usw. vor-sortiert oder bestimmt. Heidegger würde sagen, sie sei "umsichtig". Und die von Dir berufene Gestalttheorie lehrt auf ihre Weise etwas Ähnliches.

Dass wir "wahllos" in die Welt schauen - was dasselbe bedeutet wie "desorientiert" -, kommt nicht so oft vor. Und ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir an unsere Kleinkindzeit, in der wir noch nicht sprechen konnten, kaum greifbare Erinnerungen haben. Denn damals war unsere Wahrnehmung noch zu desorientiert, zu unbestimmt, zu unbegriffen (zu wenig durch Begriffe erschlossen), als dass wir ein klares Bild von uns und unserer Umwelt gewinnen konnten.

Zur Begründung meiner These über die Vorsortierung der Wahrnehmung in Experimenten verweise ich auf mein Beispiel im Beitrag Nr. 12 in diesem Thread.

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 26. Jan. 2005, 15:44 Uhr

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hallo hermeneuticus,

ich habe das gefühl, dass wir aneinander vorbeireden.

deshalb versuche ich einmal klärung zu schaffen.

vielleicht wird dann auch klar, weshalb ich auf die gestalttheorie zu sprechen kam.

auslöser war eigentlich dein letzter post, indem du den eindruck erweckt hattest, dass ein einseitiger zusammenhang zwischen wahrnehmung und benennung besteht. ich hatte dich so verstanden, dass du wahrnehmung als einen unstrukturierten fluß ansiehst, der durch gewisse formprinzipien so oder anders geordnet werden kann.

Quote:In dieser Anwendung der Definition auf unsere Erfahrung findet eine Vorsortierung, eine Selektion unter den Wahrnehmungen statt. Es werden diejenigen ARTEN von Wahrnehmungen IM VORAUS ausgesondert, deren aktuelles Vorliegen als sicheres Indiz für das Dasein eines Körpers GELTEN SOLLEN.

vielleicht ist in diesem zusammenhang dein beispiel mit "körpern" ein wenig unglücklich gewählt, weil es mehrere lesarten zuläßt.

nehmen wir ein anderes beispiel:

wir stellen uns eine reihe von buchstaben vor, z. B.

xXxXxXxX usw.

zunächsteinmal ergibt sich von meinem standpunkt aus, dass die reihe durch ihre "gestalt" gekennzeichnet ist. das schwarze der reihe hebt sich vom hintergund ab. insofern ist keine wahrlose selektion in der wahrnehmung möglich. die "gestalt" der reihe zwingt sich dem betrachter sozusagen auf. und das unabhängig -und das zu zeigen war mir wichtig- ob der betrachter weiß, dass es sich um eine reihe von großen und kleinen buchstaben handelt oder nicht. und von daher ist auch verständlich, warum ich die definition, die du angegeben hast -was denn ein körper sei- als "benennung" gelesen habe. dasjenige, was man als "körper" erkennt, ist schon logisch gesehen vor dieser "benennung" erkannt worden - nämlich als "gestalt".

und um die brücke zurück zu schlagen zu dem, was wir eigentlich verhandeln wollten, folgendes:

der begriff "raum" ist schon in unserer wahrnehmung implizit enthalten; nämlich durch die unterscheidung von figur und hintergrund. die räumliche anordnung der einzelnen figuren -ich weiß nicht, ob die bezeichnung objektiver raum angebracht ist- ist es, die es uns ermöglicht, von "räumlicher wahrnehmung" zu sprechen. es ist eine eigenschaft unserer uns umgebenden wirklichkeit, "räumlich organisiert" zu sein und keine bloß subjektive zutat, die aus einer apriorischen organisation unseres verstandes zu erklären wäre. im gegenteil: das, was wir "raum" nennen -wenn wir zum beispiel an einen dreidimensionalen vektor-raum denken- ist nichts anderes als eine -um bei den termini zu bleiben- aposteriori erfahrung, bzw. ableitung aus unserer wahrnehmung.

noch zu deinem letzten post:

Quote:Sie "konzentriert" sich, und zwar jeweils auf das, was wir als "das Wesentliche" kennen.

und was, wenn nicht die "gestalt" wäre das wesentliche?

Quote:Zur Begründung meiner These über die Vorsortierung der Wahrnehmung in Experimenten verweise ich auf mein Beispiel im Beitrag Nr. 12 in diesem Thread.

ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem von dir angesprochenen nicht um eine "sortierung" der wahrnehmung selbst handelt, sondern um das verfahren der modellbildung in den wissenschaften, was erst zu einem (logisch) späteren zeitpunkt erfolgt, als die wahrnehmung selbst.

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 26. Jan. 2005, 18:39 Uhr

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Hallo Thomas j.,

wie ist das denn, dort wo wir nicht weiter kommen nehmen wir einfach einen neuen Begriff, zB. Gestalt, packen inden das Problem das wir bearbeiten, ohne es zu merken, und reden dann nicht mehr von "Körper" sondern von "Gestalt" ? OHNE das es bedacht ist verbirgt sich das gleiche Problem jetzt in dem Wort "Gestalt" statt wie vorher in dem Wort "Körper".

Gruß

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von hel am 26. Jan. 2005, 23:32 Uhr

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Liebe Runde,

Ich habe schon einige (allerdings nicht alle) Beiträge mit viel Vergnügen in diesem wirklich interessanten Thread gelesen. Vielleicht kann ich ja zu folgender Frage von Eberhard auch etwas brauchbares beisteuern.

 

Quote:Da keinerlei Kritik an dem von mir formulierten Satz kam (" Alles, was geschieht, geschieht in Raum und Zeit" ), sollten wir die Frage vorerst an diesem Beispiel diskutieren.

Ich verstehe die Bedeutung dieses Satzes so, dass die Wirklichkeit räumlich und zeitlich angeordnet ist. Oder anders ausgedrückt: dass alles, was existiert und somit wirklich ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort existiert.

Als erstes muss die Frage beantwortet werden, ob es sich bei dem Satz: um einen Satz über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handelt.

 

Mein Ansatz wäre: gibt irgendetwas in unserer Erfahrung einen Anlaß, an unserem intuitiven Bild von Raum und Zeit – aus dem z. B. der Satz, "ein Objekt muss zu einem gewissen Zeitpunkt an einem gewissen Ort sein" folgt – zu zweifeln?

Einen Anlaß zu Zweifel geben doch Experimente der Quantenphysik, z. B. das Doppelspaltexperiment: Selbst wenn Teilchen einzeln durch einen Doppelspalt geschickt werden, ergibt sich genau dann, wenn keine Information über den Weg des Teilchens möglich ist, ein Interferenzmuster. Nach unserer klassischen Anschauung, die verlangt, dass das Teilchen durch einen der beiden Spalten gegangen sein muss – und von dem anderen quasi nichts "wissen" kann, ist das Experiment kaum erklärbar. Nach der Quantenphysik – soweit ich das als interessierter Laie richtig verstanden habe – befindet sich das Teilchen in einer Art Überlagerungszustand beider Möglichkeiten. Danach wäre aber der Satz:

" Teilchen X hat den Weg durch den Spalt A genommen" weder wahr noch falsch – sondern beinahe sinnlos.

Ein ähnliches – mit den gewöhnlichen Raumvorstellungen inkompatibles Ergebnis erzielen m.E. auch die in folgendem Link sehr schön beschriebenen Experimente: http://www.ap.univie.ac.at/users/fe/MERLIN_MPI/konzept.htm.

Ähnlich problematisch – wenn man die spezielle Relativitätstheorie bedenkt– ist die Sache mit dem Zeitpunkt.

Wenn ich sage, "Ereignis A passierte gleichzeitig zu Ereignis B", ist dies weder ein wahrer noch ein falscher Satz, sondern unvollständig, solange ich nicht ein Bezugssystem angebe. Aus einem Bezugssystem mag das Ereignis A vor B passiert sein, aus einem anderen nach B, aus einem dritten gleichzeitig.

Es sieht also ganz so aus, als wäre zwar der Satz "Alles, was geschieht, geschieht in Raum und Zeit" kaum angreifbar, aber schon die nächste Folgerung müßte man abschwächen und sagen: nur alles, was in meinem gewohnten Erfahrungsbereich (Makrokosmos, niedrige relative Geschwindigkeit) existiert, existiert mit Sicherheit zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort.

Beste Grüße,

hel

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von eiweiss am 27. Jan. 2005, 00:44 Uhr

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hallo hel,

danke für deinen "vorstoß". ich wollte in die gleiche richtung argumentieren, habe mich als nicht-physiker aber nicht so recht getraut.

da ich nicht viel anderes schreiben wollte hat sich mein beitrag eigentlich erübrigt

nur soviel:

thomas, du schreibst:

" die räumliche anordnung der einzelnen figuren -ich weiß nicht, ob die bezeichnung objektiver raum angebracht ist- ist es, die es uns ermöglicht, von "räumlicher wahrnehmung" zu sprechen. es ist eine eigenschaft unserer uns umgebenden wirklichkeit, "räumlich organisiert" zu sein und keine bloß subjektive zutat, die aus einer apriorischen organisation unseres verstandes zu erklären wäre. im gegenteil: das, was wir "raum" nennen -wenn wir zum beispiel an einen dreidimensionalen vektor-raum denken- ist nichts anderes als eine -um bei den termini zu bleiben- aposteriori erfahrung, bzw. ableitung aus unserer wahrnehmung."

vielleicht meinst du etwas anderes, aber mich erinnert das stark an die annahme eines letztlich absoluten raumes (" äther" ). wurde diese annahme nicht durch die relativitätstheorie als unbrauchbar verworfen. ebenso wie die annahme einer absoluten zeit?

die quantenphysik (stichwort:doppelspalt,schrödinger`s katze) konfrontiert uns doch mit dem beobachterproblem. eine der verbreitesten interpretionen (kopenhagener deutung?) der experimente besagt, soweit ich weiß, dass objekte lediglich als wahrscheinlichkeitswellen vorhanden sind. erst im moment des beobachtens kollabiert diese wahrscheinlichkeitswelle zum "objekt". es gibt offenbar auch andere interpretationen die aber wiederum andere vorausetzungen machen müssen (höhere geschwindigkeit als licht, umkehr der zeitrichtung etc.).

auf jeden fall stoßen wir doch offensichtlich auf probleme wenn wir meinen die dinge sind so wie wir sie scheinbar wahrnehmen- also objektiv, absolut, an-sich.

wie hel schreibt, müssen wir den satz "Alles, was geschieht, geschieht in Raum und Zeit" immer weiter einschränken. vielleicht fällt er eines tages ganz.

mfg

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 27. Jan. 2005, 00:47 Uhr

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Hallo Eberhard!

 

Quote:Da ich aber z. B. unterschiedliche helle Stellen sehe, kann ich den Ort der einen (helleren) Stelle von dem Ort der anderen (dunkleren) Stelle unterscheiden und entnehme meiner Wahrnehmung eine räumliche Welt in der es ein "hier" und "dort", ein "vor" und "hinter", ein "über" und "unter", ein "links daneben" und "rechts daneben", in dem es also Orte, Richtungen (" von" und "nach" ), und Entfernungen (" dicht neben" und "weit von" ) gibt.

So einfach ist das.

Wie sich aus Deiner gewissermaßen phänomologischen Reflexion auf die Wahrnehmung ergibt, beziehen sich räumliche Angaben vor allem auf die RELATIONEN zwischen den Dingen. Kant reduziert übrigens ganz explizit den Raum auf diese Relationalität, die man sich bis ins Unendliche ausgedehnt vorstellen kann. Natürlich ist so eine Reduktion das Ergebnis einer äußerst fortgeschrittenen Reflexion, die sich von unseren unmittelbaren Wahrnehmungen weit entfernt hat. Wir nehmen immer nur Dinge in räumlichen Verhältnissen wahr, so etwas wie ein "reines Relationsgefüge" können wir nur denken.

Diese beiden Punkte: Das Abmagern der phänomenalen Räumlichkeit auf ein bloßes Relationsgefüge und dessen völlige Unanschaulichkeit lassen mich übrigens daran zweifeln, dass es sich beim Raum wirklich um eine rein "intuitive" Form - also eine Form der "Anschauung" - handelt. Relationen lassen sich nur diskursiv, also begrifflich erfassen. (Wenn ich, wie beim "Pfandabgeben", gezwungen wäre, Teilstücke der Kantschen Theorie preiszugeben, dann würde ich bei der "Transzendentalen Ästhetik" anfangen... :-) )

Aber worauf ich eigentlich hinauswollte, ist das Faktum, dass wir mit der Geometrie über Systeme der Raum-KONSTRUKTION verfügen, die wegen ihrer notwendigen Geltung nicht aus einzelnen Wahrnehmungen abgeleitet sein können. Und genau um diesen Punkt geht es doch, wenn wir über die Wahrheit (allgemeine Geltung) von Sätzen nachdenken: Wie ist es möglich, dass wir zu allgemeinen und notwendigen (empirischen) Aussagen kommen, obwohl doch unsere Wahrnehmungen grundsätzlich singulär und kontingent sind?

Mit der Reflexion allein darauf, was wir jeweils wahrnehmen, kommen wir dieser Frage nicht bei. Es kommt auf die Beziehungen an, die zwischen kontingenter Erfahrung und allgemeiner Geltung bestehen. Und gegenwärtig fragen wir uns, inwieweit Räumlichkeit und Zeitlichkeit zur allgemeinen Geltung von Aussagen beitragen.

Wenn Du immer wieder darauf hinweist, dass Zeit- und Ortsangaben eine wichtige Voraussetzung für die allgemeine Geltung von Aussagen sind, dann setzt Du selbst voraus, dass die Raumzeit ein allgemeines, vielleicht sogar universelles Relationsgefüge - quasi ein Koordinatensystem - sei. Woher stammt aber dieses Koordinatensystem in seiner Allgemeinheit? Ist es eine Verallgemeinerung einzelner räumlicher oder zeitlicher Phänomene? (d. h. ist es sozusagen die Abbildung von etwas Naturgegebenem?) Oder ist es Resultat einer Konstruktion, also Produkt einer menschlichen (Mess-)Technik, die - wie das bei Techniken so ist - auch nur menschlichen Zwecken dient?

Im Zusammenhang damit lässt sich auch fragen, ob die Raumzeit als universelles Koordinatensystem nicht etwas substantiell anderes sei als die konkrete lebensweltliche Raum- und Zeiterfahrung. (Von der Entwicklung des Raumbegriffs in der modernen Physik ganz zu schweigen. Denn "Riemannsche Räume" oder das Phänomen der durch Masse verursachten "Raumkrümmung" scheinen doch vollends in einer anderen Welt stattzufinden als der, die unseren Sinnen vorliegt.)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 27. Jan. 2005, 01:06 Uhr

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Hallo Eberhard,

mea culpa :-O

ich meinte tatsächlich Hermeneuticus, aber es ist zum Glück ja auch, bei ihm zumindest, so rübergekommen. Tschulligung.

 

on 01/26/05 um 09:27:30, Eberhard wrote:Ich hatte geschrieben:

" Dass die Welt räumlich und zeitlich geordnet ist, ergibt sich aus meinen Wahrnehmungen."

Wenn ich meine Augen öffne und ich würde nichts als ein gleichförmiges Grau sehen, dann könnte ich aus dieser Wahrnehmung keinerlei Räumlichkeit ableiten (obwohl ich zwei Augen habe, die zwei Bilder an mein Großhirn senden, so dass mir selbst ohne eigene Ortsveränderung ein räumliches Sehen möglich ist.)

Da ich aber z. B. unterschiedliche helle Stellen sehe, kann ich den Ort der einen (helleren) Stelle von dem Ort der anderen (dunkleren) Stelle unterscheiden und entnehme meiner Wahrnehmung eine räumliche Welt in der es ein "hier" und "dort", ein "vor" und "hinter", ein "über" und "unter", ein "links daneben" und "rechts daneben", in dem es also Orte, Richtungen (" von" und "nach" ), und Entfernungen (" dicht neben" und "weit von" ) gibt.

So einfach ist das.

Nicht ganz.

Ich frage mich, wie du von den diffusen hell-dunkel(" hellere/dunklere Stelle" ) bzw. farblichen Eindrücken zur "Wahrnehmung" von Räumlichkeit kommst. Das sind doch lediglich Hell-Dunkel- und Farbschattierungen, die per se zunächst überhaupt nichts Räumliches an sich haben. So beschrieb übrigens ein von Geburt an blinder Mann nach einer Hornhautverpflanzung, durch welche er wieder "sehen" konnte, seine anfänglichen visuellen Eindrücke als einen diffusen Ansturm von Licht und Farben - dh seine visuelle Wirklichkeit war keine räumlich strukturierte und er konnte (was wohl damit zusammenhing) auch keine Gegenstände identifizieren. All dies musste er erst allmählich mühsam lernend erwerben. Wichtig daran ist zunächst mal, dass der Raum bzw. Räumlichkeit (und ebenso Zeit) offensichtlich kein sinnlicher Eindruck ist, wie hell-dunkel- oder Farbeindrücke, taktile Empfindungen, akkustische Eindrücke usw. Fazit: Raum (Zeit) ist also nichts, was uns sinnlich gegeben wäre, wie die o.a. Eindrücke.

Nun könnte man natürlich sagen: Gut Raum/Zeit ist nichts, was uns in dieser Weise sinnlich gegeben wäre, aber wir bilden unseren "Sinn", unser "Gefühl" für Räumlich/Zeitliches doch allmählich in der Auseinandersetzung mit der primär gegebenen sinnlichen Wirklichkeit aus. Was dieses allmähliche Ausbildung des Raum-/Zeit-Sinnes betrifft, würde ich auch keinesfalls widersprechen, aber eben betonen, dass das solchermaßen ausgebildete - unsere Fähigkeit die Wirklichkeit räumlich-zeitlich zu strukturieren eben nichts war, was uns sinnlich vermittelt wurde (wie die diversen sinnlichen Eindrücke), sondern dass es offensichtlich eine Fähigkeit (ein Potential, eine Disposition, Vermögen) war, die ihren Ursprung in uns hatte, gewissermaßen als Keim in uns angelegt war, der anläßlich der Auseinandersetzung mit unsrer sinnlichen Wirklichkeit, also mit dem, was uns sinnlich vermittelt (gegeben) wurde - durch "Übung" - entwickelt bzw ausgebildet wurde. Die Fähigkeit zur räumlich-zeitlichen Strukturierung kommt also nicht aus dem sinnlich vermittelten Material, ist nichts was wir irgendwie sinnlich rezipieren würden, sondern hat seinen Ursprung im erkennenden Subjekt, wenn auch die Ausbildung dieser Fähigkeit zur vollen Fertigkeit der räumlich-zeitlichen Strukturierung (der "Interpretation" des vielfältigen und heterogenen sinnlichen Materials) der Auseinandersetzung und Übung an diesem sinnlichen Material bedarf.

Wie die Ausdifferenzierung dieser Fähigkeit zur räumlich-zeitlichen Strukturierung sich im einzelnen via Lernprozessen vollzieht, ist eine Frage der Entwicklungs- bzw kognitiven Psychologie.

Wichtig war hier ja nur die Frage nach der Herkunft, dem Ursprung der räumlich-zeitlichen Strukturierung unsrer Wirklichkeit - ob diese etwas ist, was uns über unsre Sinne vermittelt wird, oder ob die Fähigkeit dazu vom Subjekt in unser Erkennen der Wirklichkeit eingebracht wird, sie ihren Ursprung also letztlich im Subjekt hat.

Gruß

Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von eiweiss am 27. Jan. 2005, 02:00 Uhr

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im zusammenhang mit quantenphysik - beobachterproblem - subjekt-objekt einheit und weil verena die entwicklungspsychologie ansprach, hab ich meinen beitrag aus "wahrheit, die fünfte" rausgekramt:

...

der säugling erlebt die mutter nicht als von ihm getrennte persönlichkeit. für den außenstehenden erscheinen mutter und kind als soziales system, als zwei subjekte. für den säugling aber als EIN selbst, dass den mütterlichen anteil des systems noch nicht als getrenntes sein erlebt. für ihn ist es KEIN soziales system. nach der physischen+ psychischen trennung bleiben die mütterlichen anteile weiterhin anteile des kindlichen selbst.

auch die anwesenheit bzw abwesenheit der mutter gibt es nur für den außenstehenden beobachter. für den säugling sind es nur veränderungen in seiner symbiotischen umwelt (mutter-kind), von der er eben selbst noch ein teil ist.

...

zurück zum säugling:

für den besteht das dasein nur in der alternative zw selbst (ruhe,behaglichkeit,zufriedenheit) und nicht-selbst (un-ruhe, etc). der übergang von nicht-selbst zu selbst bereitet ihm lust.umgekehrt empfindet er unlust.

die entwicklungspsychologen lehren,dass dieses grundmuster jeder situation im späteren leben zugrunde liegt

...

für den säugling lösen sich objekte "in nichts" auf sobald sie die wahrnehmung verlassen. mit beginn des vorstellungvermögens (18.-20. monat) kommt es zum aufbau einer welt mit konstanten objekten und einem ich-bewußtsein.allerdings muss das kind jedesmal wenn die objekte auftauchen, diese vom subjekt trennen. Z.B imitiert das kind mit dem mund durch vorstrecken des kiefers eine streichholzschachtel. im gedächtnis werden also offenbar nicht abbilder einer objektiv vorgegebenen realität gespeichert, sondern programme zur erzeugung von bildern.

mit dem erlernen der sprache entsteht schließlich eine welt mit festen, durch namensgebung stabilisierten objekten.

...

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 27. Jan. 2005, 14:18 Uhr

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Hallo hel,

ich möchte dich nur darauf hinweisen welche Art von Konstruktionen zwischen unserer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung und dem besteht was uns die Relativitätstheorie und die Quantenphysik liefert. Dazwischen liegen a) die Mathematik, b) die Konstruktion hochkomplizierter Geräte die dem MESSEN von Zuständen dienen und zwar im Modus der Zustandsveränderungen (input/output) und c) das messen selber. Messgeräte, selbst so simple wie ein Fernrohr, "beinhalten" bereits eine Reflexion, die in ihnen quasi kristallisiert und zum Mechanismus geworden ist. Man könnte sagen ein Messgerät ist nicht bloß die Erweiterung unserer Sinne, sondern 'Rezeption + Denken'.

Wir müssen aber überhaupt nicht in den Mikrokosmos ausweichen um an der unhinterfragten Richtigkeit unserer unmittelbaren sinnlichen Erfahrung zu zweifeln. Wenn wir einen Blitz am nächtlichen Himmel sehen und Sekunden später die Schallwellen empfangen täuschen uns die Sinne zwei separate Ereignisse vor. Unser Wissen sagt uns erst das es ein und das selbe Ereignis in der Natur war.

Grüße

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 27. Jan. 2005, 14:58 Uhr

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Hallo miteinander!

Thomas' Hinweis auf die Psychologie der Gestaltwahrnehmung greife ich gern auf. Da sich in meinen Regalen (nicht ganz) zufällig der Klassiker des Gestaltpsychologen Rudolf Arnheim - Kunst und Sehen (Neufassung, Berlin/New York 1978) - findet, habe ich mal ein wenig darin gestöbert... Aber bevor ich darauf eingehe, noch einmal zu unserer Fragestellung.

Dass unsere Wahrnehmungen durchgängig räumlich und zeitlich strukturiert sind, ist Konsens. Fraglich ist der "Ursprung" dieser raum-zeitlichen Strukturierung. Handelt es sich a) um (subjektive) "Formen der Anschauung" oder empfangen b) unsere Wahrnehmungen ihre Räumlichkeit und Zeitlichkeit von der "objektiven" Beschaffenheit des Wahrgenommenen selbst?

 

Standpunkt a) betont die Eigenleistung des wahrnehmenden Subjekts, die "Konstruktivität" dieser Leistung, und zwar vor allem mit dem Argument, dass wir aus unseren grundsätzlich zufälligen Wahrnehmungen niemals Gesetzmäßigkeiten ableiten könnten, die allgemein gelten. Zwar gilt nach Kant unser Anschauen als etwas Rezeptives (" Empfangendes" ), allerdings kann das gleichbleibende Wie eines solchen Empfangens - also seine allgemeine Form oder Struktur - doch immer nur die Form UNSERES Anschauens sein. Insofern mögen die "objektiv gegebenen" Formen der Dinge sein wie sie wollen - wir können sie doch immer nur auf UNSERE Weise wahrnehmen. Und somit muss sich irgendwie herausfinden lassen, worin die Eigenheit unseres Wahrnehmens in ihrer strukturellen Allgemeinheit besteht.

Bei Thomas und Eberhard vermisse ich vor allem eine Differenzierung zwischen den einzelnen Wahrnehmungen (Plural!) mit ihren jeweils so und so gegebenen "Inhalten" einerseits und der "Wahrnehmung überhaupt" andererseits, die als "Form" ALLEN unseren einzelnen Wahrnehmungen gemeinsam sein muss, weil es immerhin stets UNSERE Wahrnehmungen sind (und nicht die von "Nasenwurzen" oder sonstigen wirklichen oder unwirklichen Lebewesen). Ohne diese systematische Unterscheidung lässt sich die Frage, wie wir zur (durchgängigen) Räumlichkeit und Zeitlichkeit unserer Wahrnehmungen kommen, gar nicht präzisieren. Eberhards Ansicht scheint mir geradezu in der Weigerung zu bestehen, diese Differenzierung überhaupt machen.

 

Standpunkt b) läuft im Grunde darauf hinaus, dass die räumliche und zeitliche Form unserer Wahrnehmungen bereits in deren "Inhalt" liegt. Zwar leugnet Thomas nicht, dass es allgemeine Strukturen, Formen oder Arten gibt, aber er hält deren Bestimmtheit für gegeben. d. h. unsere Sinne lesen mit dem Zufälligen jeweils auch diese Allgemeinheiten mit ab. Im Grunde ist, was wir wahrnehmen, nur eine Abbildung, Nachahmung oder Reproduktion der natürlichen Einteilungen, die es auch ohne unsere Wahrnehmung geben würde.

Eine der Fragen, die sich hierzu stellen, lautet: Wenn "Wesentliches" und "Zufälliges", wenn Arten und Exemplare immer miteinander "gegeben" sind und folglich beide den INHALT unserer Wahrnehmungen ausmachen - müssen wir dann nicht, wenn wir über das von uns Wahrgenommene sprechen, daran dennoch das Allgemeine vom Besonderen AUF UNSERE WEISE unterscheiden? Wäre mit einer solchen Verankerung des "Wesentlichen" in der "Wirklichkeit selbst" überhaupt die Gefahr des Irrtums und des Relativismus behoben? Oder würde sich das Wahrheitsproblem nicht einfach nur um eine Ebene verschieben - nämlich dorthin, wo wir - zum Zwecke der begrifflichen Erfassung - Wesentliches und Unwesentliches AN UNSEREN WAHRNEHMUNGSINHALTEN unterscheiden müssten? (Mir scheint, dass Dyade mit ihrem Einwurf - Nr.22 - etwas Ähnliches meinte.)

 

So, das muss im Moment leider genügen. Die Fortsetzung mit Arnheim folgt, ich weiß nur noch nicht, wann.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von eiweiss am 27. Jan. 2005, 15:34 Uhr

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hallo dyade,

du schreibst:

" Dazwischen liegen a) die Mathematik, b) die Konstruktion hochkomplizierter Geräte die dem MESSEN von Zuständen dienen und zwar im Modus der Zustandsveränderungen (input/output) und c) das messen selber"

wenn ich schrödinger richtig verstanden habe, dann liegt zwischen dir und seiner katze weder mathematik noch ein meßvorgang. da bist nur du als beobachter und die katze als wahrscheinlichkeitswelle. und sobald du nachschaust kollabiert sie zur katze. unmittelbar sinnlich.

mfg

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 27. Jan. 2005, 15:53 Uhr

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So ihr Lieben,

damit uns die Sinne nicht ganz abhanden kommen... zuviel online, zuviel was beim nächsten Servercrash auf nimmer Wiedersehen einfach so de-informiert wird... hier Bilder die Druckfassung von Wahrheit 1-5 [bookworm]

http://www.20six.de/pub/Duns_Scotus1/Wahrheit-1-5_3.jpghttp://www.20six.de/pub/Duns_Scotus1/Wahrheit-1-5_2.jpghttp://www.20six.de/pub/Duns_Scotus1/Wahrheit-1-5.jpg

396 einfach bedruckte Seiten

Grüße

Dyade

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von MDCremer am 27. Jan. 2005, 16:48 Uhr

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Hallo!

Ich bin gerade erst auf diesen Thread gestoßen und dabei mutig an sein Ende gesprungen (da ich zu faul bin, die anscheinend mehreren hundert Seiten zu lesen, die diese Diskussion schon lang ist). Insofern laufe ich Gefahr, etwas bereits längst Gesagtes noch einmal zu wiederholen. Wenn dem so ist, so bitte ich dies zu entschuldigen.

Bei meiner Auseinandersetzung mit dem Thema, was Wahrheit ist, bin ich auf folgende Definiton von Isaak ben Salomon Israeli gestoßen: "Veritas est adaequatio rei et intellectus."

In eine ganz andere Richtung tendiert z. B. Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob: "Diese Vorstellungswelt ist ja, wie wir annahmen und fanden, subjektiv ihren Formen nach; real ist nur das beobachtete Unabänderliche; also ist die ganze Fassung, welche wir dem Wahrgenommenen geben, nur subjektiv; subjektives ist fiktiv; fiktives ist falsch; falsches ist Irrtum. Das Bestreben der Wissenschaft geht darauf aus, wie wir sahen, die Vorstellungswelt zu einem immer brauchbareren Instrument der Berechnung und des Handelns zu machen; also ist diese Vorstellungswelt, welche aus diesem Bestreben resultiert, und welche man gewöhnlich Wahrheit nennt, nur der zweckmässigste Irrtum, d. h. diejenige Vorstellungsweise, welche am raschesten, elegantesten, sichersten und am wenigsten mit irrationalen Elementen besetzt, Handeln und Berechnen am meisten ermöglicht. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Irrtum sind also ebenso verschiebbar, wie alle solche Grenzen, z. B. zwischen Kalt und Warm. Kalt ist ein solcher Grad der Temperatur, der für uns unzweckmässig ist, warm ist der zweckmässigste Temperaturgrad; zwischen beiden ist objektiv aber nur Gradunterschied; und subjektiv

sind die Unterschiede ja nach Disposition und je nach dem

Gegenstand, um den es sich handelt, verschiebbar. So ist Wahrheit eben auch nur der zweckmässigste Grad des Irrtums, und Irrtum der unzweckmässigste Grad der Vorstellung, der Fiktion. Unsere Vorstellungswelt heissen wir dann wahr, wenn sie uns erlaubt, am besten die Objektivität zu berechnen und in ihr zu handeln; denn die sogenannte Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist doch endlich als Kriterium aufzugeben. Somit haben wir damit eine weitere Streitfrage der Logik und Erkenntnistheorie tangiert, welche enge mit unserem Thema zusammenhängt. Zwischen "wahr" und "falsch" sind keine so schroffen Grenzen, wie man gewöhnlich anzunehmen beliebt. Irrtum und Wahrheit fallen unter den gemeinsamen Oberbegriff des Mittels zur Berechnung der Aussenwelt; das unzweckmässige Mittel ist der Irrtum, das zweckmässige heisst man Wahrheit. Das mit Notwendigkeit Gedachte ist noch nicht wirklich: denn jede Notwendigkeit ist nur ein Gebot der Zweckmässigkeit."

Diese Richtung wird heute vom Konstruktivismus vertreten.

Was aber die Quantentheorie und den Zusammenbruch der Wahrscheinlichkeitswelle angeht, so verweise ich auf Johann von Neumann: "Zunächst ist es an und für sich durchaus richtig, dass das Messen bzw. der damit verknüpfte Vorgang der subjektiven Apperzeption eine gegenüber der physikalischen Umwelt neue, auf diese nicht zurückzuführbare Wesenheit ist. Denn sie führt aus dieser hinaus, oder richtiger: sie führt hinein, in das unkontrollierbare, weil von jedem Kontrollversuch schon vorausgesetzte, gedankliche Innenleben des Individuums (vgl. das w. u. zu Sagende). Trotzdem ist es aber eine für die naturwissenschaftliche Weltanschauung fundamentale Forderung, das sog. Prinzip vom psychophysikalischen Parallelismus, dass es möglich sein muss, den in Wahrheit außerphysikalischen Vorgang der subjektiven Apperzeption so zu beschreiben, als ob er in der

physikalischen Welt stattfände - d. h. ihren Teilen physikalische Vorgänge in der objektiven Umwelt, im gewöhnlichen Raume zuzuordnen. (Natürlich ergibt sich bei diesem Zuordnungsprozeß immer wieder die Notwendigkeit, diese Prozesse in solche Punkte zu lokalisieren, die im von unserem Körper eingenommenen Raumteile liegen. Dies ändert aber nichts an ihrer Zugehörigkeit zur Umwelt.) Auf ein einfaches Beispiel wäre diese Auffassung etwa so anzuwenden: Es werde eine Temperatur gemessen. Wenn wir wollen, können wir diesen Vorgang rechnerisch so weit verfolgen, bis wir die Temperatur der Umgebung des Quecksilberbehälters des Thermometers haben, und dann sagen: diese Temperatur wird vom Thermometer gemessen. Wir können aber die Rechnung weiterführen, und aus den molekularkinetisch erklärbaren Eigenschaften des Quecksilbers seine Erwärmung, Ausdehnung und die resultierende Länge des Quecksilberfadens errechnen, und dann sagen: diese Länge wird vom Beobachter gesehen. Noch weitergehend können wir, seine Lichtquelle in Betracht ziehend, die Reflexion der Lichtquanten am undurchsichtigen Quecksilberfaden, und den Weg der übrigen Lichtquanten in sein Auge ermitteln, sodann deren Brechung in der Linse und das Entstehen eines Bildes auf der Retina, und erst dann würden wir sagen: dieses Bild wird von der Retina des Beobachters registriert. Und wären unsere physiologischen Kenntnisse genauer als sie es heute sind, so könnten wir noch weiter gehen, die chemischen Reaktionen verfolgend, die dieses Bild an der Retina, in der Nervenbahn und im Gehirn verursacht, und erst am Ende sagen: diese chemischen Veränderungen seiner Gehirnzellen apperzipiert der Beobachter. Aber einerlei, wie weit wir rechnen: bis ans

Quecksilbergefäß, bis an die Skala des Thermometers, bis an die Retina, oder bis ins Gehirn, einmal müssen wir sagen: und dies wird vom Beobachter wahrgenommen. D. h. wir müssen die Welt immer in zwei Teile teilen, der eine ist das beobachtete System, der andere der Beobachter. In der ersteren können wir alle physikalischen Prozesse (prinzipiell wenigstens) beliebig genau verfolgen, in der letzteren ist dies sinnlos. Die Grenze zwischen beiden ist weitgehend willkürlich, so sahen wir im obigen Beispiel 4 verschiedene Möglichkeiten für sie, insbesondere braucht der Beobachter in diesem Sinne keineswegs mit dem Körper des wirklichen Beobachters identifiziert zu werden - rechneten wir doch im obigen

Beispiel einmal sogar das Thermometer dazu, während das andere Mal seine Augen und die Nervenbahnen nicht dazugerechnet wurden. dass diese Grenze beliebig tief ins Innere des Körpers des wirklichen Beobachters verschoben werden kann, ist der Inhalt des Prinzips vom psychophysikalischen Parallelismus - dies ändert aber nichts

daran, dass sie bei jeder Beschreibungsweise irgendwo gezogen werden muss, wenn dieselbe nicht leer laufen, d. h. wenn ein Vergleich mit der Erfahrung möglich sein soll. Denn die Erfahrung macht nur Aussagen von diesem Typus: ein Beobachter hat eine bestimmte (subjektive) Wahrnehmung gemacht, und nie eine solche: eine physikalische Größe hat einen bestimmten Wert."

Ich finde es hochinteressant, wie von Neumann beschreibt, dass ein außerphysikalisches Bewußtsein vorhanden sein muss, um den Zusammenbruch der Wahrscheinlichkeitswelle zu erklären. Wohlgemerkt gilt dies aber nur für die sogenannte "Kopenhagener Deutung" der Quantentheorie.

So, hoffentlich konnte ich Euch damit ein paar Anregungen zum Nachdenken geben.

Gruß

MDCremer

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 27. Jan. 2005, 17:16 Uhr

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hallo liebe mitdenkenden,

ich bin ja bass erstaunt, dass sich -anscheinend- wirklichjemand die mühe macht, diese reihe von threads und folgethreads auszudrucken. cui bono?

wem zum nutzen wird das ausgedruckt? *g* interessiert mich aber wirklich!

naja back 2 topic ..

wie hermeneuticus richtig gesagt hat, bin ich unter den vertretern der kategorie (b) zu finden. und das unter einer metaphysischen prämisse: ich habe diese prämisse analog zu gamadamers "hermeneutischen zirkel" verstanden. wir befinden uns als menschen in einer welt, in welcher wir nicht fremd -quasi wie außerirdische gelandet- sind, sondern wir sind ein teil dieser welt. und als teil dieser welt auch teil der -evolutionären- geschichte der welt. wir besitzen einen körper der uns vorgängig ist, i.e. der vielfach unabhängig von unserem wollen und wünschen agiert. wir empfinden hunger, durst, sexualität etc. weil unser körper danach verlangt. ebenso besitzen wir die audio-visuellen, olfaktorischen, haptischen etc. fähigkeiten, die es uns ermöglichen in einer "welt" zu leben. aber nicht nur unser körper ist uns vorgängig, sondern mit ihm auch die welt, in welcher wir leben. wir sehen bäume, sträucher, stühle, autos etc. alles dinge, die wir nicht selbst hervorgebracht haben - weder deren farbe, noch deren form.

läßt man sich auf diesen "zirkel" ein, nimmt es nicht viel wunder, dass wir die gegenstände so wahrnehmen wie sie sind. unsere menschlichen sinne sind darauf ausgelegt, die dinge so und so zu sehen. was natürlich nicht bedeutet, dass die gegenstände keine eigenschaften besäßen, die uns verborgen blieben -wir können z.b keine wäremstrahlung mit unseren augen wahrnehmen. aber das was wir sehen ist objektiv, insoweit objektiv bedeutet, zum objekt gehörend und nicht bloß subjektiv, also ausschließlich vom wahrnehmenden konstruiert. wer solches vertritt muss erklären, inwieweit das wahrnehmende subjekt dazu in der lage ist, zu konstruieren, bzw. weshalb diese konstruktion alles andere als zufällig ist; denn eine vielzahl von menschen sehen zum beispiel, wenn sie in einem theater sitzen schauspieler und keine leere bühne.

in meinen erklärungsversuchen bin ich bemüht, stets deflationär vorzugehen, i.e. mit möglichst wenig grundlagen ein phänomen zu erklären. wenn zur erklärung der visuellen erfahrung des raumes es ausreichend ist, auf die geone, textone etc. eines raumes, auf "gestalt" zu sprechen zu kommen, so ist diese erklärung für mich plausibler als die annahme irgendwelcher verstandesvermögen. ich orientiere mich weitestgehend an der empirik, der uns gegebenen phänomene, und versuche die probleme die sich z. B. aus den verstandesvermögen (woher kommen sie? haben nur menschen einen verstand? etc.) zu umgehen.

was die problematik des "irrtums" also z. B. der "optischen täuschung" angeht, so wäre es ein fatales misssverständnis meine position derart auszulegen, dass wahrnehmung gleichzusetzen ist mit einer 1:1 abbildung der "wirklichkeit". so einfach mache ich es mir nicht - zudem mir eine solche position unhaltbar erscheint.

ich möchte es einmal so formulieren:

wenn zwei physiologisch gleich ausgestattete menschen (z. B. keiner der beiden ist farbenblind) ein auto betrachten, so sehen beide das gleiche - wohlgemerkt unter dem physiologischen gesichtspunkt. dass der eine allerdings ein "auto" vielleicht sogar einen "opel corsa" sieht und der andere nur eine "kutsche ohne pferde" liegt nicht an der physiologischen verarbeitung, sondern an der unterschiedlichen kognitiven verarbeitung.

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 27. Jan. 2005, 17:54 Uhr

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Hallo Dyade,

beeindruckend!

Ein Tipp wie du das allen zugänglich machen kannst (vielleicht weißt du das aber auch bereits):

Als PDF-Dokument abspeichern und irgendwo ins Internet stellen, damit es die anderen auch (für eine evtl. offline-Lektüre) abrufen können. Falls du Fragen hierzu hast, wende dich einfach an mich. Ich kann es auch als abrufbares Dokument für dich ins Internet stellen.

Gruß, Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 27. Jan. 2005, 19:20 Uhr

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Hallo jacopo_belbo (woher stammt eigentlich dein nick?),

 

on 01/27/05 um 17:16:23, jacopo_belbo wrote:...in meinen erklärungsversuchen bin ich bemüht, stets deflationär vorzugehen, i.e. mit möglichst wenig grundlagen ein phänomen zu erklären. wenn zur erklärung der visuellen erfahrung des raumes es ausreichend ist, auf die geone, textone etc. eines raumes, auf "gestalt" zu sprechen zu kommen, so ist diese erklärung für mich plausibler als die annahme irgendwelcher verstandesvermögen. ich orientiere mich weitestgehend an der empirik, der uns gegebenen phänomene, und versuche die probleme die sich z. B. aus den verstandesvermögen (woher kommen sie? haben nur menschen einen verstand? etc.) zu umgehen.

1. Nur ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Hinweis:

Informiere dich doch mal über die Ursprünge der Gestaltpsychologie und du wirst finden, dass Kant bzw. der Kantsche Gestalt- und Figur-Begriff eine wesentliche Inspirationsquelle für die Gestaltpsychologie war.

2. scheinst du "Vermögen" bei Kant viel zu statisch zu verstehen. "Vermögen" ist eher im Sinne von "ich vermag etwas zu tun" = "ich kann etwas tun" zu verstehen, also Vermögen = ein Können, ein Fähigkeit, ein Potential usw. .

Terminologisches Beispiel für diese Art der Verwendung des Begriffs "Vermögen" bei Kant:

" Es sind aber drei ursprüngliche Quellen, (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele), die die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüths abgeleitet werden können, nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperception..." A:94-95.

Für Kant sind die Fähigkeiten anzuschauen (Anschauung) und zu verstehen (Verstand) die beiden grundlegenden Fähigkeiten, um Erkennen zu ermöglichen.

 

Quote:was die problematik des "irrtums" also z. B. der "optischen täuschung" angeht, so wäre es ein fatales misssverständnis meine position derart auszulegen, dass wahrnehmung gleichzusetzen ist mit einer 1:1 abbildung der "wirklichkeit". so einfach mache ich es mir nicht - zudem mir eine solche position unhaltbar erscheint.

Um es ganz klar zu sagen:

Es geht nicht um die mehr oder weniger subjektive getönte Art, in welcher wir irgendwelche Entitäten (Dinge, Bewegungsabläufe, Prozesse usw.) auffassen und um den Streit des Grades der subjektiven Tönung, sondern darum, dass uns unsere Sinne überhaupt keine Entitäten vermitteln, sondern lediglich äußerst fragmentarische visuelle, akkustische, taktile usw. Empfindungen, Eindrücke. Auf der Basis dieser (auf den englischen Emprismus/Sensualismus zurückgehenden) Auffassung von sinnlicher Rezeption konzipiert Kant den Verstand als das synthetisierende, Entitäten konstituierende Vermögen, dessen Sinn und Funktion einzig und allein darin besteht, die defizitäre Verfassung unsrer Sinnlichkeit (defizitär hinsichtlich der Vermittlung von nichtsubjektiver Wirklichkeit) zu kompensieren und das, was uns unsere Sinnlichkeit nicht gibt, gewissermaßen "hochrechnend" zu ergänzen - zum Ganzen (Entität) des Gegenstands, des Bewegungsablaufes, eines Prozesses usw.

Quote: ich möchte es einmal so formulieren:

wenn zwei physiologisch gleich ausgestattete menschen (z. B. keiner der beiden ist farbenblind) ein auto betrachten, so sehen beide das gleiche - wohlgemerkt unter dem physiologischen gesichtspunkt. dass der eine allerdings ein "auto" vielleicht sogar einen "opel corsa" sieht und der andere nur eine "kutsche ohne pferde" liegt nicht an der physiologischen verarbeitung, sondern an der unterschiedlichen kognitiven verarbeitung.

Nein, du irrst:

Hinsichtlich dessen, was die Sinnlichkeit beiden Betrachter liefert, so haben beide nie die gleichen, sondern ganz unterschiedliche subjektiv-private Eindrücke, die zudem auch individuell ständig wechseln, je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird. Warum "sehen" beide nun trotz ihrer vollkommen unterschiedlicher Sinneseindrücke trotzdem das Gleiche (den gleichen Gegenstand, Bewegungsablauf usw.)und können sich darüber verständigen? Weil ihr Verstand in gleicher Weise die disparaten und fragementarischen sinnlichen Eindrücke zur (etwa) gleichen vorgestellten Entität "horchrechnet" (ergänzt) und solchermaßen die Basis für einen kommunikativen Konsens geschaffen ist. (Thema Intersubjektivität/Objektivität)

Nun ein kleiner Appell:

Glaub mir, dass ich lange genug selbst (wie jeder Mensch) eine ähnlich realistische Auffassung vom Wahrnehmen, Sehen gepflegt habe wie du und diese problemlos nachvollziehen kann. Langes Nachdenken (nicht zuletzt in Zushg. mit Kant) hat mich allerdings allmählich eines Besseren belehrt und ich könnte hier noch jede Menge anschaulicher Beispiele als phänomenale Argumente für den konstruktiven Grundzug unsres Sehens bzw. Wahrnehmens liefern, wenn Interesse daran besteht. Wenn aber die Basis unsres Erkennens (Wahrnehmung) nicht richtig begriffen wird, dann ist sicher auch die Konzeption der darauf aufbauender Akte des Erkennens (Urteilen/Aussagen/Schließen usw) davon betroffen.

Gruß

Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 27. Jan. 2005, 20:51 Uhr

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Hallo Zusammen,

ich will die Diskussion nicht unnötigt unterbrechen und erst recht will ich nicht, dass sie sich unbedingt selbst reflektiert angesichts der Produktion von Texten. Deshalb nur kurz...

" ich bin ja bass erstaunt, dass sich -anscheinend- wirklichjemand die mühe macht, diese reihe von threads und folgethreads auszudrucken. cui bono? wem zum nutzen wird das ausgedruckt? *g* interessiert mich aber wirklich!" (thomas j.)

Thomas, ich habe das aussgedruckt OHNE auch nur einen Gedanken an die Qualitäten der Inhalte der einzelnen Beiträge zu verschwenden. Ich halte allerdings die Dauer der Diskussion ohne das jamand ausrastet schon für eine Qualität an sich.

Darüber hinaus ist der Ausdruck eher etwas das aus meiner persönlichen Situation heraus begründet ist. Ich befinde mich des öfteren in einer intensiven Diskussion mit einem älteren Freund und Philosophen der ziemlich zurückgezogen lebt und berichte ihm manchmal über den ein oder anderen Diskurs den wir hier führen. Dabei sehe ich im Gesicht meines Freundes immer wieder ein mühsam unterdrücktes Nase-rümpfen. :-)

Internet?.... Onlinediskussion?.... vielleicht sogar einer der "Jacopo Belbo" heißt wie einer der Helden bei Umberto Eco?... oder einer nennt sich "eiweiß" ?... ist das seriös? Das sind all die Fragen die ich hinter dem mühsam zurück gehaltenen Nase-rümpfen erblicke. :-) Naja, er ist über 80 und da kann ich ihm das nicht verdenken. Auf der anderen Seite ist mein Philosophenfreund aber einer der im Gespräch mit anderen eine unendliche Geduld aufbringt und selbst die in meinen Augen naivsten Fragen und Standpunkte (incl. meiner) ehrerbietigst durchdenkt und aufnimmt und beantwortet. Und er liebt natürlich Bücher. Nun werde ich ihm den Ausdruck vor die Nase legen und ihm dies zum blättern und schmökern geben und werde gespannt sein was er wohl sagt.

@ Verena, gute Idee, werde die pdfŽs Morgen erstellen. Dann mehr...

Gruß

Dyade

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 28. Jan. 2005, 00:55 Uhr

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Tag eiweiss,

also ich habe Schrödingers Katze noch nie gesehen. Ich kenne zwar die "Geschichte" die von Schrödinger konstruiert ist, sprich den theoretischen experimentellen Aufbau usw. aber seine Katze habe ich noch nie gesehen. Ich wage zu behaupten, es wird sie auch nie jemand sehen. Auf einem Kettenkarusell erlebe ich auch nur das ich zunehmend mit der Geschwindigkeit "schwerer" werde, nicht aber den gekrümmten Raum. :-)

Grüße

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von eiweiss am 28. Jan. 2005, 01:42 Uhr

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hallo dyade,

schrödingers katze vielleicht nicht, aber dafür die schwarze die mir gestern übern weg lief. :-)

und dein kettenkarussell natürlich.

und heut nacht wenn ich (bald) im bettchen liege und ich mich nicht beobachte, dann ist mein ich auch nur ne wahrscheinlichkeitswelle.

vielleicht sind deswegen meine träume so "unwahrscheinlich".

werds gleich mal testen.

gt nacht

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 28. Jan. 2005, 08:38 Uhr

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Hallo Verena,

Du schreibst: "Ich frage mich, wie du von den diffusen hell-dunkel (" hellere/dunklere Stelle" ) bzw. farblichen Eindrücken zur "Wahrnehmung" von Räumlichkeit kommst. Das sind doch lediglich Hell-Dunkel- und Farbschattierungen, die per se zunächst überhaupt nichts Räumliches an sich haben."

Das Räumliche, das sich aus dem optischen Eindruck einer hellen und einer dunklen Stelle ergibt, ist das NEBENEINANDER von Unterschiedlichem. Wenn Helles und Dunkles nicht NEBENEINANDER, also an verschiedenen Orten liegen würden, könnte ich sie nicht unterscheiden.

Du schreibst weiter: "Die Fähigkeit zur räumlich-zeitlichen Strukturierung kommt … nicht aus dem sinnlich vermittelten Material, ist nichts was wir irgendwie sinnlich rezipieren würden, sondern hat seinen Ursprung im erkennenden Subjekt."

Dies ist sicherlich richtig. Die entscheidende Frage ist aber:

Wird die raumzeitliche Strukturierung der Welt erst durch unsere menschlichen Fähigkeiten ERZEUGT,

oder ist es sinnvoll ist zu sagen, dass es die raumzeitliche Strukturierung der Welt unabhängig von einem erkennenden Subjekt gibt?

Um konkret zu werden:

Wissenschaftlichen Untersuchungen gemäß gibt es uns Menschen seit 1-2 Millionen Jahren. Die Erde gibt es jedoch bereits seit ca. fünf 5 Milliarden Jahren.

Ist es also sinnvoll zu sagen:

Schon bevor es Menschen gab, umkreiste die Erde die Sonne? Dies ist ja ein raumzeitliches Geschehen.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 08:55 Uhr

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Guten Morgen Verena!

 

Quote:Nur ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Hinweis:

Informiere dich doch mal über die Ursprünge der Gestaltpsychologie und du wirst finden, dass Kant bzw. der Kantsche Gestalt- und Figur-Begriff eine wesentliche Inspirationsquelle für die Gestaltpsychologie war.

Pfui!

[nono]

Nun hat Du mir die Poängte des geplanten Arnheim-Referats vermasselt!

*schmoll*

 

 

Aber ansonsten hab ich Deinen Beitrag letzte Nacht mit Behagen gelesen - leaned-back, die Hände über dem Bauch gefaltet, grinsend. Ich konnte also getrost zu Bette gehen.

:-)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 09:01 Uhr

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Guten Morgen, Eberhard!

 

Quote:Ist es also sinnvoll zu sagen:

Schon bevor es Menschen gab, umkreiste die Erde die Sonne? Dies ist ja ein raumzeitliches Geschehen.

Das ist absolut sinnvoll! Und sogar ein wahrer Satz.

Allerdings geht es uns hier doch gerade um die Klärung, wieso wir imstande sind, solche sinnvollen und intersubjektiv gültigen Sätze sagen zu KÖNNEN. Was ERMÖGLICHT solche wahren Sätze über raumzeitliche Sachverhalte?

Anders gesagt: In diesem Satz sind Raum und Zeit - als intersubjektiv geteilte - Wahrheitsbedingungen schon beansprucht...

Gruß

H.

 

 

 

 

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 09:10 Uhr

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Guten Morgen, Thomas!

 

Quote:läßt man sich auf diesen "zirkel" ein, nimmt es nicht viel wunder, dass wir die gegenstände so wahrnehmen wie sie sind.

Dein Zirkel unterscheidet sich von einem hermeneutischen Zirkel dadurch, dass er nicht bei uns und unserem "Vorverständnis" beginnt, sondern in einem Zustand der Wirklichkeit, in dem es uns noch gar nicht gab.

Frage: Woher wissen WIR von der Wirklichkeit, wie sie war, bevor es uns gab? Wie kommt UNSER Wissen, wie kommen gültige Aussagen über die von uns unabhängige Wirklichkeit zustande? Immerhin ist unser Dasein eine unhintergehbare Bedingung für das Ausprechen solcher Sätze. Und um die Wahrheit UNSERER Sätze geht es uns in dieser Diskussion.

Hier liegt also der bekannte (und leider vitiöse) Zirkel der evolutionsbiologischen Erkenntnistheorie vor, die einen Wahrheitsbegriff bereits beansprucht, den sie selbst aber - im Rahmen ihrer objektsprachlichen Aussagen - nicht erläutern kann. Wir hatten dieses Problem schon mit doc_rudi und gershwin...

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 09:14 Uhr

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Noch zehn Beiträge, dann bin ich auch V.I.P.

[grin]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 09:15 Uhr

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Nee, nur noch neun...

[grin]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 28. Jan. 2005, 11:16 Uhr

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ab Heute gibts neue Regeln für V.I.P.Žs. Die schon solche sind stiimmen ab ob neue dazukommen.[grin]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 28. Jan. 2005, 13:16 Uhr

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hallo verena,

freut mich einen so detaillierten einwand zu meiner position gelesen zu haben.

zu meiner "vita" kann ich sagen, dass ich den umgekehrten weg genommen habe, und quasi zum "realismus" konvertiert bin. es ist in meinen augen die plausiblere position, und läßt sich auch besser begründen.

wie ich schon in einem meiner vorigen beiträge zugegeben habe, gehört kant nicht zu meinen steckenpferden. insoweit bitte ich um milde nachsicht, wenn ich dir das wasser nicht reichen kann. bei mir hatte sich irgendwo festgesetzt, dass der verstand ein bloßes regelverzeichnis sei, das erst in zusammenarbeit mit der vernunft als dem vermögen zu schließen zu einem erkenntnis führt. und beide zusammen bilden das obere erkenntnisvermögen.

nichtsdestoweniger möchte ich gern abstand von einer kant-exegese nehmen, weil sie mir als wenig sinnig im zusammenhang mit diesem thread erscheint.

 

Quote:Hinsichtlich dessen, was die Sinnlichkeit beiden Betrachter liefert, so haben beide nie die gleichen, sondern ganz unterschiedliche subjektiv-private Eindrücke, die zudem auch individuell ständig wechseln, je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird.

wie kommst du zu dieser einschätzung, diese eindrücke seien privat? was heißt in diesem sinne privat? woher stammt dein wissen, dass diese eindrücke tatsächlich privater natur sind?

 

Quote:Weil ihr Verstand in gleicher Weise die disparaten und fragementarischen sinnlichen Eindrücke zur (etwa) gleichen vorgestellten Entität "horchrechnet" (ergänzt) und solchermaßen die Basis für einen kommunikativen Konsens geschaffen ist. (Thema Intersubjektivität/Objektivität)

auch diese behauptung bedarf einer begründung: wie kommst du darauf, dem verstand ein solches vermögen zuzuschreiben?

ist es nicht plausibler, dass beide den objektiv-gleichen gegenstand beobachten; lediglich die perspektive ist unterschiedlich - als anzunehmen, der gegenstand sei in gewisser weise diffus, würde aber durch den verstand quasi äquivalent geformt?

 

Quote:Glaub mir

 

Quote:Langes Nachdenken (nicht zuletzt in Zushg. mit Kant) hat mich allerdings allmählich eines Besseren belehrt

das wirkt in dem zusammenhang wenig überzeugend.

 

Quote:und ich könnte hier noch jede Menge anschaulicher Beispiele als phänomenale Argumente für den konstruktiven Grundzug unsres Sehens bzw. Wahrnehmens liefern, wenn Interesse daran besteht.

tu dir keinen zwang an.

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 28. Jan. 2005, 13:42 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

Du schreibst:

" Bei Thomas und Eberhard vermisse ich vor allem eine Differenzierung zwischen den einzelnen Wahrnehmungen (Plural!) mit ihren jeweils so und so gegebenen "Inhalten" einerseits und der "Wahrnehmung überhaupt" andererseits, die als "Form" ALLEN unseren einzelnen Wahrnehmungen gemeinsam sein muss, weil es immerhin stets UNSERE Wahrnehmungen sind. … Ohne diese systematische Unterscheidung lässt sich die Frage, wie wir zur (durchgängigen) Räumlichkeit und Zeitlichkeit unserer Wahrnehmungen kommen, gar nicht präzisieren. Eberhards Ansicht scheint mir geradezu in der Weigerung zu bestehen, diese Differenzierung überhaupt machen."

Ich unterscheide zwischen zwei Bedeutungen des Wortes "Wahrnehmung" :

1. "Wahrnehmung (1)" = die Fähigkeit, "Wahrnehmungen (2) zu machen, und

2. "Wahrnehmung (2)" = die Aufnahme und Verarbeitung bestimmter Reize.

Du sprichst zusätzlich von der "Wahrnehmung überhaupt", der "Form", die allen unseren einzelnen Wahrnehmungen gemeinsam sein muss".

Allen Wahrnehmungen (2) ist gemeinsam, dass sie Sensoren für den Empfang der Reize voraussetzen. (Da uns diese für radioaktive Strahlen fehlen, können wir sie nicht wahrnehmen.)

Außerdem muss es Verbindungen geben, die die aufgenommenen Reize zur Verarbeitung weiterleiten. (Wenn der Geschmacksnerv bei einer Operation aus Versehen durchgetrennt wird, können wir nicht mehr Süßes oder Salziges wahrnehmen.)

Schließlich muss es noch Einrichtungen mit den dazugehörigen Programmen für die Verarbeitung der eingehenden Reize geben. (Wer als Hirntoter im Koma liegt, kann nichts mehr wahrnehmen.)

Diese allgemeinen Aussagen zur Wahrnehmung sind sicher nicht das, was Du suchst, ebenso wenig wie die allgemeinen Aussagen, die die Psychologen über die Wahrnehmung machen. Ich kann bisher nicht einsehen, dass ich mich "weigere" irgendein einsichtiges Argument zu akzeptieren.

Als Beleg für die aller Wahrnehmung zugrunde liegende räumliche Struktur, die wir nicht aus der Erfahrung gewinnen, führst Du mit Kant die euklidische Geometrie an:

" Kant behauptet, dass wir z. B. die Gegenstände der Geometrie nicht rein begrifflich erfassen oder konzipieren können. Eine Linie, ein Dreieck, ein rechter Winkel... von diesen Dingen hätten wir keine Vorstellungen ohne Anschauung. Diese allgemeine Form unseres Anschauens ist nach Kant auch die Voraussetzung dafür, dass wir z. B. geometrische Gesetze formulieren können, die streng allgemein und notwenig sind – und zwar auch in ihrer Anwendung auf die Empirie: JEDES einzelne Dreieck, das wir konstruieren (und dann anschauen) können, hat die Winkelsumme von 180 Grad."

Meiner Meinung nach handelt es sich bei den Gegenständen der Geometrie, wie z. B. einem ebenen Dreieck, um gedankliche Konstruktionen. Die mengentheoretische Formulierung der Geometrie benutzt als einen Grundbegriff den "Punkt". Dieser ausdehnungslose geometrische Ort kommt in der Wirklichkeit nicht vor. Entsprechendes gilt für die "Gerade".

Dies sind theoretische Modellkonstruktionen, die jedoch u. U. empirisch interpretiert werden können. Sofern dies möglich ist, gelten dann alle "Gesetze" der Geometrie auch für diesen Bereich der Wirklichkeit, und das ist eine geniale Erfindung.

Aber es gibt auch eine nicht-euklidische z. B. sphärische Geometrie, bei der z. B. die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten KEINE Gerade ist. Hier handelt es sich um eine andere Modellkonstruktion, die in vielen Gebieten der euklidischen Geometrie hinsichtlich der empirischen Interpretierbarkeit überlegen ist.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 28. Jan. 2005, 16:20 Uhr

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noch ein kleiner nachsatz zur "anschaulichkeit der geometrie" :

wir dürfen nicht die mathematische entwicklung der sog. analytischen geometrie seit descartes vergessen, die meines erachtens wenig anschaulich ist:

wer vermutet hinter aX²+bY²=R² einen kreis?

entsprechendes gilt für den raumbegriff der physik, der nur den bloßen namen mit dem gemein hat, was wir in unserer alltäglichen welt mit "raum" meinen.

p.s.: ich möchte an dieser stelle meinen unmut darüber äußern, dass leider eine vielzahl der beiträge daran krankt, sich hinter einem argumentum ad auctoritatem zu verschanzen (der art "kant hat aber gesagt, dass [...]kant ist eine unhinterfragbare autorität[...]" ). nicht, dass ich es für unangebracht hielte, bekannte autoren zu zitieren. allerdings denke ich, versteigt sich unsere diskussion in scholastische höhen, wo es weniger um die wirklichen positionen geht, als vielmehr darum, (hypo)thesen dadurch plattzureden, dass man ein zitat herauskramt, welches a) die entwicklung der letzten jahre auf dem gebiet der naturwissenschaften außer acht läßt und b) anscheinend durch die bloße autorität des verfassers als alleinseeligmachende wahrheit zu gelten hat.

sorry, wenn an dieser stelle der philosophische gaul mit mir durchgegangen ist.

p.p.s.: anders kann ich mir die völlige nichtbeachtung der physiologischen grundlagen unserer wahrnehmung nicht erklären, als dadurch, dass bei einigen eine art philosophische betriebsblindheit herrscht, die die entwicklungen der anderen naturwissenschaftlichen fächer scheinbar komplett ignoriert.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 28. Jan. 2005, 19:32 Uhr

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Hallo Thomas J,

ich habe nicht den Eindruck, dass hier die Diskussion mit Zitaten philosophischer Autoritäten entschieden wird. Das waren eher Randerscheinungen.

Wenn Kant Richtiges zur Beantwortung unserer Fragen geschrieben hat, dann ist es sinnvoll, seine Argumente hier einzubringen. Bloße Verweise auf Autoren zählen hier nichts.

Ich sehe allerdings die Gefahr, dass damit die Terminologie Kants eingebracht wird, und die Nicht-Kantianer gezwungen sind, ihre Gedanken in dieser Terminologie auszudrücken, wenn sie auf Argumente der "Kantianer" eingehen wollen.

Ich denke da an Begriffe wie "Anschauung" oder "konstituieren". Hier muss das vorhandene Bemühen um eine einheitliche Terminologie bzw. um ineinander übersetzbare Terminologien meines Erachtens noch verstärkt werden,

meint Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 28. Jan. 2005, 22:08 Uhr

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Ihr Lieben,

lieber Thomas

ich habe folgenden Eindruck:

würden wir über zeitgemäße Physik diskutieren und würde jemand in der Diskussion sagen: "Also mit Plank, Einstein und Heisenberg habe ich mich nicht so richtig beschäftigt, deshalb blende ich die lieber aus, finde sie im übrigen sowieso nicht besonders relevant für den Tread", dann... ja dann würde selbst bei denen die auch nur wenig Ahnung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie haben schon rein intuitiv ein starker Zweifel aufkommen ob das eine haltbare Position ist.

Aber weils bloß Kant (oder Hegel, oder Bergson oder Husserl oder Cassierer oder Heidegger oder oder...) ist und weils bloß Philosophie ist, eine Philosophie unter Tausenden, lassen wir das unberücksichtigt. Es ist natürlich auch so, ein Zitat von Einstein nennt man zum Glück nicht Zitat, wie notgedrungen bei Kant, sondern Beweis oder Formel. E=mc² wirkt ja griffiger als diese umständlichen Zitate aus der KdrV und ist irgendwie präsenter und substanzieller, weniger hermeneutisch angehbar, im Grunde überhaupt nicht weiter deutbar (zum Glück der Physik).

Thomas, ich finde es gut das du sagst, Kant ist nicht mein Spezialgebiet (mir gibt der immer wieder Denknüsse auf die ich, selbst wenn ich sie mal geknackt hatte, drei Schritte weiter wieder vergesse). Aber relevant ist er für diesen Tread ohne Ende, ohne das ich behaupten kann und will, dass er der Weisheit letzter Schluss ist. Aber die Hürden die er aufgestellt hat und die Hermeneuticus hier immer wieder wunderbar erklärt, müssen erst einmal übersprungen werden.

Grüße

Dy

ps. hatte gerade Eberharts mail gelesen, deshalb der Anhang noch.

Eberhart, es geht nicht um Kantianer oder nicht. Es geht aber darum, das Kant leider einen ungeheuren Begriffsapparat neu erfinden musste um das zur Darstellung bringen zu können was er "gesehen" hat und was er behandeln wollte. Diese Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten ist kein Manirismus. Ansonsten nimm es (s.o.) als Hürde.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 23:00 Uhr

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Hallo Eberhard, hallo Thomas!

Wieder einmal geht es in unserer Diskussion um die Frage, ob und inwiefern Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, die selbst unter bestimmten Wahrheitsbedingungen gewonnen werden, etwas zur Klärung des Wahrheitsbegriffs im allgemeinen beitragen können. Kann es eine naturwissenschaftliche Erkenntnis vom menschlichen Erkennen geben, die zugleich auch das Wahrheitsproblem löst?

Um nicht immer wieder dieselben Argumente, die mir dazu einfallen, wiederholen zu müssen, zitiere hierzu einfach ein paar Passagen des Wissenschaftstheoretikers Peter Janich, der sich mit den verschiedenen Ansätzen zu einer "Naturalisierung" der Erkenntnistheorie auseinandersetzt.

Im Zusammenhang mit den "Bedingungen der Möglichkeit" naturwissenschaftlicher Erkenntnisse tritt u.a. auch die - schon klassische - Frage auf, wie man mit Messgeräten, die mit den Mitteln der euklidischen Geometrie konstruiert sind, eine nicht-euklidische Raumstruktur finden und für allgemein verbindlich ausgeben könne. Hier tritt also das Paradox auf, dass die "Inhalte" einer Theorie sich gegen die Voraussetzungen kehren, unter denen sie gewonnen werden.

Im Zusammenhang mit diesem Beispiel trägt Janich ein grundlegendes Argument gegen den erkenntnistheoretischen Naturalismus vor:

 

Quote:Gegen den Szientismus bleiben unwiderlegte Einwände, die in der klarsten und überzeugendsten Form gerade am Prototyp des einschlägigen Problems der geometrischen Gegenstände erläutert werden können: Messgeräte sind nicht primär Gegenstände naturwissenschaftlicher Erfahrung. Sie kommen nicht von Natur aus, sondern durch zweckgerichtetes menschliches Handeln in die Welt. Und jeder Benutzer eines Messgerätes in naturwissenschaftlicher Forschung weiß, dass und wie er die Brauchbarkeit seiner Messgeräte kontrolliert. Im zugespitzen Beispiel der Zeitmessung: Wenn eine Uhr defekt ist und stehenbleibt, wird kein Naturforscher annehmen, das Naturgeschehen sei nun plötzlich unendlich schnell, weil "keine Zeit vergehe" - sondern er wird die Uhr für defekt halten und reparieren (lassen) oder durch eine andere ersetzen. Und analog gilt das auch bei Messungen des Raumes, wo es gerade die Axiome der euklidischen Geometrie sind, die für alle Messgeräte räumlicher Verhältnisse die Ungestörtheit bestimmen. Defekte Messgeräte fallen ja auch nach der Überzeugung der Naturwissenschaftler nicht aus der Menge der Gegenstände heraus, für die naturwissenschaftliche Sätze gelten sollen. Dies zeigen Naturwissenschaftler selbst unter anderem dadurch, dass sie Störungen von Messgeräten mit naturwissenschaftlichen Sätzen kausal erklären und so zu einer Reparatur gelangen. Also ist das gestörte vom ungestörten Messgerät nicht empirisch durch "Naturgesetze" unterschieden, sondern nur dadurch, dass die Störung technische Zwecke der handelnden Menschen verfehlt, die solche Geräte konstruieren, bauen und benutzen. Kurz, der Szientismus verkennt, dass ohne vorgängige, d. h. (relativ) apriorische Zwecksetzungen für die moderne Teschnik des Messens (und übrigens auch Experimentierens) keine Erfahrung in Form von Messdaten zustande kommt.

Der Szientismus ist eine philosophische Position, die von einer tatsächlichen Anerkennung der jeweils jüngsten Naturwissenschaft durch Setzung ausgeht und von dort zu einer nachträglichen, die Erfahrung überbetonenden Interpretation der Forschungsmethoden kommt. Diese Philosophie (und ihre Überbetonung der Erfahrung) deckt aber nicht einmal die tatsächliche Forschungspraxis der Naturwissenschaften ab, wo selbstverständlich Störungen von Mess- und Experimentierapparaturen erkannt und behoben werden, wo also im Spannungsfeld von Vernunft und Erfahrung die Vernunft durchaus ihren Platz hat. Nur in der Selbstverständigungsphilosophie der Szientisten bleibt diese "Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung" unbeachtet - weil ja, im Unterschied z. B. zu den erkenntniskritischen Bemühungen Kants und einer daran anschließenden wissenschaftstheoretischen Tradition, das Wahrheitsproblem szientistisch als erledigt gilt: nämlich durch den Glauben von Naturwissenschaftlern an ihre Theorien und Methoden.

Aus: P.Janich, Was ist Erkenntnis?, München 2000, S.69f.)

 

 

Im Zusammenhang mit dem "Physiologismus" - also dem Bestreben, menschliche Erkenntisleistungen aus organismischen Gegebenheiten abzuleiten - betont Janich, dass ein solches Bestreben zunächst überhaupt einen Begriff davon haben müsse, was Erkenntnis sei. Und dazu gehört auch ihre Abgrenzung gegen Nicht-Erkenntnis...

 

Quote:Jede, auch in der Physiologie und in der Verhaltensforschung gewonnene, naturwissenschaftliche Erfahrung ist nicht voraussetzungsfrei, sondern an das Gelingen technischer Veranstaltungen gebunden, die für Messen, Experimentiren und Beobachten nach naturwissenschaftlichen Methoden unverzichtbar sind. Und naturwissenschaftliches Wissen, selbst die bewährtesten "Naturgesetze", können keine Unterscheidung von ungestörten und gestörten Erkenntnismitteln leisten; diese sind immer nur durch die Zwecke des Erkennens, durch menschliche, kulturellem Wandel unterliegende Erkenntnisinteressen gegeben.

Die Naturalisierung des Erkennens im Physiologismus hat (...) das Wahr-falsch-Problem, oder allgemeiner, das Erkenntnisproblem schlechthin missverstanden. Selbst wenn es gelänge, in zukünftigen Naturwissenschaften so viel über den Menschen als Organismus und darüber hinaus seine individuelle Konstitution zu wissen, dass daraus sein tatsächliches Verhalten etwa als Naturforscher deduziert werden könnte, bliebe dabei immer noch das Problem ungelöst, ja sogar völlig unberührt, woher dafür die Wahrheitskriterien kommen (...).

Ohne Frage geschehen bei jedem im traditionellen Vorverständnis als Erkenntnisleistung ausgezeichneten Vorgang physische Abläufe im menschlichen Leib, die naturwissenschaftlich untersucht und erklärt werden können (...). Aber ob aus solchen Abläufen Erkenntnisse erwachsen oder nicht, kann daraus nicht ersehen werden, weil auch alle Erkenntnisfehlleistungen (und alle diffusen Zwischenkandidaten wie Vermutungen, Meinungen, Sinnestäuschungen usw.) im selben Sinne Leistungen der organismischen Maschinerie sind. Nach der Maxime, dass nicht wahr sein kann, was nicht auch falsch sein kann, muss sich der Physiologismus zur Erklärung der Erkenntnisleistungen der Herausforderung stellen, Erkenntnis und Irrtum zu unterscheiden, und dies selbst als Erkenntnis und nicht irrtümlich. Das heißt, er benötigt von Anfang an Kriterien für die Unterscheidung von Erkenntnis und Irrtum, liefert sie jedoch nicht.

P.Janich, ebd. S.76f.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 28. Jan. 2005, 23:54 Uhr

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Hi Dy!

Ich protestiere energisch gegen eine Änderung der "Beförderungsregeln" !

[smiley=schilder0289.gif]

 

 

Aber Deinem letzten Posting muss ich denn doch applaudieren, und zwar nicht nur wegen des Honigs, den Du mir da in den Zweitagebart schmierst...

:-)

 

Es ist doch recht befremdlich, dass in einem Philososophie-Forum (!) der Gebrauch philosophischen Allgemeinguts wie eine Obszönität behandelt wird... Auf welchem anderen Wissensgebiet käme man auf die Idee, man müsse ohne jede Voraussetzung von Sachkenntnis vorgehen?

Das Argument mit den "Autoritäten" würde nur verfangen, wenn name-dropping das Argumentieren ersetzen würde. Aber ist es nicht auch eine Überlegung wert, wieso Platon, Aristoteles, Kant... überhaupt zu philosophischen "Autoritäten" geworden sind? Nur deshalb, weil Generationen von autoritären Philosophieprofessoren ihren Studenten deren Lektüre aufgezwungen haben? Oder vielleicht auch (ein kleines bisschen) deshalb, weil Generationen ziiiiemlich intelligenter Köpfe immer wieder grundlegende und nicht überholte Einsichten bei diesen "Autoritäten" gefunden haben?

Es hat überhaupt nichts mit einem Kniefall zu tun, wenn man beim Vortragen der eigenen Gedanken durchblicken lässt, wie man zu ihnen gekommen ist oder sogar - wem man seine Einsichten VERDANKT. Ich habe jedenfalls ein ungutes Gefühl, wenn ich Gedanken vorbringe, die sich auf einen anderen Autoren stützen, ohne dass ich das kenntlich mache. Hauptsächlich aus diesem Grund nenne ich Namen, nicht weil ich Eindruck mit ihnen schinden möchte.

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 29. Jan. 2005, 00:03 Uhr

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sauber !, muss ich bestellen [bookworm] den Janisch,

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 29. Jan. 2005, 08:06 Uhr

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Hallo allerseits,

zur besseren Übersicht scheint es mir sinnvoll, den jetzigen Stand unserer Diskussion fest zu halten.

Wir waren uns darüber einig, dass das Kriterium für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit unsere Wahrnehmungen sind.

Es war nicht strittig, dass uns intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen möglich sind.

Es war nicht strittig, dass wir intersubjektiv verständliche Begriffe für die sprachliche Wiedergabe unserer Wahrnehmungen durch Sprachlernen besitzen bzw. durch Begriffsbestimmung schaffen können.

Es war auch nicht strittig, dass sich die Probleme ungenauer oder fehl interpretierter Wahrnehmungen sowie Sinnestäuschungen bewältigen lassen.

Das ist eigentlich bereits ausreichend, um mit dem Anspruch auf Wahrheit Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit machen zu können.

Es kamen dann im Zusammenhang mit Kants Theorie der Erkenntnis zwei weitere Fragen auf:

1. Wie ist die Wahrnehmung von Gegenständen möglich?

2. Gibt es Aussagen über die Welt, die wir ohne Begründung durch Wahrnehmungen für wahr halten müssen?

Bisher haben wir keine Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ausgemacht, die ohne Begründung durch Wahrnehmungen als wahr anzusehen sind.

Da nicht bestritten wird, dass es intersubjektiv übereinstimmende Wahrnehmungen der Wirklichkeit gibt, stellt sich die Frage, ob es überhaupt notwendig ist, die Möglichkeit dieser Wahrnehmungen zu begründen und was damit gewonnen ist.

Auf die Frage:

" Wie ist es dir möglich, den Kugelschreiber vor dir auf dem Schreibtisch wahrzunehmen und dies durch den Satz: 'Vor mir auf dem Schreibtisch liegt ein Kugelschreiber' sprachlich auszudrücken?"

geben Thomas und ich Antworten wie:

" Die Bedeutung der Wörter 'Kugelschreiber', 'vor mir' oder 'liegen' habe ich von meinen Eltern gelernt. Dadurch und durch die Fähigkeiten, die ich durch meine Augen und mein Gehirn habe, ist es mir möglich, den Kugelschreiber wahrzunehmen und dies sprachlich auszudrücken. Die genauere Erklärung für meine Wahrnehmungsfähigkeit ist Aufgabe der Psychologie und der Physiologie, die hier bereits viele Erkenntnisse gewonnen haben."

Hermeneuticus hält dieser Antwort entgegen: Diese Wissenschaften setzen selber die Möglichkeit der Wahrnehmung bereits voraus und können diese deshalb nicht erklären.

Andererseits kann man aber die Möglichkeit eines empirischen Vorgangs wie der Wahrnehmung nicht anders erklären als durch Rückgriff auf empirische Erkenntnisse.

Deshalb wäre es sinnvoll, wenn Hermeneuticus erklären würde, wie die Frage nach der Möglichkeit von Wahrnehmung der gegenständlichen Welt sonst zu verstehen ist. Und er sollte die Frage beantworten, warum es mir möglich ist, zu erkennen, dass vor mir auf dem Schreibtisch ein Kugelschreiber liegt.

Es grüßt Euch Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 29. Jan. 2005, 11:14 Uhr

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Quote:Andererseits kann man aber die Möglichkeit eines empirischen Vorgangs wie der Wahrnehmung nicht anders erklären als durch Rückgriff auf empirische Erkenntnisse.

das in etwa ist der zirkel in dem wir uns befinden.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 29. Jan. 2005, 13:45 Uhr

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Hallo Eberhard, hallo Thomas!

 

Quote:Die genauere Erklärung für meine Wahrnehmungsfähigkeit ist Aufgabe der Psychologie und der Physiologie, die hier bereits viele Erkenntnisse gewonnen haben.

Also gut, greifen wir auf Erkenntnisse der Physiologie und Psychologie zurück!

Allerdings ist dabei zu beachten, dass es in den Wissenschaften selbst durchaus kontrovers sein kann, was denn als gesicherte Erkenntnis gelten darf. Und selbst Mehrheitsmeinungen innerhalb der Wissenschaften müssen nicht notwendig stimmen, wie uns die historische Einsicht in wissenschaftliche Fortschritte und Paradigmenwechsel lehrt. Auch kann es in den Wissenschaften durchaus so etwas wie Ratlosigkeit angesichts elementarer Begriffe geben, mit denen sie auf Schritt und Tritt arbeiten. So sind etwa die Begriffe "Raum" und "Zeit" nach der Relativitäts- und Quantentheorie in der Physik alles andere als eindeutig und unumstritten.

Was meint Ihr - sollen wir uns die Bedeutung der Begriffe "Raum" und "Zeit" ebenfalls von den Wissenschaften erklären lassen? Von welcher denn? Von der Physik? Oder hat hier die Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie die Erklärungshoheit, weil immerhin sie uns die natürliche Wahrnehmungsfähigkeit erklären, die ja grundlegend für das Betreiben JEDER Erfahrungswissenschaft ist?

 

 

Quote:Hans Reichenbach, der sozusagen der Hausphilosoph der Einsteinschen Physik war, hat sich des Problems angenommen, das oben an der Vermessung des Lichtstrahlendreieicks durch Gauss erwähnt wurde: Welche Geometrie bestimmen die Messgeräte, mit denen man empirische Daten über Raumstrukturen (etwa durch Vermessung von Lichtstrahlen in Gravitationsfeldern) gewinnt? Selbstverständlich wusste man (und Reichenbach sah sich mit den Einwänden des Philosophen Hugo Dingler (1881-1934) in dieser Richtung konfrontiert), dass die Messgeräte nach euklidischen Konstruktionsprinzipien hergestellt und verwendet worden waren. Wie konnte dann mit euklidischen Messgeräten eine nicht-euklidische Raumstruktur gefunden werden? Reichenbachs Antwort, die von der gesamten Naturwissenschaft bis heute überommen wurde, ist: Die technisch herbeigeführte, euklidische Struktur der Messgeräte sei "in Wahrheit" eine nicht-euklidische; lediglich lägen die entsprechenden Abweichungen durch sogenannte relativistische Effekte unterhalb der Beobachtungsgenauigkeit.

Für das Erkenntnisproblem ist maßgebend, dass dieses "in Wahrheit" ein Bezug auf die anerkannten, vor allem elektromagnetischen und Gravitationstheorien war, die man ihrerseits für empiriisch bewährt hielt.

P.Janich, Was ist Erkenntnis? München 2000, S.68

So viel als Beispiel für eine gesicherte Erkenntnis/Mehrheitsmeinung aus EINER der Wissenschaften, denen wir es getrost überlassen können, uns zu sagen, "was Sache ist". Bleibt nur das "unwiderlegte Argument" P.Janichs, das ich bereits ausführlich zitiert habe. Eine Minderheitsmeinung freilich, aber...

 

Übrigens möchte ich wetten: Der Rückgriff auf die Gestaltpsychologie der Wahrnehmung wird hier in unserer Diskussion keine Annäherung der "Fronten" bringen, obwohl die Gestaltpsychologie ihre Thesen auf Experimente stützt.

Na, wir werden sehen. Mein Beitrag dazu ist in Vorbereitung.

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von gershwin am 29. Jan. 2005, 16:03 Uhr

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Hi Leute

Quote:Hier liegt also der bekannte (und leider vitiöse) Zirkel der evolutionsbiologischen Erkenntnistheorie vor, die einen Wahrheitsbegriff bereits beansprucht, den sie selbst aber - im Rahmen ihrer objektsprachlichen Aussagen - nicht erläutern kann. Wir hatten dieses Problem schon mit doc_rudi und gershwin..

 

Ein etwas vorschnelles Urteil auf der Basis eines Gesetzbuches der Willkür.

Zum Ersten: ich habe mich hier mit rudi schon zu Philtalk-Anfangszeiten (also vor Jahren!) ausgiebig in diversen threads herumgestritten (im positiven Sinne natürlich, scheint ein netter Kerl zu sein), und möchte daher eher die grundsätzliche Verschiedenheit unserer Standpunkte betont sehen. :-)

Zum Zweiten: Die Kritik der Rückbezüglichkeit oder eines Zirkels kann man auf jedes nur denkbare Denksystem anwenden. Sie ist in vielen Fällen daher weder überzeugend noch fruchtbar. Es gibt keine voraussetzungslosen Aussagen, das ist ja wohl banal. Es gibt aber mehr oder weniger willkürliche Vorausetzungen.

zum Dritten: Natürlich gibt es verschiedene Beschreibungssysteme, und daher gibt es keinen Grund (" daher verbietet es sich", würden wohl dyade und H. sagen), wie rudi aus physikalischen soziale Begrifflichkeiten zu machen. ABER die Wissenschaften, (insbesondere die ET als Basiswissenschaft jeder biologischen Disziplin) zeigen doch, dass beispielsweise Beschreibungssysteme der Physiker und der Geisteswissenschaftler doch mehr miteinander zu tun haben als viele glauben möchten.

Der Bau und die Reichweite unserer Sinnesorgane, die Art und Weise der Verarbeitung der Inputs, unsere Emotionen usw. sind ebenso offensichtlich an die physikalische und soziale Umwelt unserer langen Vorfahrenreihe angepaßt, wie die stromlinienförmige Figur der Fische.

Das, was wir als Denken bezeichnen (ein sehr schwammiger Begriff) beruht auf exakt dem gleichen neuronalen Substrat, und es liegt mehr als nahe, dass die Art der entsprechenden Verschaltungen denselben Strategien dienen, also dem Überleben bzw. der Fortpflanzung, nicht der Ausarbeitung geisteswissenschaftlicher Denksysteme. Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass die Algorithmen unseres Denkens (welche die Gestalttheorie zu formalisieren sich bemüht) prinzipiell andere Ursachen haben sollten als die unserer Sinneswahrnehmung. Wenn, dann möchte ich bitte schön einen hören.

Ich wiederhole: ich möchte gerne bitteschön einen Grund für eine solche Annahme hören.

Das hat erkenntnistheoretische Implikationen, die Bescheidenheit anraten. Ich hatte sie zu folgenden Thesen verdichtet: Sprache ist prinzipiell nichts anderes als tierische oder pflanzliche Kommunikation. Das Wörtchen "wahr" verdankt sich alleine der Möglichkeit des Irrtums und des Betrugs. Unwahr ist eine Art Warnung, sich nicht auf die entsprechende Aussage und deren Folgerungen zu verlassen.

Wahrheit bezieht sich nicht nur auf Aussagen, sondern auch die kontextabhängig erlaubten (= angeratenen) oder verbotenen Weisen des Folgerns (Verknüpfen von Aussagen): A misst mehr cm als B, B misst mehr cm als C, daraus folgt: A misst mehr cm als C. Erlaubt. Abzuraten ist, sich auf folgende Folgerung zu verlassen: A gewinnt TT fast immer gegen B, B gewinnt fast immer gegen C. Also gewinnt A auch fast immer gegen C. Ich kenne persönlich einige Gegenbeispiele.

Jede Aussage ist prinzipiell falsifizierbar, falls sie überhaupt in einen intersubjektiven Formalismus eingebettet ist (" Das Nichts nichtet" ist nicht falsifizierbar). Auch die Art und Weise der erlaubten Folgerungen sind falsifizierbar, wie die Relativitäts- und Quantentheorie gezeigt haben.

Wenn jemand behauptet, es gibt Wahrheit oder ewig wahre Aussagen und man mal davon absieht, dass das aus mehreren (er befindet sich schon nicht mehr innerhalb eines intersubjektiven Formalismus) Gründen fruchtlose Aussagen sind, so leuchtet doch ein, dass er entweder in die Dogmatik flüchten oder diese Aussagen völlig beziehungslos im sozialen Raume stehen lassen muss. Denn wie sollte er denn wissen, welche Aussagen niemals falsifiziert werden?

Also: die Verwendung des Wörtchens "(un)wahr" ist eine Handlungsaufforderung: der Angesprochene soll sich (nicht) auf die in Frage stehende Aussage und deren Folgerungen verlassen. Das ist eine Minimalphilosophie mit höchster Widerspruchsfreiheit und höchster Kohärenz und Brückenbildungsfunktion bezüglich verschiedener Beschreibungssysteme. Was will man mehr?

Jeder, der meint, der Begriff Wahrheit gebe mehr her, muss willkürliche Zusatzannahmen heranziehen eben auf Kosten der Widerspruchsfreiheit, Kohärenz und Brückenbildungsfunktion.

Um auf das Eingangszitat zurückzukommen: Die evolutionäre Erkenntnistheorie (wie ich sie verstehe) "beansprucht" also keinen Wahrheitsbegriff. Sie minimiert den Willkürkürgehalt eines solchen Begriffs und mutet den Menschen keinen unglaubwürdigen Diskurswechsel zu, der plötzlich vergessen machen soll, dass wir Geschöpfe der Natur in einer Kontinuität sind. Und "erläutern" kann ich auf Wunsch noch seitenlang. :-)

Freundliche Grüße

Thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 29. Jan. 2005, 18:23 Uhr

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Welcome back, Thomas,

auch wenn nun wieder zwischen Thomas/j und Thomas/g unterschieden werden muss...

Dein Beitrag hat eine ausführlichere Antwort verdient, aber im Moment nur dies:

Quote:Das hat erkenntnistheoretische Implikationen, die Bescheidenheit anraten. Ich hatte sie zu folgenden Thesen verdichtet: Sprache ist prinzipiell nichts anderes als tierische oder pflanzliche Kommunikation.

Wenn Du das für eine BESCHEIDENE These hältst, möchte ich mal erleben, wenn Du unbescheiden wirst...

Ich halte das jedenfalls für eine Anmaßung, aus dem schon bekannten Grund, dass wir von tierischer oder gar pflanzlicher "Kommunikation" überhaupt nicht sprechen könnten, wenn wir dabei nicht immer schon von unserer eigenen Kommunikation ausgehen und sie als Paradigma zugrunde legen würden. Und es stellt dieses Voraussetzungsverhätnis - das wir uns übrigens nicht willkürlich ausgesucht haben; die Sprache HABEN wir nun mal, ob wir wollen oder nicht - auf den Kopf, tierische Kommunikation gewissermaßen für die "eigentliche" Form von Kommunikation auszugeben, die von unserer eigenen Sprache nur ein bisschen differenziert werde.

Erkenntnislogisch gesehen führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass wir keinerlei Form von "Kommunikation" in der Natur beobachten könnten, wenn wir nicht immer schon auf unsere spezifisch menschliche Weise kommunizieren würden. Wir hätten z. B. gar keinen Begriff dafür. (Was ein Begriff ist, darüber haben wir schon mal die Klingen gekreuzt...)

Ich erwarte nicht mehr, als dass bei solchen Rück-Erklärungen unserer menschlichen Eigenheiten aus nicht-menschlichen Naturformen die METHODISCHE REIHENFOLGE beachtet wird, in der sie gewonnen werden. Denn in dieser methodischen Reihenfolge zeigt sich ein klares Voraussetzungsverhältnis derart, dass das eine nicht erklärt werden könnte, ehe man das andere verstanden hat.

First things first!

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 29. Jan. 2005, 19:52 Uhr

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Hi Gershwin,

" Es gibt aber mehr oder weniger willkürliche Vorausetzungen."

Es geht nicht um "mehr oder weniger willkürliche Voraussetzungen" sondern um solche die implizit das voraussetzen was sie explizit erst erklären wollen.

Gruß

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 29. Jan. 2005, 20:25 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

Du fragst: "Kann es eine naturwissenschaftliche Erkenntnis vom menschlichen Erkennen geben, die zugleich auch das Wahrheitsproblem löst?" und interpretierst unseren Dissens so, dass Du die Frage mit 'Nein' beantwortest und Thomas J und ich mit 'Ja'.

Ich weiß nicht, wie Du zu der Ansicht kommst, dass ich ein "Szientist" sei, der das Wahrheitsproblem mit den Methoden der Naturwissenschaft lösen will.

Wenn ich sage: "Die Wahrheit einer Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit erweist sich daran, dass sich aus dieser Aussage Wahrnehmungen ableiten lassen, die mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen übereinstimmen" dann ist das doch kein naturwissenschaftlicher Satz über einen empirischen Vorgang, sondern eine methodische Regel zur Gewinnung von Erkenntnis.

Erst für die Beantwortung der von Dir, Dyade und Verena gestellten Frage: "Wie ist uns die Wahrnehmung von Gegenständen überhaupt möglich?" haben ich und Thomas J auf Ergebnisse der empirischen Wissenschaften vom Menschen verwiesen, und dies zu Recht. Wenn jemand mir die Frage stellen würde: "Wie ist es einem Menschen möglich, einen Stein weiter als 20 Meter zu werfen?" dann würde ich mich in gleicher Weise an die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften vom Menschen halten, da ich nichts Besseres kenne.

Ich frage Dich deshalb:

" Wie begründest Du, dass es uns möglich ist, Gegenstände wahrzunehmen?"

Zum Schluss noch eine Feststellung, auf die manch einer heftig reagieren wird, aber ich halte die Frage: "Wie ist uns die Wahrnehmung von Gegenständen überhaupt möglich?" nicht für zentral in unserem Zusammenhang.

Ich kann meine Augen zum Sehen benutzen, auch wenn ich nicht weiß, was beim Sehen in meinen Augen, meinem Sehnerv und in den Sehzentren meines Gehirns geschieht.

Ich kann auch nicht besser sehen, wenn ich die am Sehen beteiligten Organe und deren Funktion für die Erzeugung eines Bildes in meinem Bewusstsein kenne.

Es grüßt Dich und alle Freunde des philosophischen Florettfechtens Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 29. Jan. 2005, 23:10 Uhr

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Wie soll man zu dem kommen, was man eigentlich sagen will, wenn hier immr weiter dazwischengeredet wird...?

[hairstand]

 

Hallo Eberhard!

 

on 01/29/05 um 08:06:16, Eberhard wrote:Wir waren uns darüber einig, dass das Kriterium für die Wahrheit von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit unsere Wahrnehmungen sind.

Nicht ganz! Und zwar wegen des missverständlichen, immer noch ungeklärten Ausdrucks "Beschaffenheit der Wirklichkeit". Wir sind nicht einig darüber, was alles zur Wirklichkeit gehören soll.

Wie ist es z. B. mit phänomenologischen, reflexiven Aussagen über die Elemente und Strukturen unserer Erkenntnis - haben sie nicht auch die Beschaffenheit eines Teils, und zwar eines besonders wichtigen Teils, der Wirklichkeit zum Gegenstand? Kann man wahre Aussagen über Denkvorgänge, über die Sinnstrukturen von Sätzen machen? Ich denke schon. Nur kann für ihre Wahrheit nicht sinnliche Wahrnehmung das Kriterium sein.

Hier zeichnet sich übrigens die Frage ab, ob zwischen dem Denken als "Erlebnis" /" Akt" und als "Gehalt" unterschieden werden muss (Husserls Thema in den "Logischen Untersuchungen" ). Gehört die Logik zur Psychologie, weil Denken ein psychisches - also empirisches - Geschehen ist?

Wie auch immer: Ein Begriff der Wirklichkeit, der dasselbe bedeutet wie "Summe des sinnlich Wahrnehmbaren", ist mir zu eng gefasst.

Quote:Hermeneuticus hält dieser Antwort entgegen: Diese Wissenschaften setzen selber die Möglichkeit der Wahrnehmung bereits voraus und können diese deshalb nicht erklären.

Das gibt meine Argumente nicht ganz zutreffend wieder, weil Du den Unterschied zwischen den verschiedenen Weisen, in denen wir auf Wahrnehmung(en) Bezug nehmen können, nicht beachtest.

Ich erinnere dazu an die Diskussion mit doc_rudi über die physiologische Beschreibung von Bau und Funktionsweise der Sinne und das "Haben" von Wahrnehmungen (" Perzeptionen" ). In diesem Zusammenhang zitierte ich auch Leibniz' Kritik an den Versuchen, Perzeptionen mechanistisch zu beschreiben. (Vgl, Wahrheit V, Beiträge Nr. 114, 118.)

In der naturwissenschaftlichen Beschreibung wird eine Beobachterperspektive praktiziert; es handelt sich um eine Beschreibung "von außen". Die Wahrnehmungen, die wir selbst haben (ohne zu wissen, wie sie - physiologisch - zustande kommen), und die z.T. ja bewusst gesteuerten Wahrnehmungsakte können wir zwar auch beschreiben, aber wir führen sie dabei nicht auf etwas anderes zurück, was "hinter ihnen" vor sich geht. Hier sind wir sozusagen "Teilnehmer".

Wichtig ist, dass diese beiden Perspektiven nicht beliebig gewechselt werden können, ohne dabei den Gegenstand auszuwechseln. Was ein Physiologe beschreibt, sind nun einmal nicht die Wahrnehmungen selbst, sondern die Funktionen der Sinnesorgane. Gleichwohl können wir uns in der Teilnehmerperspektive - sozusagen als "User" :-) - durchaus über unsere Wahrnehmungen verständigen; dazu müssen wir nicht die Ergebnisse der Wissenschaft zu Rate ziehen.

Die Gestaltpsychologie betont übrigens auch, dass die Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung selbst (also der Perzeptionen) nicht als eine Verlängerung des physiologischen Befundes bis ins Bewusstsein hinein verstanden werden können. Hier gibt es eine nicht überbrückte Lücke. Und das liegt, wie bereits Leibniz klar gesehen hat, am Unterschied zwischen den verschiedenen Perspektiven bzw Erklärungsweisen. (Zur Gestaltpsychologie komme ich noch...)

doc_rudi hat damals die Perzeptionen zu einem "Geheimnis" erklärt, über das es keine wissenschaftlichen Aussgen geben kann. Aber da bin ich anderer Meinung. Die phänomenologische Sicht - die das Kontinuum mit der "User" -Perspektive aufrecht erhält - kommt durchaus zu rationalen Einsichten. Auch lassen sich ja, wie in der Psychologie regelmäßig praktiziert, durch Experimente die Wahrnehmungserlebnisse und -akte der "User" zum Thema machen und beschreiben. Aber man befindet sich dabei trotzdem in einem anderen wissenschaftlichen Paradigma. Kann man behaupten, dass jeweils DASSELBE Gegenstand der Untersuchung sei?*)

Nach diesen Differenzierungen ist auch verständlicher, was ich meine: Letztlich ist jeder Wissenschaftler zunächst und zumeist "User" seiner Wahrnehmungen. Jede erfahrungswissenschaftliche Beschreibung wird AUS der "User" -Perspektive durchgeführt und auch FÜR diese formuliert bzw. in sie "zurückübersetzt". (Man denke an die beliebten Coputersimulationen, die uns durch Blutbahnen oder Neuronennetzwerke fliegen lassen und uns so Wahrnehmungen davon verschaffen, wie Wahrnehmungen "von außen" aussehen... )

Die "User" -Perspektive ist eben zweifellos die "ursprüngliche", die wir niemals ganz verlassen können. Sie ist Ausgangspunkt und erste "natürliche" Voraussetzung für jede weitere Art von Erfahrung (wie z. B. Messungen oder Experimente).

 

 

Quote:Andererseits kann man aber die Möglichkeit eines empirischen Vorgangs wie der Wahrnehmung nicht anders erklären als durch Rückgriff auf empirische Erkenntnisse.

Sind Perzeptionen denn wirklich "empirische Vorgänge" ? Sind Gedanken empirisch? Ist die Logik ein Zweig der empirischen Psychologie? Geht der Austausch von Argumenten z. B. in einer wissenschaftlichen oder philosophischen Debatte in einer "empirischen" Beschreibung auf?

 

 

So, für heute ist Feierabend!

Gute Nacht!

H.

 

*) Diese beiden Paradigmen der Beschreibung werden heutzutage immer wieder verwechselt. Man geht nahtlos vom einen ins andere über. Dabei kommen dann solche Aussagen zustande wie: "Mein Gehirn will immer nur Schlechtes von den Menschen denken."

Das las ich dieser Tage als Schlagzeile der Online-Ausgabe der "Süddeutschen Zeitung". "Mein Gehirn will..." Solcher Unsinn ist also schon gesellschaftsfähig geworden. Er fällt nicht mehr als Unsinn auf.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von gershwin am 30. Jan. 2005, 01:10 Uhr

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Hi Leute

Quote:Ich halte das jedenfalls für eine Anmaßung, aus dem schon bekannten Grund, dass wir von tierischer oder gar pflanzlicher "Kommunikation" überhaupt nicht sprechen könnten, wenn wir dabei nicht immer schon von unserer eigenen Kommunikation ausgehen und sie als Paradigma zugrunde legen würden.

 

Ohne Fischflossen hätten wir keine Arme und Beine. Ohne die Kommunikationsfähigkeit unserer Vorfahren könnten wir uns hier nicht so nett unterhalten. Aber hier möchtest Du aus mir unerfindlichen Gründen Dein "First things first" wohl nicht gelten lassen.

Überdies, ich muss da noch mal drauf rumreiten, liegen JEDEM menschlichen Satz Paradigmen zugrunde, was soll da so schlimm dran sein? (Ich frage das hier in Varianten wohl schon zum fünften Mal.)

Quote:das wir uns übrigens nicht willkürlich ausgesucht haben; die Sprache HABEN wir nun mal

 

Selbstverständlich ist das pure Willkür. Du greifst einen einzigen Aspekt unserer Motorik heraus (der sich ebenso wie mimische, gestische oder sonstige Bewegungsmotorik problemlos in die Kontinuität der materiellen Evolution einordnen lässt) und erhebst ihn auf ein Podest des Anfangs: "First Things First", und dies muss der Ausgangspunkt einer jeden Diskussion sein, die unsere Erkenntnisfähigkeit ausloten möchte. Jedes Baby bis hinab zur Embryostufe sollte Dir doch Beweis genug sein, dass man bei aller Plastizität von Entwicklungsgesetzen nicht sprechen kann sondern muss. Erst kam der aufrechte Gang und ein rasches Gehirnwachstum, dann erst die Sprache.

 

Quote:Mein Gehirn will

 

Klar kann man sich darüber lustig machen, aber was sollte z. B. ein Süchtiger sagen, der sich, hoch motiviert, nichts sehnlicher wünscht als die Befreiung von seiner Sucht? "Ich will ja, aber mein Gehirn braucht den Stoff..." Der Knackpunkt ist doch, dass unsere Alltagssprache immer noch cartesianisch ist und einen Subjektbegriff impliziert, der schon lange nicht mehr zu halten ist. Unserem Süchtigen stehen aber gar keine anderen Sprachspiele zur Verfügung. "Ich will an der Nadel, Flasche oder was auch immer hängenbleiben", kann er ja nicht sagen, denn er will ja nicht... Die vordarwinistischen Philosophen haben das "Ich" (schlicht ein Zeichen im menschlichen Kommunikationssystem) aufgeplustert zu einer zentralen Entscheidungsinstanz. Und Aussagen konstituierten die Beziehung dieser Entscheidungsinstanz zur Wirklichkeit oder Wahrheit. Bei Kant formt das Ich die Wirklichkeit (die vom Bewusstsein unabhängigen Dinge an sich) ein wenig, bei Fichte, etwas extremer, setzt das Ich die Wirklichkeit, ja sogar sich selbst, wenn ich das richtig verstanden habe. (Würde mich nicht wundern, wenn bei Heidegger das Ich auch noch icht. "Nur wer gründlich icht, hat die richtige Sicht!" Also wenn ich da links nicht schon so ein tolles Motto stehen hätte... :-))

Dyade, JEDER Satz, der sich mit Sprache befaßt, setzt implizit Sprache voraus. Ist also Sprache prinzipiell nicht besprechbar? Die Willkür ist hier die Grenzziehung der Abhängigkeitsverhältnisse. Sprechen setzt z. B. Atmen, Fressen, Trinken voraus, auch Geborensein, Erzogenwerden von Eltern, die wiederum Eltern brauchen usw. Heißt das, dass wir Atmen, Fressen, Trinken, Geburt und Erziehung prinzipiell nicht erklären können?

Das wäre nicht gut für den Forschungsstandort Deutschland!!!

Freundliche Grüße

Thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 30. Jan. 2005, 09:04 Uhr

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Ich fürchte, solange wir an den naturwissenschaftlichen Erklärung von Wahrnehmung dogmatisch festhalten, werden wir uns ewig im Kreise drehen.

Warum traut sich das keiner zu hinterfragen?

Ich höre in ca. 20 Meter Entfernung den Klang eines singenden Vogels. Angeblich erzeugt der Vogel also Schallwellen, die angeblich mit Schallgeschwindigkeit an mein Ohr dringen und als Information ans Gehirn weitergeleitet werden. Dort also entsteht der gehörte Klang. Warum aber in aller Welt höre ich den Klang dann nicht in meinem Kopf, sondern in ca. 20 Meter Entfernung? Oder höre ich den Klang doch in meinem Kopf und das Gehirn erzeugt "künstlich" den Eindruck von 20 Meter Entfernung? Dann aber bleiben die angeblich "realen" 20 Meter eine reine Spekulation.

Das gleiche gilt für den Vogel, den ich sehe. Angeblich fällt Licht auf den Vogel, wird reflektiert, angeblich mit Lichtgeschwindigkeit an meine Augen getragen. Die Information wird angeblich ans Gehirn weitergeleitet, wo das Bild eines Vogels entsteht. So gesehen kann ich immer nur das Bild eines Vogels sehen, nie den angeblich realen Vogel da draußen. Und doch sehe ich das Bild nicht im Kopf, sondern dort, in 20 Meter Entfernung. Also, erzeugt auch hier das Gehirn den "künstlichen" Eindruck einer realen Entfernung? Also wäre die Entfernung, die ich sehe, rein illusionär, während eine tatsächlich reale Entfernung reine Mutmaßung bleibt. Zu sagen: "wenn ich eine Entfernung wahrnehme, muss da auch eine Entfernung SEIN", klingt zwar im ersten Moment plausibel, ist aber eine reine Annahme.

In etwa so schlüssig, wie wenn ein Kind glaubt, wenn es keinen sieht, dass es dann auch von keinem gesehen wird.

 

Fazit:

die allgemein verbreitete These, dass da draußen von mir getrennte Dinge sind, von denen Sinnesreize an mein Bewußtsein, dass sich angeblich in meinem Gehirn befindet, dringen, ist in etwa so schlüssig, wie die Annahme, dass die Erde eine Scheibe ist, die von einem starken Riesen getragen wird.

Woher kommt das? Ich vermute, wenn die Wahrnehmung so gut wie jedes Menschen in frühester Kindheit dergestalt konditioniert wird, dass er sich selbst als Ding sieht, das anderen Dingen gegenübersteht, also von ihnen getrennt ist,

dann werden auch sämtliche Wahrnehmungstheorien eben unter dem Eindruck einer konditionierten Wahrnehmung entstehen.

Tut mir ja leid, dass ich eure anspruchsvolle Diskussion mit meinem kleinen Vogel unterbreche. Aber lest euch unter diesen Aspekten nochmal die Aussagen von Heidegger durch, die Jovis mal hier reingestellt hatte. Ich darf zitieren:

" Das führt gleich in den Kern eines alten Problems, nämlich der Frage, wie das Subjekt aus seiner Innensphäre heraustreten kann, um zum Objekt "draußen" zu gelangen. Heidegger durchschlägt diesen gordischen Knoten, indem er davon ausgeht, dass das Dasein als In-Der-Welt-sein immer schon draußen ist - bei der vertrauten Welt."

Dann folgt als Zitat aus "Sein und Zeit" :

" Im Sichrichten auf ... und Erfassen geht das Dasein nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon "draußen" bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt ... Und wiederum, das Vernehmen des Erkannten ist nicht ein Zurückkehren des erfassenden Hinausgehens mit der gewonnenen Beute in das "Gehäuse" des Bewußtseins, sondern auch im Vernehmen, Bewahren und Behalten bleibt das erkennende Dasein als Dasein draußen."

Eben. Das Subjekt ist nicht hier und das Objekt dort und beide sind getrennt. Mit "erkennendes Dasein" meint Heidegger nichts anderes als das Bewußtsein. Wenn dieses im Gehirn wäre, und die Dinge dort draußen, gäbe es überhaupt keine Wahrnehmung. Als Bewußtsein bzw. Subjekt bin ich weder hier noch dort, ich bin nirgends und überall. Ich kann die Dinge nur wahrnehmen, weil ich sie selbst bin. Vielleicht erscheint diese Aussage vor den Hintergrund obiger Ausführungen nicht mehr ganz so befremdlich.

Was meint ihr, liebe Philosophenkollegen?

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von louisquinze am 30. Jan. 2005, 11:59 Uhr

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Sehr richtig, lb. WuWei, betonen Sie in Ihrer Stellungnahme die vollkommene Willkürlichkeit einer Philosophie (Metaphysik), die auf den Naturwissenschaften und ihren Methoden, als letztem Fundament aufruht. Die Naturwissenschaften vollziehen nämlich eine zweifache Einschränkung ihres jeweiligen Gegenstandes. Einmal schneiden sie sich aus einem bestimmten Sachgebiet einen Teil heraus, in einer thematischen Reduktion; zum zweiten betrachten sie den Gegenstand in einer methodischen Abstraktion. Wird diese Vorgehensweise nicht beachtet und unterschlagen, so kann sehr leicht der Eindruck entstehen, die Naturwissenschaften (oder besser empirischen Wissenschaften) erklärten uns die Welt so wie sie an-sich ist.

Allem vorgängig aber ist eine Realität als solche anzusetzen, welche dem philosophischen Denken (dem Geist) schon erschlossen ist.

Etwas technisch gewendet will das besagen: dem Denken muss Sein immer schon erschlossen sein, soll so etwas wie Naturwissenschaft überhaupt möglich sein.

Das Denken ist also die transzendentale Bedingung, d.i. Bedingung der Möglichkeit, der Naturwissenschaft und nicht umgekehrt.

Die Verkehrung dieser These wäre m. E. ein naturalistischer TrugSchluss.

Es grüßt recht freundlich

;-)LOUISXV

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 30. Jan. 2005, 12:18 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

vorweg zu dem Problem des "Dazwischenredens". Dies ist leider unvermeidlich, wenn mehr als zwei Leute an einer Diskussion beteiligt sind. Man kann hier nur an die Teilnehmer appellieren, das eigentliche Thema im Auge zu behalten und darauf zu verzichten, hier Kontroversen auszufechten, die eigentlich nicht zum Thema gehören.

Meine kurze Übersicht zum Stand unserer Diskussion hat sich insofern als nützlich erwiesen, als dabei herausgekommen ist, dass du den Stand anders einschätzt.

Ich hatte geschrieben: Bisher haben wir keine Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit ausgemacht, die ohne Begründung durch Wahrnehmungen als wahr anzusehen sind.

Damit habe ich die an Kant orientierten Beispiele aus der Mathematik, der Geometrie und zur Realität von Raum und Zeit gemeint.

Du bringst jetzt andere Sätze in die Diskussion: "phänomenologische, reflexive Aussagen über die Elemente und Strukturen unserer Erkenntnis"

Für die weitere Diskussion schlage ich vor, dass Du solche Aussagen einmal formulierst, damit wir prüfen können, ob es sich dabei wie du meinst um Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit handelt, die ohne Begründung durch Wahrnehmungen als wahr anzusehen sind. Dabei wird sich am besten klären lassen, ob und inwiefern wir unter den Worten "Wirklichkeit" und "Wahrnehmung" verschiedenes verstehen.

Soweit mein Vorschlag zum weiteren Vorgehen.

Nun zu den Inhalten Deiner Kritik, jedenfalls so weit du mich kritisierst. Für die Thesen anderer wie doc_rudi fühle ich mich nicht zuständig.

Von Deiner Kritik an einem unzulässigen Wechsel der Perspektive zwischen Beobachter und Teilnehmer sowie deiner Kritik an "szientistischen" Positionen fühle ich mich nicht getroffen. Ich habe durchgängig die philosophische Perspektive eingenommen, Kriterien und Methoden der Wahrheitsfindung in Bezug auf die Beschaffenheit unserer Welt zu gewinnen.

Deshalb war ich auch skeptisch als versucht wurde, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gegenständlicher Wahrnehmung einzubeziehen. Denn so wie ich diese Frage bisher verstehe, ist dies eine Frage zur Beschaffenheit der Wirklichkeit (nämlich unserer Sinnesorgane und unseres Nervensystems), und nicht eine Frage zu den Kriterien der Wahrheit solcher Aussagen.

Diese Vermengung von zwei verschiedenen Arten von Fragen, den inhaltlichen real wissenschaftlichen Fragen einerseits und den methodischen Fragen real wissenschaftlicher Erkenntnis andererseits, spiegelt sich deutlich in Deinen abschließenden Fragen: "Sind Perzeptionen denn wirklich "empirische Vorgänge" ? Sind Gedanken empirisch? Ist die Logik ein Zweig der empirischen Psychologie? Geht der Austausch von Argumenten z. B. in einer wissenschaftlichen oder philosophischen Debatte in einer "empirischen" Beschreibung auf?"

Wenn ich etwas sehe, z. B. ein näher kommendes Auto, so ist das ein realer Vorgang. Er wirkt sich auch real aus: Wenn ich ein näher kommendes Auto sehe, überquere ich nicht die Straße sondern bei bestehen. Wenn ich kein Auto sehe, dann gehe ich über die Straße.

Damit ist jedoch in keiner Weise etwas darüber entschieden, ob man diese und andere Wahrnehmungen zur Begründung von Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit heranziehen kann oder muss.

Auch Gedanken sind etwas real Vorhandenes und haben ihre realen Auswirkungen. Wenn meine Gedanken als verschusselter Philosoph beständig um das Wahrheitskriterium kreisen, dann bemerke ich im Bäckerladen nicht, dass ich zu wenig Wechselgeld herausbekommen habe.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass meine Gedanken auch richtig sein müssen.

Aber die Logik ist kein realer Gegenstand, real ist höchstens das Buch oder der Vortrag, in dem sie abgehandelt wird. Kein psychologisches Experiment kann die Gültigkeit einer Schlussregel begründen. Die Regeln der Logik sind methodische Anweisungen, die man beachten muss, wenn man richtige Antworten auf gestellte Fragen finden will. Es sind Normen der Argumentation, die aus diesem Ziel abgeleitet sind. Die Begründung solcher methodischer Normen kann eine Beobachtung tatsächlicher Vorgänge nicht leisten.

Zu Deiner letzten Frage: "Geht der Austausch von Argumenten z. B. in einer wissenschaftlichen oder philosophischen Debatte in einer "empirischen" Beschreibung auf?" Nein, die Beobachtung dessen, was real in einer Diskussion über die Wahrheit einer Behauptung geschieht, kann z. B. nicht die zentrale Frage beantworten, ob ein Diskussionsteilnehmer mit seiner Behauptung Recht oder Unrecht hat.

Wenn jemand in einer Diskussion nicht auf meine Argumente eingeht, sondern anfängt, als Soziologe, Psychoanalytiker, Gehirnforscher, Marxist, Verhaltensforscher oder Evolutionsforscher ÜBER mich zu sprechen und meine Argumente nicht als solche Ernst nimmt, sondern mittels seiner Theorie von einer höheren Warte aus erklärt, warum ich nur so und nicht anders argumentieren kann, dann ist damit der Diskussion die Grundlage entzogen und ich beende die Diskussion.

Grüße an Dich und alle Teilnehmer und Leser von Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 30. Jan. 2005, 12:50 Uhr

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Hallo Eberhard,

das mit dem Dazwischenreden war nicht ernst zu nehmen. Fällt mir nicht ein, jemandem den Mund (die Tastatur) zu verbieten... Und es liegt ja ganz bei mir, worauf ich zuerst antworten will.

:-)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 30. Jan. 2005, 13:32 Uhr

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Hallo WuWei!

Deine Aussagen, die auf eine völlige Entdifferenzierung hinauslaufen, in der dann konsequenter Weise auch gar nichts mehr gesagt werden könnte - denn Sprache besteht aus Unterscheidungen -, sind ALS Aussagen nicht haltbar. Die Tatsache, dass Du Aussagen machst, beweist performativ, dass Du Dich in einer anderen Wirklichkeit befindest als der, über die Du sprichst und in der angeblich Eins Alles ist und Alles Nichts. Die bloße Tatsache, dass Du etwas sagst, beweist, dass es Unterschiede gibt - zwischen Wort und Wort, zwischen Dir und mir usw.

Wenn Du Deine eigenen Worte ernst nehmen würdest, säßest Du irgendwo in der Einöde und schwiegest. Aber nein, Du sprichst. Du scheinst also den Unterschieden - den kleinen, feinen ebenso wie den großen - doch viel Gewicht beizumessen - Du für Dich. Ein Buddhist würde vielleicht sagen: "Du kannst nicht loslassen." Könntest Du loslassen, könntest Du übrigens auch mit vollem Ernst über die vielen Unterschiede mitdiskutieren, Du könntest die Philosophie, die Wissenschaften, die Subjekte und Objekte sein lassen, was sie sind. Du brauchtest nicht immer wieder etwas bloß zu BEHAUPTEN. Aber nein, Du willst uns etwas beweisen...

Aus der Weltsicht, die Du hier in BEGRIFFEN auseinanderlegst, könnte man vielleicht sagen, Du seist eben DESHALB nicht das, worüber Du sprichst, weil Du darüber SPRICHST.

:-)

Gruß

H.

Übrigens bin ich kein Buddhist. Und wenn ich einer wäre, würde ich darüber keine Worte machen. Ich würde es vielleicht nicht einmal wissen.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 30. Jan. 2005, 13:47 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

du weist sehr richtig auf die Paradoxie des Ganzen hin. Aber der Grund, warum du mich immer missverstehst, ist, dass du nicht nachvollziehen kannst, wie Einheit und Vielfalt ein- und dasselbe sein können. Du glaubst immer, es könne nur das eine oder das andere geben. Mit diesem Entweder-Oder-Denken lassen sich meine Beiträge aber nie verstehen.

Ich habe nie gesagt, dass es nur Einheit und keine Vielfalt gebe. Aber die Einheit ist das zugrundeliegende Wesen aller Vielfalt, und die Vielfalt ist die Erscheinungsform dieser Einheit.

In dem Moment, wo ich denke oder schreibe, bin ich im relativen, dann sind da du und ich, völlig richtig. Ich leugne nicht die Individualität, wie du offenbar vermutest. Aber das Absolute ist immer gleichzeitig da. Ich kann es aber natürlich nicht beschreiben, weil jede Beschreibung relativ sein muss.

Das einzige, was ich tun kann, ist, darauf hinzuweisen, dass du selbst dieses Absolute bist, während du meine relativen Aussagen liest.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 30. Jan. 2005, 15:33 Uhr

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Hallo WuWei!

Ich verstehe Dich gar nicht so miss, wie Du wohl denkst. Wenn man sich mal mit Hegels Logik (oder überhaupt dem "Deutschen Idealismus" ) beschäftigt hat, ist einem das Problem mit dem Absoluten und den vielen Unterschieden bekannt.

Das Absolute, wie Du es konzipierst - als das Eine, das allen Unterschieden ZUGRUNDE LIEGT - würde Hegel die "Nacht" nennen, "in der alle Kühe schwarz sind". In diesem unterschiedslosen Absoluten ist viiiiiel Platz, wie in einem schwarzen Loch, das alles aufsaugt, was ihm nahe kommt.

Interessanter wäre es - wenn man denn unbedingt ein Absolutes braucht; aber braucht man es unbedingt? -, das Verhältnis von Unterschied und Identität auszubuchstabieren, d. h. es rational, nachvollziehbar zu artikulieren. Diese Aufgabe hatte sich Hegel in seiner Logik gestellt. Das Problem dabei liegt im "absoluten Wissen", das nur dann absolut genannt zu werden verdient, wenn es die Verhältnisse zwischen Identität und Differenzen VOLLSTÄNDIG artikulieren kann. Und so raffiniert Hegels Lösung auch sein mag - hier hapert es...

Trotzdem finde ich, dass der ANSATZ Hegels vernünftig war, nämlich die Identität IN (und nicht neben oder jenseits) der Differenz zu denken - und das heißt: in diskursiven Begriffen! Nirgends beruft sich Hegel auf "Inuition", "Evidenz", "Erleuchtung", "intellektuelle Anschauung" - also irgendeine Unmittelbarkeit, in der plötzlich alles HIER UND JETZT PRÄSENT "geschaut" werden könnte. Denn damit würde man, nach Hegels aber auch nach meiner bescheidenen Ansicht, das Fach wechseln (nämlich zur religiösen Offenbarung).

Und hier sehe ich auch bei Dir das Problem. Du erkennst selbst das Paradox, von etwas reden zu müssen, das "eigentlich" sprach-transzendent ist. Man muss es letztlich "erleben", man kann es nicht "denken".

Ja, so könnte ich meine Kritik zusammenfassen: Du wechselst unversehens das Fach. Du sprichst eine relgiöse Sprache - obwohl das, so weit ich weiß, gar nicht in Deiner Absicht liegt.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 31. Jan. 2005, 13:24 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

wie gesagt, das Paradoxon in der sprachlichen Vermittlung ist mir wohl bewußt.

Aber das Absolute ist nichts anderes als "ICH", in seiner "tiefsten", nicht objektivierten Form. Und das ist das Problem: dass immer ÜBER das Absolute gesprochen wird. Es ist aber kein Objekt der Erkenntnis, nicht einmal der Wahrnehmung. Es gibt daher kein absolutes Wissen. Die ganzen Philosophien über das "Eine", das "Absolute" sind nichts als elegante intellektuelle Ideen, über die man gepflegt und anspruchsvoll plaudern kann. Nette Unterhaltung, mehr nicht.

Von welchen Fächern sprichst du, die ich angeblich wechsle?

Gibt es verschiedene Wirklichkeiten, eine wissenschaftliche, eine philosophische und eine religiöse? Wozu diese künstlichen Trennungen? Mir geht es allein darum, das Wesen der Wirklichkeit zu erkennen, nicht irgendwelche Fächer zu untersuchen. Ich untersuche einfach, was ist. Die Einteilung in Religion, Wissenschaft oder Philosophie kommt von dir.

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 31. Jan. 2005, 14:16 Uhr

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hallo eberhard,

ich mache dir das kompliment, meine thesen besser als ich selbst zu vertreten ;) ich denke an klarheit kann ich dich nicht sinnvoll ergänzen. insofern beschränke ich meine beiträge (derzeit) auf einige kommentare zu den laufenden beiträgen.

bitte versteh' es nicht falsch - aber ich denke, wenn ich meine position, die sich in vielen punkten mit deiner deckt, wiederhole, ist wenig gewonnen.

- mfg thomas

comments:

 

Quote:hermeneuticus: Erkenntnislogisch gesehen führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass wir keinerlei Form von "Kommunikation" in der Natur beobachten könnten, wenn wir nicht immer schon auf unsere spezifisch menschliche Weise kommunizieren würden.

andersrum wird ein schuh draus. wenn es keine uns vorgängige kommunikative welt gäbe, wäre es uns nicht ermöglicht worden zu kommunizieren. wir leben in einer welt, in der ständig gesprochen wird - was meines erachtens z. B. die frage nach dem "ursprung" der sprache(n) verdunkelt.

 

Quote:" Wie begründest Du, dass es uns möglich ist, Gegenstände wahrzunehmen?"

die frage von eberhard an hermeneuticus greife ich an dieser stelle nocheinmal auf, weil ich denke, dass wenn uns hermeneuticus eine präzise antwort darauf geben wird, kommen wir in unserer eigentlichen diskussion weiter!

 

Quote:gershwin:Die vordarwinistischen Philosophen haben das "Ich" (schlicht ein Zeichen im menschlichen Kommunikationssystem) aufgeplustert zu einer zentralen Entscheidungsinstanz.

und das "ich" hat meines erachtens nach auch seine "berechtigung" ; allerdings weniger erkenntnistheoretisch bedeutsam, als vielmehr wichtig für die motorische steuerung (" körperbewußtsein" ) und koordination von bewegungsabläufen. das "ich" hat nach meiner these seinen ursprung in dem körpergefühl, in der erfahrung seinen körper gezielt zu bewegen.

 

Quote:wuwei:Warum aber in aller Welt höre ich den Klang dann nicht in meinem Kopf, sondern in ca. 20 Meter Entfernung? Oder höre ich den Klang doch in meinem Kopf und das Gehirn erzeugt "künstlich" den Eindruck von 20 Meter Entfernung? Dann aber bleiben die angeblich "realen" 20 Meter eine reine Spekulation

das ist eine etwas zu simple auffassung von wahrnehmung. hier versuchst du eine metapher zu widerlegen, was sich in meinen augen recht seltsam ausnimmt. richtigerweise müßtest du sagen:

»ich höre einen klang, und vermute ihn im umkreis von 20m«. du hörst ja nicht den klang in der weise, wie er am ort seiner entstehung "klingt", sondern, dasjenige, was dein ohr erreicht, läßt dich vermuten, dass die quelle 20m weit entfernt ist.

 

Quote:Woher kommt das? Ich vermute, wenn die Wahrnehmung so gut wie jedes Menschen in frühester Kindheit dergestalt konditioniert wird, dass er sich selbst als Ding sieht, das anderen Dingen gegenübersteht, also von ihnen getrennt ist,

dann werden auch sämtliche Wahrnehmungstheorien eben unter dem Eindruck einer konditionierten Wahrnehmung entstehen.

gut, soweit die these einer konditionierung. aber wo bleibt ihre begründung? wer konditioniert hier wen, und vorallem mit welchen methoden?

 

Quote:louis:Einmal schneiden sie sich aus einem bestimmten Sachgebiet einen Teil heraus, in einer thematischen Reduktion; zum zweiten betrachten sie den Gegenstand in einer methodischen Abstraktion.

hier liegt meines erachtens eine falsche vorstellung von "reduktionismus" zugrunde. reduktionismus kann auf zweierlei verstanden werden, zum einen, dass von zwei sachen eine bei erklärungen außen vor gelassen wird - das widerspricht meiner vorstellung wissenschaftlicher reduktion; die zweite art der reduktion ist die, so wie ich das wissenschaftliche vorgehen verstehe, der erklärung "natürlicher vorgänge" durch eine top-down/bottom-up methode.

für die "wahrnehmungspsychologie" bedeutet das, dass man zwischen drei ebenen unterscheidet:

I) der physiologischen ebene der reizverarbeitung

II) der psychophysichen ebene

III) der kognitiven verarbeitungsebene

wobei sich dort z. B. abzeichnet, dass bisher keine vollständige reduktion erfolgen kann.

reduktion in dem sinne ist die erklärung von phänomenen höherer ordnung durch solche niedrigerer ordnung.

... that's all 4 n0w

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 31. Jan. 2005, 14:51 Uhr

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Hallo WuWei!

 

Quote:Ich untersuche einfach, was ist. Die Einteilung in Religion, Wissenschaft oder Philosophie kommt von dir.

Wir alle untersuchen einfach, was ist. Aber da wir darüber vielfach unterschiedlicher Ansicht sind, fragt sich, welche dieser Ansichten zutrifft. Behaupten kann man viel. Besonders dann, wenn man kritische Einwände regelmäßig mit dem Hinweis kontert, man sei nicht wirklich verstanden worden, es doch alles ganz anders gemeint.

Muster:

" Es ist alles EINS (=Ich)." - Auf den Hinweis, dass zu dieser Behauptung Unterschiede nötig seien: "Klar, es gibt SELBSTVERSTÄNDLICH Unterschiede, wer wollte das leugnen?? Aber EIGENTLICH gibt es sie doch nicht."

Ich will Dich gar nicht unbedingt auf die logische Regel der Widerspruchsfreiheit festnageln - wenn Du mir wenigstens zeigen könntest, dass es NOTWENDIG ist, in solchen Widersprüchen zu denken. Dann ließe sich Dein Gedankengang nachvollziehen, d. h. dann wäre er rational. Dann wäre er auch mehr als eine persönliche Ansichtssache, die man auch achselzuckend übergehen könnte. (Denn natürlich darfst Du die Dinge sehen, wie Du magst.)

Was die Unterscheidung zwischen Religion und Wissenschaft angeht, so ist sie weder von mir noch eine reine Ansichtssache. Philosophie und Wissenschaft zeichnen sich - im Fall des Gelingens zumindest - eben durch eine nachvollziehbare Argumentation aus. Religiöse Offenbarung kommt dagegen ohne aus. Und nicht selten nehmen sich Glaubensinhalte ja gerade durch Paradoxien von der "gewöhnlichen Vernunft" aus.

 

Du beanspruchst ebenfalls eine Ausnahme von der "gewöhnlichen Vernunft", und zwar mit der Begründung, dass sie gar nicht verstehen könne, "was ist".

Nun fragt sich, was Du willst. Wenn Du eine esoterische Lehre für wenige Eingeweihte verbreiten willst, ok. Dann sage ich z. B. "Danke, nein." Wenn Du aber als Kritiker von der "gewöhnlichen Vernunft" ernst genommen werden willst, wirst Du einen nachvollziehbaren Weg zu Deinen Einsichten zeigen, d. h. Dich doch wohl auf rationale Normen einlassen müssen.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 31. Jan. 2005, 17:00 Uhr

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Hallo thomas j., hallo Eberhart,

ZITAT:

" hermeneuticus: Erkenntnislogisch gesehen führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass wir keinerlei Form von "Kommunikation" in der Natur beobachten könnten, wenn wir nicht immer schon auf unsere spezifisch menschliche Weise kommunizieren würden.

andersrum wird ein schuh draus. wenn es keine uns vorgängige kommunikative welt gäbe, wäre es uns nicht ermöglicht worden zu kommunizieren. wir leben in einer welt, in der ständig gesprochen wird - was meines erachtens z. B. die frage nach dem "ursprung" der sprache(n) verdunkelt."

 

Wenn von Kommunikation gesprochen wird ist doch das entscheidende worauf es in unserem Diskussionszusammenhang ankommt die BEDEUTUNG der Symbole, Zeichen oder Worte. Diese BEDEUTUNG wird zweifelsohne erlernt. Es zweifelt, so glaube ich, keiner daran, dass dieser Prozess des lernens teilweise sinnvoll erklärt werden kann. (siehe Piaget u.a.) Es zweifelt auch keiner daran, das in der Gestaltpsychologie oder in der Verhaltensforschung plausible Erklärungen darüber abgegeben werden wie sich der jeweilige Gegenstand der Untersuchung wann, wie und wo darstellt. Das Ganze zielt auf die Voraussagbarkeit und damit auf die Reproduzierbarkeit der beobachteten Verhältnisse ab.

Damit ist aber noch überhaupt nicht klar wie es dazu kommt, das wir Zeichen, Symbole oder Worte als Repräsentanten eines Bezeichneten, Symbolisierten oder Benannten, (Sache oder Begriff) im Denken "handhaben" können. Aber abgesehen von allen Referenztheorien müsste man fragen; wie kommt der Sinn in den Begriff? wie wird die Information in-formiert?

Es gibt aber nichts in der Welt bei dem ich genau dies als externer Beobachter beobachten kann. Wenn ich, wie oben, Sprachspiele beobachte und beschreibe, dann liegt das was ich beobachten will temporal immer vor dem Sprechakt oder Hinweis. Alle Teilnehmer sind begabt mit der "Kenntnis" von Bedeutung und mit der Fähigkeit richtige und falsche Bedeutung von Sätzen zu UNTERSCHEIDEN. Wobei wir wieder bei der Wahrheit wären.

Grüße

Dyade

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 31. Jan. 2005, 17:14 Uhr

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Hallo Thomas, hallo Eberhard!

Quote:" Wie begründest Du, dass es uns möglich ist, Gegenstände wahrzunehmen?"

die frage von eberhard an hermeneuticus greife ich an dieser stelle nocheinmal auf, weil ich denke, dass wenn uns hermeneuticus eine präzise antwort darauf geben wird, kommen wir in unserer eigentlichen diskussion weiter!

Wir WÄREN schon längst weiter, wenn Ihr Argumente, die ich bereits zwischen einem und einem dutzend Mal gesagt habe, a) zur Kenntnis nehmen und b) im Gedächtnis behalten würdet.

Aber sei's drum. Ich will eine knappe Antwort geben. Vielleicht mache ich mir auch mal die Mühe, all die früheren Beitrage aus Wahrheit I - V aufzulisten, in denen ich bereits Ähnliches geschrieben habe...

:-)

- - - - - - -

Eine Wahrnehmung ist eine bereits verstandene (organisierte, "verarbeitete" ) Sinnesempfindung.

Was ist an dieser Verarbeitung beteiligt? Die Sinnesorgane, das Gehirn mit seinen verschiedenen Zentren einschließlich des Gedächtnisses und der Sprache...

Denn ein so und so beschaffener Sinnesreiz oder ein "Reizmuster" lässt sich meist auf verschiedene Weisen interpretieren. So kann z. B. dieses Reizmuster auf der Netzhaut

_______________

eine Linie auf einem Blatt Papier sein oder die Projektion eines Blattes Papier in der Seitenansicht. Darum sind Sinnesreize allein nicht eindeutig bestimmten Gegenständen zuzuordnen. Um aus den immer wechselnden Sinnesreizen - z. B. den vielen verzerrten und zweidimensionalen Projektionsflächen, die unsere Netzhäute von einem Würfel empfangen, wenn wir ihn in der Hand drehen - einen BESTIMMTEN dreidimensionalen GEGENSTAND zu gewinnen, ist eine "konstruktive" Leistung nötig. Und offenkundig sind an dieser Leistung verschiedene "Instanzen" beteiligt. So wird diese komplexe Arbeit z. B. ganz erheblich durch Vorwissen abgekürzt: Habe ich schon einmal einen Würfel gesehen und weiß, welchen Gebrauch man davon macht, werde ich auch sein Erscheinungsbild schneller erfassen und ALS Würfel (re-)identifizieren. Und als Erwachsene werden wir eher selten mit Sinnesreizen konfrontiert, die wir nicht schon aus der Erfahrung kennten, die also nicht schon "vorsortiert" und als Muster "abgespeichert" wären.

Hier ist daran zu erinnern, dass, wenn man vom "Gehirn" spricht, damit nicht nur einfach das naturgegebene, materielle Objekt gemeint ist, sondern z. B. auch seine Funktion als Wissensspeicher. Wie man weiß, ist das Gehirn in der Weise "plastisch", dass Lernvorgänge sich in seiner materiellen Struktur niederschlagen. Lernt z. B. ein Mensch ein Musikinstrument spielen, hat das messbare "kausale" Effekte auf die Beschaffenheit seines Gehirns (z. B. auf das Volumen) und seiner Funktionen. - Aus diesem Grund kann auch unser sinnliches Wahrnehmen nicht als eine Einbahnstraße der schieren Reizaufnahme und -bündelung verstanden werden. Wie Verena schon sagte, müssen wir das Wahrnehmen ERLERNEN.

Und das gilt natürlich besonders für das Wahrnehmen BESTIMMTER GEGENSTÄNDE (danach hat ja Eberhard gefragt). Einen Kugelschreiber werde ich nur dann ALS genau diesen Gegenstand wahrnehmen können, wenn ich schon weiß, WAS FÜR EIN GEGENSTAND ein Kugelschreiber ist. Hier kommen also Begriffe ins Spiel, die, wie wir wissen, keine Eigennamen für Individuen sind, sondern so und so definierte KLASSEN von Gegenständen bezeichnen. Ohne solche Begriffe könnte ich angesichts eines Dings vor mir nur so etwas sagen wie "hier jetzt dies da" oder "hier etwas". Aber sobald ich "dies da" näher spezifizieren will, brauche ich einen Begriff.

Zwar ist das Wahrnehmen von etwas nicht dasselbe wie das sprachliche Bestimmen. Aber wir düfen wohl voraussetzen, dass eine dauernde Wechselwirkung zwischen Sprache und Wahrnehmung bei uns stattfindet. Die Sprache ist für unsere Lebensbewältigung so fundamental, dass sie gewissermaßen die ganze Welt, in der wir uns - auf orientierte Weise - bewegen, bis in die Poren durchdringt. Unsere Welt ist durch Sprache "erschlossen" - aus dem einfachen Grund, dass die Lernprozesse, durch die wir in die Welt hineinwachsen, immer auch mit Sprache verbunden sind. Dank der Einsicht in die ungeheure Plastizität unseres Gehirns sollte diese enge Verwobenheit unserer wahrnehmbaren Welt mit der Sprache auch grundsätzlich kein Mysterium mehr sein.

 

Dies ist nur eine ganz knappe Andeutung, die vielfältig verfeinert werden müsste (und könnte). Aber vielleicht ist klar geworden, worauf ich hinaus will: "Wahrnehmung" ist - bei uns Menschen - kein reiner Naturvorgang. Gewiss hat sie ihre natürlichen (organismischen) Voraussetzungen, aber da wir von MENSCHLICHER Wahrnehmung sprechen - genauer: von der Art und Weise, wie WIR GEGENSTÄNDE wahrnehmen -, erschöpft sie sich bei weitem nicht in diesen. Es kommen weitere, und zwar ERLERNTE "Bedingungen ihrer Möglichkeit" hinzu.

Worauf es mir aber vor allem ankommt: Es wäre verfehlt, unsere Wahrnehmung dadurch zu einem gewissermaßen neutralen, jeder Diskussion und Interpretation entzogenen Medium der "objektiven Weltabbildung" machen zu wollen, dass man sie als einen reinen (womöglich determinierten) Naturvorgang begreift. Dies wäre nur möglich, wenn Wahrnehmungen dasselbe wären wie Sinnesreize.

Aber sie sind eben nicht dasselbe.

Um diesen Unterschied zwischen Sinnesreiz und Wahrnehmung zu betonen, möchte ich einige Zitate des Gestaltpsychologen Rudolf Arnheim anfügen (aus: "Kunst und Sehen", Berlin/New York 1978).

 

Quote:Diese Beschreibung der physiologischen Funktionsabläufe könnte zu dem Schluss verleiten, dass die entsprechenden Prozesse der Formwahrnehmung fast ganz passiv sind und vom Registrieren der kleinsten Elemente zum Zusammensetzen größerer Einheiten linear fortschreitet. Beide Annahmen sind irreführend.

(S.46)

Die Versuchsergebnisse verlangten eine vollkommene Kehrtwendung in der Wahrnehmungstheorie: Es schien nicht mehr möglich, sich das Sehen als einen Prozess vorzustellen, der vom Besonderen zum Allgemeinen geht. Im Gegenteil, es wurde offensichtlich, dass Merkmale der Gesamtstruktur die primären Erfahrungswerte der Wahrnehmung sind, so dass die Dreieckigkeit kein spätes Produkt einer verstandesmäßigen Abstraktion ist, sondern vielmehr eine unmittelbare Erfahrung, elementarer als das Aufzeichnen einzelner Details. Das kleine Kind sieht "Hundheit", bevor es fähig ist, zwei Hunde voneinander zu unterscheiden.

(s.48)

Die Merkmale der Gesamtstruktur, auf der das Wahrnehmungserlebnis beruhen soll, werden offensichtlich nicht eindeutig von einer ganz bestimmten Reizstruktur geliefert. Wenn beispielsweise ein menschlicher Kopf - oder eine Reihe von Köpfen - als rund angesehen wird, dann ist Rundheit nicht ein Teil des Reizes. Jeder Kopf hat seinen bestimmten komplizierten Umriss, der sich der Rundheit annähert. Wenn diese Rundheit nicht verstandesmäßig erschlossen, sondern tatsächlich gesehen wird, wie gelangt sie dann in das Wahrnehmungserlebnis? Eine einleuchtende Antwort wäre, dass die Reizkonfiguration in den Wahrnehmungsprozess nur insofern eingreift, als sie im Gehirn ein ganz bestimmtes Muster von allgemeinen Sinneskategorien belebt. Dieses Muster "steht für" die Wahrnehmungsreize, genau so wie in der wissenschaftlichen Beschreibung ein Netz aus allgemeinen Begriffen für ein beobachtetes Phänomen steht.

(S.48f.)

Das Sehen setzt sich mit dem Rohmaterial der Erfahrung dadurch auseinander, dass es ein entsprechendes Muster aus allgemeinen Formen schafft, die nicht nur auf den gegebenen Einzelfall anwendbar sind, sondern auch auf eine unbestimmte Zahl andererähnlich gelagerter Fälle.

(S.49)

Diese Zitate scheinen mir eine durch Experimente erhärtete Bestätigung für Kants Annahme zu sein, dass unsere sinnliche Wahrnehmung durch allgemeine, konstruktive Formen mitbedingt (" konstitutiert" ) wird, die nicht "empirisch gegeben" sind, sondern erst MÖGLICH machen, dass uns überhaupt ETWAS - und zwar jeweils ein BESTIMMTES Etwas "gegeben" ist. WIE Kant sich diese Konstitutionsleistung im einzelnen vorgestellt hat, mag historisch überholt und revisionsbedürftig sein; das zeigt etwa auch die Frage nach der Euklidizität des Raumes in der modernen Physik. Aber DASS er prinzipiell etwas Richtiges gesehen hat, halte ich für offensichtlich.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 31. Jan. 2005, 21:26 Uhr

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Hi Dy!

 

Mir gefällt Dein letzter Beitrag (natürlich). :-)

Aber ich fände es interessant, wenn Du den zweiten Abschnitt noch etwas näher erläutern würdest. Ich meine diesen hier:

 

Quote:Damit ist aber noch überhaupt nicht klar wie es dazu kommt, das wir Zeichen, Symbole oder Worte als Repräsentanten eines Bezeichneten, Symbolisierten oder Benannten, (Sache oder Begriff) im Denken "handhaben" können. Aber abgesehen von allen Referenztheorien müsste man fragen; wie kommt der Sinn in den Begriff? wie wird die Information in-formiert?

Deine Frage lässt mich vermuten, dass Du schon ein gewisses Vorverständnis von der möglichen Antwort hast... ;-)

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 31. Jan. 2005, 21:44 Uhr

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[smiley=balloons.gif]

[smiley=applaus.gif] [smiley=applaus.gif] [smiley=applaus.gif]

Tataaaa! Schnätterä-täng!!!

[smiley=chor.gif] [smiley=drummer.gif] [smiley=figuren048.gif][smiley=chor.gif]

 

Vertieft in die "Sache selbst" - typisch Philosoph! - hab ich das Schönste mal wieder verpasst!! Ich bin ja schon seit vier Beiträgen V.I.P.!!!!!!

[smiley=luxhello.gif] [smiley=pokal.gif]

Für die vielen Gratulationen und Aufmerksamkeiten:

[smiley=danke.gif]

Gruß

H.

[grin]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 31. Jan. 2005, 21:46 Uhr

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PS. Übrigens sind Smileys ein schönes Beispiel für die Gestaltwahrnehmung...

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 31. Jan. 2005, 22:24 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

herzlichen Glückwunsch auch von mir! Auf dass du an Weisheit und Gewicht (meinungsmäßig natürlich) zunimmst!

http://www.i-net-publishing.de/images/Sekt1.jpg

Gruß, Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 31. Jan. 2005, 22:45 Uhr

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Hallo Wuwei,

auch wenn Dein Weltverständnis nicht direkt unsere Fragen tangiert, will ich dazu kurz Stellung nehmen.

Wenn ich sage:

" Ich sehe vor mir in 20 Meter Entfernung einen Vogel" und erkläre diese Wahrnehmung in Begriffen der Physik, Physiologie und Psychologie, dann widersprichst Du und sagst:

" Nein, Du siehst keinen Vogel sondern nur das Bild eines Vogels. Du hast noch nie einen Vogel gesehen."

Sollte dies Deine Position sein, dann kann ich dazu nur feststellen, dass Du das Wort "sehen" unkonventionell um nicht zu sagen: falsch gebrauchst. "Etwas sehen" bedeutet "etwas mit den Augen optisch wahrnehmen".

Wenn der Vater bei einem nächtlichen Spaziergang zum Himmel zeigt und zu seinem Kind sagt:

" Dort ist der Mond! Kannst du ihn sehen?" und das Kind antwortet:

" Ja, ich sehe den Mond. Er ist heute ganz rund", bringt der Vater dem Kind dann falsches Deutsch bei? Müsste er richtig sagen: "Kannst du das BILD des Mondes sehen?"

Nein, dafür gibt es keinen Grund, denn was er sagt, ist klar und verständlich.

Wenn ich mit dem Fotoapparat den Kölner Dom fotografiere, dann erzeugt mein Fotoapparat ein Bild vom Kölner Dom und nicht ein Bild vom Bild des Kölner Doms.

In derselben Weise sehe ich den Kölner Dom und nicht ein Bild des Kölner Doms, auch wenn meine optische Wahrnehmung dabei über eine Abbildung des Kölner Doms auf meiner Netzhaut erfolgt.

Und wenn das Radargerät einen fünf Kilometer entfernten Hubschrauber erfasst, dann wäre es in ähnlicher Weise ein unüblicher bzw. falscher Gebrauch der Sprache, wenn ich den Fluglotsen frage: "Wo hat das Radargerät den Hubschrauber geortet?" und er antwortet: "Direkt im Gerät, denn dort findet die Ortung ja statt."

Sprachverwirrung ist eines der größten Hindernisse des Denkens. Man sollte sie nicht noch bewusst fördern

meint Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 01. Feb. 2005, 00:20 Uhr

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und da wir Herms VIP feiern und schon jede Menge Schampus gesoffen haben... auch die Bilder werden gelöster, die "Bilder vom Denken" wie Deleuze sie nannte ...

[applause]

" Wenn ich mit dem Fotoapparat den Kölner Dom fotografiere, dann erzeugt mein Fotoapparat ein Bild vom Kölner Dom und nicht ein Bild vom Bild des Kölner Doms."

Nein, das Bild vom Bild des Kölner Doms steckt in deinem "Kopf" Eberhard (Achtung!! Kopf als Metapher). Trotz Schampus... Jeder Gegenstand, sobald wir auf das Erkennen achten, oder ob Vater oder Sohn wahrnehmen ist egal, ist schon im Bewusstsein. Solchermaßen nehmen wir Einsicht, nicht nur in den Hals der Flasche Schampus, nein, sondern in die Immanenz des Bewusstseins. Gegen die abstruse Theorie von gershwin, prost in seine Richtung[girl], es handele sich um den Egozentrismus (auch Icherei genannt[spin] ) spricht, das damit überhaupt nicht gesagt wird das "im Bewusstsein" auch gleich eine Kontrolle der Wahrnehmung erreicht wird. Im Gegenteil, wir haben nicht die Freiheit zu entscheiden ob wir wahrnehmen oder nicht[poke]. Da herrscht Determination, factum brutum sosusagen nicht zu verwechseln mit dem Brut vom Schampus.

Prost

Dy [dali]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 01. Feb. 2005, 01:15 Uhr

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hallo alle miteinand'

auch von mir herzlichen glückwunsch zu unserer neuen very important person hermeneuticus.

ich fange zunächsteinmal -meiner liebsten gewohnheit treu- von hinten an:

 

Quote:dyade:Nein, das Bild vom Bild des Kölner Doms steckt in deinem "Kopf" Eberhard (Achtung!! Kopf als Metapher). Trotz Schampus... Jeder Gegenstand, sobald wir auf das Erkennen achten, oder ob Vater oder Sohn wahrnehmen ist egal, ist schon im Bewusstsein. Solchermaßen nehmen wir Einsicht, nicht nur in den Hals der Flasche Schampus, nein, sondern in die Immanenz des Bewusstseins.

das bild steckt im "kopf" ?

egal wie metaphorisch man diesen satz auch verstehen mag, so ist er schlichtweg falsch. das liegt wohl daran, dass nachwievor das bild, bzw. die metapher vorherrschend ist, unser gehirn arbeite nach dem prinzip einer projektionsfläche. das trifft so nicht zu. im kopf findet lediglich eine art auswertung des bildes vom kölner dom statt - während das bild nachwievor an ort und stelle verbleibt. das, was sich in unserem gehirn abspielt hat nicht im entferntesten etwas mit einem (ab-)bild zu tun.

nun zu hermeneuticus:

 

Quote:Eine Wahrnehmung ist eine bereits verstandene (organisierte, "verarbeitete" ) Sinnesempfindung.

schon an dieser stelle sprechen wir schon scheinbar verschiedene sprachen. an der stelle, wo du von wahrnehmung sprichst, spreche ich von kognition.

die wahrnehmung ist noch nicht das organisierte "ganze" der kognition.

 

Quote:Denn ein so und so beschaffener Sinnesreiz oder ein "Reizmuster" lässt sich meist auf verschiedene Weisen interpretieren. So kann z. B. dieses Reizmuster auf der Netzhaut

_______________

eine Linie auf einem Blatt Papier sein oder die Projektion eines Blattes Papier in der Seitenansicht. Darum sind Sinnesreize allein nicht eindeutig bestimmten Gegenständen zuzuordnen.

cave!

wir dürfen nicht vergessen, dass wir es in deinem beispiel mit einem speziellen anwendungsfall von wahrnehmung/kognition zu tun haben, die eher in den bereich der symbolischen kommunikation anzusiedeln ist. dass das, was du uns hier präsentierst einer projektionsvorschrift genügt, bzw. entspricht, beruht auf konventionen, die die lesart des von dir dargestellten regeln. zunächsteinmal handelt es sich um eine schlichte schwarze linie, die als solche auch jederzeit wahrgenommen wird.

 

Quote:Um aus den immer wechselnden Sinnesreizen - z. B. den vielen verzerrten und zweidimensionalen Projektionsflächen, die unsere Netzhäute von einem Würfel empfangen, wenn wir ihn in der Hand drehen - einen BESTIMMTEN dreidimensionalen GEGENSTAND zu gewinnen, ist eine "konstruktive" Leistung nötig.

auch das ist so nur zum teil richtig. die konstruktive leistung ist dabei unumstritten, und ich möchte sie auch nicht in frage stellen; allerdings verleitet diese auffassung dazu wahrnehmung einseitig als konstruktion zu begreifen - was mit nichten der fall ist.

eher läßt sich von einem doppelten vorgang der merkmalsanalyse und der konstruktion sprechen. so analysieren wir quasi die uns umgebende welt, zerlegen sie in ihre einzelheiten und arbeiten diese nach und nach ab. man kann sich den vorgang in etwa so vorstellen:

abbildung des objekts auf der netzhaut=>kanten und elementarmerkmale identifizieren=>elementarmerkmale gruppieren und verarbeiten=>dreidimenionales bild

(in anlehnung an d.marr cf. "algorithmischer ansatz zur erklärung der objektwahrnehmung" )

 

Quote:So wird diese komplexe Arbeit z. B. ganz erheblich durch Vorwissen abgekürzt: Habe ich schon einmal einen Würfel gesehen und weiß, welchen Gebrauch man davon macht, werde ich auch sein Erscheinungsbild schneller erfassen und ALS Würfel (re-)identifizieren.

ich denke, dass wir uns einig sind darüber, dass die kognition durch gedächtnisleistung mitbeeinflußt wird.

 

Quote:Lernt z. B. ein Mensch ein Musikinstrument spielen, hat das messbare "kausale" Effekte auf die Beschaffenheit seines Gehirns (z. B. auf das Volumen)

das ist mir neu. das gehirn wird durch lernen größer? das hört sich mehr nach physiognomischem hokuspokus des 19. jahrhunderts an, als nach seriöser wissenschaft.

 

Quote:aber wir düfen wohl voraussetzen, dass eine dauernde Wechselwirkung zwischen Sprache und Wahrnehmung bei uns stattfindet.

auch hier, denke ich, sind wir einer meinung.

 

Quote:" Wahrnehmung" ist - bei uns Menschen - kein reiner Naturvorgang.

diese konsequemz ziehe ich nicht. im gegenteil handelt es sich bei der wahrnehmung um einen naturvorgang wie alle anderen auch (essen, tinken, verdauen etc.). auch wenn die komplexität durchaus höher ist, als bei den vorgenannten. und als naturvorgang ist wahrnehmung auch beschreibbar; man kann die mechanismen die daran beteiligt sind, erforschen.

 

allerdings -wenn wir die konstruktive leistung des bewußtseins, so wie du sie uns nahelegst, berücksichtigen- wird mir noch nicht klar, warum wir bei der beantwortung der frage nach der wahrheit resp. wirklichkeit nicht auf unsere (wenn auch nach deiner vorstellung getrübten) empirik zurückgreifen können (dürfen).

wenn ich auf dein beispiel mit der schwarzen linie zurückkommen darf: weshalb soll die frage danach, ob das, was dort abgebildet ist, eine projektion eines blattes papiers sei, nicht entscheidbar sein? unter berücksichtigung der projektionsgesetze läßt sich die frage bejahen oder verneinen. ebenso die frage: siehst du dort diese schwarze linie?

was bringen uns deine einwände für unsere diskussion, bzw. sind es überhaupt relevante einwände?

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 01. Feb. 2005, 08:24 Uhr

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Hallo Thomas!

[grin]

Mir war völlig klar, dass der Rückgriff auf die Gestaltpsychologie an unserer Kontroverse nichts ändern würde.

Aber frag Dich doch mal, wieso mir das überhaupt im voraus so klar sein KONNTE, und das, obwohl Du derjenige warst, der die Gestaltpsychologie als Zeugen berufen hat...

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 01. Feb. 2005, 09:36 Uhr

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hallo hermeneuticus,

warum dieser unversöhnliche unterton?

wenn ich meinen letzten beitrag durchlese sehe ich dazu kaum anlaß gegeben. vielleicht gefällst du dir in der rolle des »ich bin dagegen!« ;)

nein, aber im ernst.

ich denke, dass wir beide die ergebnisse der gestaltpsychologie akzeptieren, allerdings mit unterschiedlichen konsequenzen. wenn ich dich recht verstehe siehst du in den gestaltgesetzen/gestaltprinzipien das analogon zu kants transzendentalphilosophie - während kant von den apriorischen "anschauungsformen" und dem "logischen schematismus" spricht, handelt die gestaltpsychologie vom "gesetz der guten gestalt", "gesetz der ähnlichkeit", "figur-grund-trennung" etc.

http://www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/WISSENSCHAFTPSYCHOLOGIE/gestaltggesetze.gif

meine auslegung weicht dahingehend von deiner ab, dass ich in den gestaltgesetzen zwar grundmuster unserer wahrnehmung anerkenne, die aber dennoch auf strukturen in der organisation der wirklichkeit rückführbar sind.

dieser punkt ist der wunde punkt sowohl in deiner argumentation, als auch in der kant'schen transzendentalphilosophie (nach meinem verständnis): weil bei aller konstruktion offenbleibt, wie das ewig ferne ding an sich einfluß auf unsere wahrnehmung haben kann. wenn es keinen einfluß hat, warum dann ein ding an sich postulieren?

diese inkonsequenz hat wohl auch fichte erkannt, der sein tatkräftiges ich sich nicht nur selbst setzen ließ, sondern die logik (zurück) in die ontologie holte, und durch die negation das ich sich gleich ein nicht-ich entgegengesetzen ließ.

wenn das uns phänomenal zugängliche objekt ausschließlich unsere eigene konstruktion sein sollte - warum sich überhaupt mit dem ding an sich beschäftigen?

schuldig geblieben bist du uns eine antwort auf die fragen aus dem letzten absatz meines vorigen beitrags: inwieweit sind deine einwände relevant für die frage nach der wahrheit von aussagen?

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 01. Feb. 2005, 09:37 Uhr

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Hi Thomas,

nur kurz, es geht überhaupt nicht um die Beobachtung eines Naturereignisses (Kölner Dom) und um dessen Beschreibung. Wenn ich von Wahnehmung spreche im Zusammenhang mit erkennen, dann habe ich bereits von der Art der Fragestellung her die Aufmerksamkeit von "dem realen Ding da draußen" abgezogen. Mensch das ist doch so klar wie Klosbrühe! :-) :-)

Dy

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 01. Feb. 2005, 10:22 Uhr

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hallo dy,

vielleicht bin ich ja auch schwer von begriff %)

also nochmal für alle zum mitschreiben:

wenn ich ein photo betrachte, sehe ich dann ein bild/photo von einem gegenstand, oder sehe ich ein bild von einem bild/photo? besteht meine wahrnehmung im bild vom bild/photo?

Quote:Wenn ich von Wahnehmung spreche im Zusammenhang mit erkennen, dann habe ich bereits von der Art der Fragestellung her die Aufmerksamkeit von "dem realen Ding da draußen" abgezogen. Mensch das ist doch so klar wie Klosbrühe!

wenn ich einen kugelschreiber als kugelschreiber erkenne, habe ich dann den kugelschreiber wahrgenommen oder nicht?

du siehst mich vollkommen verwirrt [???]

mir scheint diese phänomenologische differenzierung zu subtil, als dass ich sie verstehen könnte ...

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 01. Feb. 2005, 12:35 Uhr

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Hallo Eberhard,

wir hatten diese Diskussion schon. Bei eurem Verständnis von Wahrnehmung (um euch mal über einen Kamm zu scheren, sorry!), MUSST du einfach zwischen einem realen (aber nur angenommenen) Vogel und dem Bild eines Vogels unterscheiden. Wenn du glaubst, dass du bzw. dein Bewusstsein hier im Kopf ist, und der Vogel da draußen, dann musst du zwischen einem angenommenen objektiven und einem subjektiv wahrgenommenen Bild eines Vogels unterscheiden. Und diese gedankliche Trennung vollziehen hier alle, auch wenn sie sich im Detail unterscheiden. Meiner Ansicht nach ist "unser" Bewusstsein weder innen noch außen, sondern genau dort, wo wir wahrnehmen. Und deshalb sind die Dinge auch nicht außerhalb unseres Bewusstseins. Es könnte sonst überhaupt keine Wahrnehmung stattfinden.

Insofern ist deine Aussage auch falsch:

" In derselben Weise sehe ich den Kölner Dom und nicht ein Bild des Kölner Doms, auch wenn meine optische Wahrnehmung dabei über eine Abbildung des Kölner Doms auf meiner Netzhaut erfolgt."

Wie könnte der Kölner Dom denn in "dein" Bewusstsein dringen, wenn nicht als Bild?

Und wie kommt dieses Bild wieder dorthin, wo du es siehst? Tut mir leid, aber das ist ein eklatanter Widerspruch. Wem dies nicht auffällt, dem ist nicht zu "helfen".

Du schreibst:

" Wenn ich mit dem Fotoapparat den Kölner Dom fotografiere, dann erzeugt mein Fotoapparat ein Bild vom Kölner Dom und nicht ein Bild vom Bild des Kölner Doms."

Was denn sonst? Und was du betrachtest, wäre euer Logik nach sogar das Bild eines Bildes vom Bild des Kölner Doms. Wie wollte denn das Bild – also das Foto – in dein Bewusstsein dringen, wenn nicht als Bild (eines Bildes)?

 

Da ich diese Trennung zwischen innen und außen nicht vollziehe, gibt es für mich überhaupt nur dieses Bild eines Kölner Doms. Und weißt du was? Aus Gründen der Einfachheit nenne ich es einfach: Kölner Dom! Ich sage nicht dazu, Bild des Kölner Doms, oder wahrgenommener Kölner Dom. Insofern kann ich mit dir ohne Probleme über den Kölner Dom sprechen, auch wenn du von einem objektiven realen Dom ausgehst, und ich von einer Wahrnehmung eines Domes. Lustig, was?

 

Hallo Thomas jacobo,

du schreibst:

"

das bild steckt im "kopf" ?

egal wie metaphorisch man diesen satz auch verstehen mag, so ist er schlichtweg falsch. das liegt wohl daran, dass nachwievor das bild, bzw. die metapher vorherrschend ist, unser gehirn arbeite nach dem prinzip einer projektionsfläche. das trifft so nicht zu. im kopf findet lediglich eine art auswertung des bildes vom kölner dom statt - während das bild nachwievor an ort und stelle verbleibt. das, was sich in unserem gehirn abspielt hat nicht im entferntesten etwas mit einem (ab-)bild zu tun."

Du sagst, im Kopf finde eine Art Auswertung des Bildes vom Kölner Dom statt. Gut, aber wie kann das Gehirn etwas auswerten, dass doch "dort" ist, also außerhalb von ihm?

Also muss das Bild doch irgendwie in das Gehirn gekommen sein, oder nicht? Irgendetwas muss doch ins Gehirn gekommen sein, damit dort eine Auswertung stattfinden kann.

Und wie kommt es wieder heraus? Die Frage bleibt.

Wenn du einen Kugelschreiber siehst, siehst du das "geistige" Bild eines Kugelschreibers. Das ist der einzige Kugelschreiber, den es gibt.

Du schreibst:

" richtigerweise müßtest du sagen: »ich höre einen klang, und vermute ihn im umkreis von 20m«. du hörst ja nicht den klang in der weise, wie er am ort seiner entstehung "klingt", sondern, dasjenige, was dein ohr erreicht, läßt dich vermuten, dass die quelle 20m weit entfernt ist."

Wie klingt ein Klang, bevor du ihn gehört hast? Es gibt nur einen gehörten Klang, genauso wie es auch nur gesehene Farben gibt (lernt man übrigens schon als Florist in der Berufsschule). Aber selbst wenn es schon "dort" einen Klang gäbe: du verwechselst etwas. dass es 20m Entfernung sind, ist eine Vermutung, richtig. Aber dass ich den Klang nicht im Kopf, sondern irgendwo "dort" höre, ist keine Vermutung. Wenn ich den Klang nicht dort hören würde, käme ich gar nicht darauf, eine Entfernung von 20m zu vermuten.

Was die Konditionierung angeht: die geschieht einfach, zumeist in frühester Kindheit. Das Subjekt, das du bist, objektiviert sich. Man könnte es auch als Entwicklung des Ichs bezeichnen. Zuvor BIST du die Welt, die du wahrnimmst, du empfindest dich nicht als getrennt von den Dingen. Bitte versuche das zu verstehen vor dem Hintergrund meiner obigen Aussagen, dass das Bewusstsein nicht hier im Kopf ist, sondern dort, wo wahrgenommen wird. Als Körper bist du natürlich getrennt von den Dingen. Aber wer nimmt deinen Körper wahr? Du als Subjekt, als Bewusstsein. Als solches umfasst du alle wahrgenommenen Dinge, darunter auch deinen Körper. Der Beobachter, das Subjekt ist nicht ein Ding in der Welt (wie auch Wittgenstein erkannt hat), es ist kein Objekt, daher kann es auch nicht wahrgenommen werden, und es steht nicht anderen Dingen gegenüber. Die Konditionierung besteht darin, dass du als Subjekt dich für ein Objekt hältst, und insofern musst du dich als getrennt von den anderen Dingen empfinden. Und insofern übernimmst du Wahrnehmungstheorien, die von eben dieser Trennung ausgehen. Aber sie beinhalten eklatante Widersprüche, wie ich versuche aufzuzeigen.

Kannst du damit wenigstens ein klein wenig anfangen?

 

Hallo Hermeneuticus,

ich will keine esoterische Lehre verbreiten. Es geht mir auch nicht darum, irgendetwas zu glauben. Ich benutze die Sprache, die mir eben liegt, und versuche durchaus logisch zu argumentieren. Überzeugen kann ich dich natürlich nicht, wenn du nicht willst.

 

Du schreibst:

" Muster:

" Es ist alles EINS (=Ich)." - Auf den Hinweis, dass zu dieser Behauptung Unterschiede nötig seien: "Klar, es gibt SELBSTVERSTÄNDLICH Unterschiede, wer wollte das leugnen?? Aber EIGENTLICH gibt es sie doch nicht."

Ich will Dich gar nicht unbedingt auf die logische Regel der Widerspruchsfreiheit festnageln - wenn Du mir wenigstens zeigen könntest, dass es NOTWENDIG ist, in solchen Widersprüchen zu denken."

Was soll ich anderes sagen, als dass es eben keine Widersprüche sind. Es ist immer nur deine Interpretation, die hier Widersprüche sieht. Wie soll ich dir nahe bringen, dass Einheit und Vielfalt ein- und dasselbe sind?

Vor ein paar Tagen sah ich einen Bericht über eine Schokoladenmesse. Da war ein herrlicher Palast zu sehen, alles aus Schokolade. Türme, Tore, Bauten, Zinnen, Fenster, Erker, eine wunderbare Vielfalt der Formen. Und gleichzeitig Einheit, alles Schokolade.

Wo siehst du hier einen Widerspruch zwischen Einheit und Vielfalt? Ist es nicht ein- und dasselbe? Aber ich fürchte, dieses Beispiel ist dir schon wieder zu simpel.

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 01. Feb. 2005, 13:00 Uhr

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hi wuwei,

 

Quote:Wie könnte der Kölner Dom denn in "dein" Bewusstsein dringen, wenn nicht als Bild?

das hört sich stark nach einem fichte'schen fehlSchluss an. was in deinem bewußtsein ist, wuwei, ist weder der kölner dom, noch ein "bild" davon, sondern die information, die es dir ermöglicht, zu sagen, du sehest den kölner dom.

das repräsentationsverhältnis ist kein direktes abbild-verhältnis.

 

Quote:Du sagst, im Kopf finde eine Art Auswertung des Bildes vom Kölner Dom statt. Gut, aber wie kann das Gehirn etwas auswerten, dass doch "dort" ist, also außerhalb von ihm?

indem es die von den sinnen/nerven codierte information verarbeitet.

 

Quote:Wenn du einen Kugelschreiber siehst, siehst du das "geistige" Bild eines Kugelschreibers. Das ist der einzige Kugelschreiber, den es gibt.

wenn ich einen kugelschreiber sehe, sehe ich einen kugelschreiber, und mein gehirn sagt mir, es sei ein kugelschreiber und nicht meine oma.

was ich letztlich von dem kugelschreiber wahrnehme ist nicht der gesamte kugelschreiber sondern nur einige wesensmerkmale.

 

Quote:Aber dass ich den Klang nicht im Kopf, sondern irgendwo "dort" höre, ist keine Vermutung. Wenn ich den Klang nicht dort hören würde, käme ich gar nicht darauf, eine Entfernung von 20m zu vermuten.

au contraire!

du nimmst den klang mittels deines gehörs wahr, wenn die schallwellen dein trommelfell in schwingungen versetzen. die information, die aus der schallwelle gewonnen werden lassen dich schließen, dass an der und der position in deiner nähe die quelle des klangs zu vermuten ist.

ein beispiel aus der praxis der audiotechnik:

Quote:Stereo to 3D:

QSound's QXpander® can create a 3D audio effect with just two speakers. The QXpander expands the audio signals to create a more realistic sound stage.

Surround to 3D:

Surround sound can also be enhanced by using the QSurround® technology, either using two speakers to create "Virtual Surround" or by adding to a real surround system, no matter how many speakers you have.

http://www.qsound.com/2002/technology/main2.asp

q-sound bietet die möglichkeit 3d sound aus gewöhnlichen stereoboxen zu "zaubern". dabei werden die klänge mittels mathematischer verfahren eigens berechnet, damit sie da (virtuell) zu hören sind, wo man sie plazieren möchte.

 

Quote:Als Körper bist du natürlich getrennt von den Dingen. Aber wer nimmt deinen Körper wahr? Du als Subjekt, als Bewusstsein. Als solches umfasst du alle wahrgenommenen Dinge, darunter auch deinen Körper. Der Beobachter, das Subjekt ist nicht ein Ding in der Welt (wie auch Wittgenstein erkannt hat), es ist kein Objekt, daher kann es auch nicht wahrgenommen werden, und es steht nicht anderen Dingen gegenüber. Die Konditionierung besteht darin, dass du als Subjekt dich für ein Objekt hältst, und insofern musst du dich als getrennt von den anderen Dingen empfinden. Und insofern übernimmst du Wahrnehmungstheorien, die von eben dieser Trennung ausgehen.

da sprichst du ein physiologisches apriori aus, das aber mit nichten zu den von dir genannten konsequenzen führt. das verhältnis, das wir zu den dingen haben könnte man als third-person-view beschreiben, und eine solche view kann man sich selbst gegenüber natürlich nicht einnehmen. wir haben keine stielaugen, die es uns ermöglichten, uns selbst anzusehen. wir sehen uns vermittels unserer augen.

und tatsächlich besitzen wir ein "körperbewußtsein" welches seinen motorischen sinn hat, wie ich weiter oben in einem kommentar zu gershwin geschrieben habe. allerdings ist das, was wir mit "selbstwahrnehmung" benennen weniger mysteriös, als du es uns hier vostellst.

und ich sehe nicht, warum ich nicht ruhigen gewissens sagen können soll, ich sitze auf meinem stuhl vor meinem monitor - also mein monitor befindet sich mir gegenüber. das leuchtet doch schon dadurch ein, dass ich meinen arm nach vorn bewegen kann, um ihn mit einem lappen abzuwischen (eine mögliche konsequenz dessen, dass der monitor vor und nicht irgendwo in mir ist),

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von hel am 01. Feb. 2005, 14:44 Uhr

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Liebe Runde,

ich möchte kurz erörtern, welche unterschiedlichen Auswirkungen

die zwei folgenden Positionen für das Kriterium von wahren Aussagen hat:

 

Position a) (jacopo, eberhard): unsere räumlich-zeitliche Wahrnehmung bietet ein hinreichend korrektes Modell der äußeren Wirklichkeit. Wenn wir sagen, wir sehen vor uns einen Stein, können ihn auch fühlen und ev. heben etc. - dann sprechen wir über einen objektiv in der Wirklichkeit vorhandenen Stein.

Position b) (hermeneuticus,dyade): Raum und Zeit sind Formen unserer Anschauung – eine Konstruktion unseres Gehirns / Bewußtseins. Alles, was uns erscheint, erscheint uns in einem raum-zeitlichen Rahmen. Ob dieser ein reines Konstrukt unseres Gehirns ist, oder auch in Wirklichkeit vorhanden, kann man nicht entscheiden. Das "Ding an sich" erscheint uns zwangsläufig nur in diesem Kontext und ist selbst nicht erkennbar.

Nehmen wir jetzt einfache Existenzaussagen wie: "Auf dem Schreibtisch liegt ein Kugelschreiber". Dann bezieht sich dieser Satz zwangsläufig auf die Welt, wie sie uns erscheint. Um die Wahrheit zu überprüfen, habe ich nur meine 5 Sinne, mit denen ich dies unternehmen kann. Der Satz bezieht sich also auf genau den Rahmen, den uns das Kantsche "Gefängnis" abgesteckt hat und der uns zur Verfügung steht, Dinge zu erkennen.

Und genau innerhalb dieses Rahmens können wir dem Satz auch die Attribute "falsch" oder "wahr" geben. Ob der Kugelschreiber aber auch als "Ding an sich" ein Kugelschreiber ist, liegt auf einer ganz anderen Bezugsebene. Solange wir uns aber auf der (ich nenne es mal) Objektebene befinden, müßte das Wahrheitskriterium für "wahr" und "falsch" für Vertreter beider Positionen identisch sein.

Dies gilt m.E. auch für allgemeine Aussagen wie: "Masse krümmt den Raum." "In Krisenzeiten werden kürzere Röcke wieder modisch." "Alle Bewußtseinszustände haben eine Entsprechung in der Gehirnaktivität." Etc.

Die Wahrheit dieser Sätze ist nicht analytisch nachprüfbar. Wir müssen also z. B. für "Masse krümmt den Raum" irgendwelche Entsprechungen in unserer Wahrnehmungswelt finden. In dem Fall durch die Deduktion, dass, wenn die Theorie wahr ist, dann auch die Bahn masseloser Lichtteilchen in der nähe großer Massen einer Krümmung unterliegen müßte. Dies kann man dann sehen, wenn Sterne eigentlich hinter anderen Massehaufen versteckt sein sollten, auf Grund der Raumkrümmung aber sichtbar sind. Etc.

Eine allgemeine Aussage / Theorie kann also solange als wahr gelten als

a) sie Aussagen über die Welt macht, die immer als zutreffend beobachtet werden können

b) in sich selbst widerspruchsfrei ist

c) nicht mit anderen (auf Grund von a und b) als wahr geltenden Theorien in Widerspruch steht.

Meine These ist, dass alle solchen Aussagen unabhängig von Position a oder b diesen Wahrheitskriterien unterliegen.

Beste Grüße,

hel

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 01. Feb. 2005, 16:39 Uhr

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Hallo Thomas,

Trotz Katerstimmung [cool]...

"... indem es [Gehirn] die von den sinnen/nerven codierte information verarbeitet." (Thomas)

sind dir die Forschungen der Biologen Maturana und Varela geläufig. Diese haben, ich glaube in den 70ern Jahren des letzten Jahrhunderts, am Biological Computer Laboratory in Urbana Illinios NACHGEWIESEN, das keinerlei CODIERUNGEN von den Nerven ans Gehirn gesendet werden. Ein Grund dafür das diese Biologen eine eher konstruktivistische Perspektive einnahmen. Wenn man nur das Signal der biochemischen Übertragung des Reizes ans Gehirn betrachtet kann man einen Hörreiz nicht von einem Tast- oder optischen Reiz unterscheiden. (siehe auch v. GlasersfeldŽs Arbeiten oder v. Foerster) geschweige denn die Farbe Rot von der Farbe Grün bei Übertragungen rein optischer Inputs. Das will ich nur festhalten.

Grüße

Dyade

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 01. Feb. 2005, 18:51 Uhr

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Hallo allerseits,

auch wenn Dyade und wuwei widersprechen, sehe ich keinen Grund, davon abzugehen, dass ich den Kölner Dom gesehen habe, als ich letztes Jahr in Köln war, und nicht das Bild des Kölner Doms. Ich bin sogar um ihn herum gegangen, und hab ihn von verschiedenen Seiten gesehen, ich hab ihn im Sonnenschein und in der Dämmerung gesehen: der Anblick war immer ein anderer (ich hab eine Reihe Fotos gemacht) – aber immer eindrucksvoll.

Ich habe dabei kein Bild des Kölner Doms "in meinem Kopf" oder "in meinem Bewusstsein" gesehen, denn sehen tue ich mit den Augen und mit meinen Augen habe ich bisher "weder in meinen Kopf" noch "in mein Bewusstsein" hineingesehen.

Du fragst: "Wie könnte der Kölner Dom denn in "dein" Bewusstsein dringen, wenn nicht als Bild?

Und wie kommt dieses Bild wieder dorthin, wo du es siehst?"

Wenn ich den Kölner Dom sehe, dann dringt kein Kirchturm in mein Bewusstsein.

Wenn ich den Kölner Dom sehe, so impliziert dies einen visuellen Inhalt meines Bewusstseins, ein "Bild". Ohne diesen visuellen Bewusstseinsinhalt wäre es kein "sehen". Aber ich sehe nicht diesen Bewusstseinsinhalt, dies "Bild", sondern den realen Gegenstand Kölner Dom.

Alle Klarheiten beseitigt? Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht?

fragt Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 01. Feb. 2005, 18:57 Uhr

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Hallo Thomas!

" Unversöhnlicher Ton" ? Nö. Meine Frage danach, wieso ich denn im voraus (a priori) wissen konnte, dass das Zeugnis der Gestaltpsychologie die Kontroverse nicht schlichten würde, war durchaus ernst gemeint - als Argument für meine Position... :-)

Wie schon mehrfach angedeutet, wird in den Wissenschaften mit unterschiedlichen "Paradigmen" geforscht, d. h. mit unterschiedlichen Systemen von Grundbegriffen, die jeweils den untersuchten Gegenstandsbereich a priori abstecken. So lässt z. B. bereits der Titel des von Dir zitierten Werkes - "Algorhythmischer Ansatz zur Erklärung der Objektwahrnehmung" erkennen, dass es mit Grundbegriffen arbeitet, die mit denen der Gestaltpsychologie nicht vereinbar sind. Und wie sich zeigt, kommen die Forscher aufgrund solcher unterschiedlichen Leitbegriffe (" Kategorien" ) auch zu unterschiedlichen Interpretationen der Wirklichkeit. - Aus diesem Grund können erfahrungswissenschaftliche Befunde für eine Grundsatzfrage wie die nach der Wahrheit nur relevant sein, wenn man sie zusammen mit ihren grundbegrifflichen VORAUSSETZUNGEN zu Rate zieht.

Was konkret den "algothythmischen Ansatz" und den gestaltpsychologischen Ansatz a priori unterscheidet, ist eine unterschiedliche Definition der Kategorien "Ganzes" und "Teil". Denn mathematisch konzipierte Ganze sind immer so gedacht, dass sie ohne Informationsverlust zerlegt werden können. So ist z. B. eine Kurve ADÄQUAT definiert durch die Summe aller "Werte" einer Funktion. Ja, die Funktion ist im Grunde sogar präziser als die Darstellung durch die Kurve. Das liegt daran, dass die Kurve ein Kontinuum vortäuscht, wo "in Wahrheit" doch immer nur diskrete Werte gegeben sind. Ein Kontinuum ist hier nur mit der Hilfsvorstellung der "unendlichen Näherung" denkbar; und eine unendliche Näherung wird auch in der Unendlichkeit "nicht wirklich" zur Identität.

Es ist Deiner ganzen Argumentation - die ich ja nun schon eine Weile verfolge - leicht anzusehen, dass Du dazu neigst, "Ganzheiten" immer als Zusammenfassungen oder Zuordnungen von Elementen anzusehen. Du legst dabei also ein mathematisches "Paradigma" zugrunde. Und das ist nun einmal unverträglich mit dem Vorgehen der Gestaltpsychologie, die einen Begriff vom "Ganzen" hat, der nicht adäquat auf eine Zahl von Elementen reduzierbar ist.

Für mich war es darum leicht vorauszusehen, dass Du eher die Gestaltpsychologie fallen lassen würdest als Dich von ihren Befunden argumentativ beeindrucken zu lassen...

(Merkwürdig finde ich nebenbei, dass Du in Deiner Erwiderung gar nicht auf die von mir als Beleg zitierten Aussagen von Rudolf Arnheim eingehst.)

Dass es solche verschiedenen, z.T. unvereinbaren wissenschaftlichen Paradigmen überhaupt gibt, unter deren Einfluss empirische Gegebenheiten verschieden oder sogar kontrovers interpretiert werden, ist nun aber bereits ein Beleg für den konstitutionstheoretischen Ansatz der Erkenntnistheorie. Und da Du nach der RELEVANZ dieses Ansatzes fragst - offenkundig ist er auch sehr hilfreich, wenn es darum geht, die faktische Pluralität wissenschaftlicher Ansätze und ihrer z.T. kontroversen Resultate besser zu verstehen.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 01. Feb. 2005, 21:42 Uhr

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Hallo Eberhard,

wieder nur ganz kurz,

obwohl ich absolut nichts gegen wuwei habe und ich auch ihre Sicht der Dinge respektiere, möchte ich doch nicht, das meine Sicht mit ihrer verwechselt wird. Ich spreche nicht von der 'Einheit der Gegensätze' oder von der Illusion der Trennung von Selbst und Welt usw. Insofern war meine Metapher von dem Bild im Kopf wirklich ein Fehlgriff bzw. ein Zeichen für unklares Denken an dem Punkt.

Hel hat eigentlich den Dissens zwischen uns ganz gut zusammen gefasst. Obwohl ich nicht sagen würde, dass z. B. Raum und Zeit als Formen der Anschauung "Konstruktionen unseres Gehirns" sind. Wenn "Gehirn" eine Metapher ist, ist sie genau so unglücklich wie meine mit dem "Kopf".

Grüße

Dy [cool]

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 02. Feb. 2005, 00:41 Uhr

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Hallo zusammen und eine Entschuldigung, dass ich so relativ selten hier in der Diskussion "mitmische" - der Grund ist nicht fehlendes Interesse (höchst interessantes Thema für mich) sondern einfach Zeitmangel.

on 02/01/05 um 18:57:05, Hermeneuticus wrote:Es ist Deiner ganzen Argumentation - die ich ja nun schon eine Weile verfolge - leicht anzusehen, dass Du dazu neigst, "Ganzheiten" immer als Zusammenfassungen oder Zuordnungen von Elementen anzusehen. Du legst dabei also ein mathematisches "Paradigma" zugrunde. Und das ist nun einmal unverträglich mit dem Vorgehen der Gestaltpsychologie, die einen Begriff vom "Ganzen" hat, der nicht adäquat auf eine Zahl von Elementen reduzierbar ist.

In der Tat, Hermeneuticus, das scheint mir auch der springende Punkt (bzw. die wesentliche Differenz zwischen den Standpunkten) zu sein.

" Das Ganze ist MEHR (und anders) als die Summe seiner Teile" (hat WER gesagt?).

Mit dem "Ganzen" meine ich Entitäten jeder Art [(vorgestellte)Dinge, Bewegungsabläufe, Prozesse usw.)]. Ein Gegenstand ist doch keine Summe, kein Flickwerk, kein Komplex aus partikulär-fragmentarischen sinnlichen Eindrücken, die man von ihm hatte, sondern etwas prinzipiell anderes (" übrigens - der 'Gegenstand' ist nicht farbig", wußte auch schon Wittgenstein und noch vor ihm Kant). Auch ein Blinder (ich erlaube mir eine Reduktion sinnlicher Wahrnehmung als Beispiel einzuführen, weil es daran klarer zutage tritt) hat ja zB nur partikuläre Tasteindrücke von einer bestimmten Entität (Schrank, Zimmer usw.) - seine Vorstellung von der jeweiligen Entität ist aber ganz sicher keine Summe dieser Tasteindrücke (schon allein, weil diese sich als Empfindungen nicht reproduzieren lassen, also gar nicht in toto summarisch aufgefasst werden können), sondern etwas vollkommen anderes, eben eine "Idee" (ein nichtsprachliches Begreifen, also Begriff, "Konzept" ) des Schrankes - evoziert von seinen sinnlichen (Tast-)Eindrücken und korrigiert je nachdem ob das "Konstrukt" (die Idee, der Begriff, die vorstellungsmäßige "Hypothese" der jew. Entität usw.) mit den neu auftretenden sinnlichen Eindrücken zusammenpasst, "übereinstimmt" oder nicht.

Dazu gehört natürlich auch, dass man den Begriff (die Idee usw.) des Schrankes, Zimmers, der Stadt, des Geländes...) zu den unterschiedlichen Weisen seines Sich-Darbietens (visuell: der jew. perspektivischen Gegebenheit, dem konkreten anschaulichen BILD des Gegenstands) modifizieren (können) muss - das Ding _selbst_ begegnet für die sinnliche Anschauung ja in ständig wechselnder Weise und diese unterschiedlichen Weisen des Gegebenseins (des Ding _selbst_) wird von unser Vorstellungskraft als unterschiedliche Darstellungsweisen des _vorgestellten_ Dinges umgesetzt, um die verschiedenen sinnlichen Eindrücke demselben Gegenstand zuordnen und sie solchermaßen sinnvoll integrieren zu können. Wenn eine solche Zuordnung und Integration nicht gelingen würde, dann würde unsre Wahrnehmung uns lediglich getrennte, voneinander isolierte sinnliche Eindrücke liefern, aber niemals eine Entität.

Noch deutlicher wird diese Notwendigkeit einer vorgestellten Integrations-Entität zur Ordnung sinnlicher Eindrücke übrigens bei den vielfältigen, aufeinanderabfolgenden sinnlichen Eindrücken im Falle eines Bewegungsablaufes (lediglich "Einzelbilder" aber keine Bewegungsfigur) oder gar eines Prozesses, in dem sich die Entität radikal verändert (zB verwelkende Rose, Wasser das zu Eis wird oder zu Dampf) - immer sind letztlich einheitsstiftende Vorstellungen von Entitäten vonnöten, um den Zusammenhang unsrer einzelnen sinnlichen Eindrücke zu gewährleisten und damit die im Wechsel unterschiedlicher Eindrücke sich durchhaltende Wahrnehmung _Desselben_ (derselben Entität), wenn unsre Wahrnehmung kein chaotischer Fluss zusammhangloser sinnlicher Eindrücke bleiben soll.

Noch ein Argument dafür, dass wir Entitäten nicht summarisch aus den rezipierten sinnlichen Eindrücken bilden und dafür dass Entitäten (ebenso wie Relationen zwischen Entitäten) den Status der Vorgestelltheit (vs An-sich-Sein) zukommt:

Meist beschränkt sich die sinnliche Rezeption der Dinge selbst ja auf einige wenige sinnliche Eindrücke, die wir von ihnen haben (große Gebäude, Stadtbezirk, Landschaft, Bewegungsablauf) und doch genügen diese wenigen Eindrücke um zu wissen, wie diese Entäten auch in Ansichten, Positionen, die wir nie gesehen haben, sich darstellen. Wenn die jeweiligen Entitäten dagegen bloß Resultat einer summarischen Zusammensetzung sinnlicher Eindrücke wären (die meist fragmentarisch ist und häufig notwendig fragementarisch bleiben muss, zB Vorstellung eines Gebäudes, einer Stadt, Landschaft in der wir uns orientierend bewegen), würden wir nie über eine _ganze_ Vorstellung der Entitäten verfügen - diese müsste zwangsläufig immer fragmentarisch bleiben.

Und wie sollten wir zB Bewegungsabfolgen antizipieren können - wie zB die Flugfigur einer Frisby-Scheibe, eines Balls eines Radfahrers dem wir ausweichen müssen?

Resumée:

Die Entität ist

1. kein sinnlicher Eindruck und kein Komplex aus sinnlichen Eindrücken

2. etwas prinzipiell von sinnlichen Eindrücken Verschiedenes

3. etwas Vorgestelltes - wobei Idee/Begriff der Entität als bloß gedachtes "Konstruktionsschema" vom anschaulichen Bild (einer bestimmten möglichen Darstellungsweise der gedachten Entität) und letzteres wiederum von der sinnlichen Präsenz der Entität (dem von sinnlichen Eindrücken, "Empfindungen", begleiteten bestimmten Bild des Gegenstandkonzeptes) unterschieden werden müssen.

Also:

Begriff/Idee/generatives Konzept (der Entität) - Bild (als Anwendung, "Veranschaulichung", bestimmte Realisierung des Begriffs/Konzepts - die von sinnlichen Eindrücken begleitete Realisierung des Konzepts.

In der Wahrnehmungspraxis (der praktischen Ausbildung einer Entität) stehen am Anfang sicher die sinnlichen Eindrücke, welche die (probeweise, hypothetische) Konzeption einer Entität evozieren, die nach weiteren Eintreffen von Informationen in Form von sinnlichen Eindrücken modifiziert wird und schließlich und endlich (nach Bestätigung und Ausbleiben von Falsifikationen der Gegenstandsvorstellung durch sinnliche Eindrücke) zur - bis auf weiteres (end)gültigen - Gegenstandsvorstellung führen.

Es ist mir klar, dass 1 - 3 noch erläuterungsbedürftig ist - muss jetzt jedoch vorläufig Schluss machen.

Gruß, Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 02. Feb. 2005, 07:20 Uhr

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Hallo Verena,

zur Frage des "Ganzen" schau doch mal in den Thread "Das Ganze ist weniger als die Summe seiner Teile" hinein (hier im Forum, Abteilung "Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie", zur Zeit auf Seite 4). War eine interessante Diskussion.

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 02. Feb. 2005, 08:41 Uhr

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hallo an die runde,

unsere diskussion scheint spannder denn je zu sein. vorallem ist es erfreulich, dass sich nach den anfänglichen dreien nun mehr und mehr leute beteiligen. was mich erstaunt ist, dass sich lediglich 2 gruppen gebildet haben, und dass sich noch nicht eine dritte herausbildet.

zu den neuen beiträgen:

Quote:dy:Biologen Maturana und Varela geläufig. Diese haben, ich glaube in den 70ern Jahren des letzten Jahrhunderts, am Biological Computer Laboratory in Urbana Illinios NACHGEWIESEN, das keinerlei CODIERUNGEN von den Nerven ans Gehirn gesendet werden.

ich denke, dass wir hier einem missverständnis aufgesessen sind, was den begriff codierung betrifft. zunächsteinmal gilt es festzuhalten, dass die signalübertragung tatsächlich für den sehsinn nicht anders funktioniert als für den hörsinn. auch die signale unterscheiden sich nicht. es wird jeweils die reizintensität durch die rate und die regelmäßigkeit in welcher neuronen feuern codiert: d. h. ein stärkerer reiz wird durch eine erhöhte rate wiedergegeben.

hinzu kommt, dass wir im gehirn nicht nur ein einziges, sondern unzählige neuronen haben, die untereinander vernetzt sind (cf. neuronale netze). dementsprechend stellt sich das problem der sensorischen codierung, i.e. die frage danach, wie nervenimpulse die umweltmerkmale repräsentieren. da gibt es im wesentlichen 2 erklärungsansätze:

a) die neuronen-ensemble-theorie

information wird durch mehrere neuronen repräsentiert (muster).

b) einzelneuronen-theorie

information wird durch ein einzelnes neuron repräsentiert (cf. "großmutterneuron" bei hofstadter)

die erforschung des gehirns und der vergleich mit den ergebnissen der forschungen aus dem bereich der neuronalen netzwerke legen nahe, dass (a) die art und weise ist, wie information im gehirn codiert ist. dabei handelt es sich um eine implizite codierung, i.e. die information wird nicht als einzelne irgendwo abgelegt, sondern ergibt sich aus dem gesamtzustand des systems/der jeweiligen gruppe. in einem früheren beitrag habe ich kurz die theorie neuronaler netzwerke skizziert, so dass ich hier nicht weiter darauf eingehen möchte.

damit ist letztlich zwar noch nicht geklärt, wie es geschieht, dass ein apfel uns "grün" erscheint, aber ein grundstein zum verständnis ist gegeben.

 

zu hermeneuticus:

Quote:So lässt z. B. bereits der Titel des von Dir zitierten Werkes - "Algorhythmischer Ansatz zur Erklärung der Objektwahrnehmung" erkennen, dass es mit Grundbegriffen arbeitet, die mit denen der Gestaltpsychologie nicht vereinbar sind.

es handelt sich nicht um ein werk, sondern vielmehr um einen terminus technicus, den ich goldsteins "wahrnehmungspsychologie-eine einführung" (spektrum-verlag) entnommen habe. und dort ist der algorithmische ansatz nur einer neben anderen gleichgeordneten. man hat sich dort auf eine pluralität von ansätzen geeinigt - je nach problem und fragestellung.

 

Quote:Du dazu neigst, "Ganzheiten" immer als Zusammenfassungen oder Zuordnungen von Elementen anzusehen.

an welchen stellen sage ich das explizit?

ich denke, du missverstehst meinen standpunkt ein wenig. zutreffend wäre eher die feststellung, dass ich ganzheiten grundsätzlich für analysierbar halte; im prinzip lege ich das abtasttheorem der informatik zugrunde, nach welchem kontinuierliche informationen (unter gewissen bedingungen) beliebig genau (rasterung) digitalisiert werden können. angewandt auf unser problem der wahrnehmung: es ist nicht notwendig, dass unser gehrin die auf uns einströmende information z. B. des bildes vom kölner dom komplett verarbeiten muss (also ein quasi "digitales abbild" bearbeiten muss wie z. B. ein scanner), sondern, dass es ausreicht, nur gewisse merkmale (geone, textone, raumfrequenz etc.) zu verarbeiten.

 

Quote:Und das ist nun einmal unverträglich mit dem Vorgehen der Gestaltpsychologie, die einen Begriff vom "Ganzen" hat, der nicht adäquat auf eine Zahl von Elementen reduzierbar ist.

warum ist eine solche reduktion(abtastung) prinzipiell nicht möglich?

der vergleich hinkt zwar: kann ein mensch unterscheiden, ob bizets carmen als MP3-aufnahme (z. B. 392kbps) abgespielt wird oder von CD?

 

Quote:Und da Du nach der RELEVANZ dieses Ansatzes fragst - offenkundig ist er auch sehr hilfreich, wenn es darum geht, die faktische Pluralität wissenschaftlicher Ansätze und ihrer z.T. kontroversen Resultate besser zu verstehen.

ich fragte danach, inwieweit dieser "konstruktivistische standpunkt" für unsere diskussion von belang ist.

verena:

Quote:Ein Gegenstand ist doch keine Summe, kein Flickwerk, kein Komplex aus partikulär-fragmentarischen sinnlichen Eindrücken, die man von ihm hatte, sondern etwas prinzipiell anderes

s.o. "abtasttheorem"

dass ein gegenstand "etwas anderes" ist, ist eine metaphysische behaupung, ebenso wie das gegenteil. allerdings halte ich es für besser, wenn wir uns von solchen "grundsatzdiskussionen" verabschieden, und uns fragen, ob es nicht hilfreich ist, davon auszugehen, dass unabhängig davon welchen ontologischen status nun das "ganze" und seine "teile" nun besitzen, wir dennoch repräsentative information vom ganzen besitzen können.

denn darum dreht sich im prinzip dein ganzer beitrag.

bzw. auch die diskussion mit hermeneuticus (cf. sein vorwurf an mein "mathematisches modell" ).

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 02. Feb. 2005, 09:34 Uhr

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Hallo Thomas,

du schreibst:

" das hört sich stark nach einem fichte'schen fehlSchluss an. was in deinem bewußtsein ist, wuwei, ist weder der kölner dom, noch ein "bild" davon, sondern die information, die es dir ermöglicht, zu sagen, du sehest den kölner dom.

das repräsentationsverhältnis ist kein direktes abbild-verhältnis."

Das glaube ich gerne. Also ist in meinem Bewußtsein nicht ein "Bild", sondern eine Information, die von dem angeblich objektiven Dom zu mir gedrungen ist. Die wird vom Gehirn verarbeitet und zu einem Bild geformt, oder nicht? Ich meine, WO entsteht denn erstmals mein Sehen des Doms? Es muss doch (nach deiner Sichtweise) in meinem Gehirn stattfinden, oder nicht? Solange man daran festhält, dass das Bewußtsein sich im Körper befindet, muss das Sehen im Körper stattfinden.

Also könnte ich immer nur hier ein subjektives Bild eines Doms sehen, von dem ich darauf schließe, dass es dort tatsächlich einen objektiven Dom gibt. Also frage ich dich nochmal, wie dieses subjektive Bild hier in meinem Kopf dort gesehen werden kann?

Meiner Ansicht nach findet Wahrnehmung dort statt, wo auch das vermeintliche Objekt ist. Das Sehen des Doms findet am Dom statt, weil mein Bewußtsein eben nicht hier im Kopf ist, sondern überall dort, wo Wahrnehmung stattfindet.

dass aber kann man nicht verstehen, wenn man Bewußtsein wiederum für ein objektives Phänomen hält. Es ist aber kein Ding, das wahrgenommen werden könnte.

du schreibst:

" du nimmst den klang mittels deines gehörs wahr, wenn die schallwellen dein trommelfell in schwingungen versetzen. die information, die aus der schallwelle gewonnen werden lassen dich schließen, dass an der und der position in deiner nähe die quelle des klangs zu vermuten ist."

Das verstehe ich schon, auch den Artikel, den du netterweise verlinkt hast. Den will ich nicht leugnen, aber anders deuten.

Es ist doch nicht so, dass ich den Klang im Kopf höre und dann darauf schließe, wie weit die Quelle des Klangs entfernt ist. Ich höre ihn doch dort, an der vermeintlichen Quelle, oder nicht? Ich will dich nochmal fragen: WO höre ich tatsächlich den Klang? Im Kopf oder an seiner Quelle?

Wie gesagt, das macht meiner Ansicht nach erst Sinn, wenn man erkennt, dass das Bewußtsein nicht im Kopf ist. Es beinhaltet all das, was ich wahrnehme. Genauer gesagt IST es sogar alles, was ich wahrnehme. Insofern ist die Welt ebenso in mir (als Bewußtsein), wie ich (als Körper) in ihr (damit also in mir selbst) bin. Solange du aber sicher zu sein glaubst, nur auf deinen Körper beschränkt zu sein, erscheint dir das natürlich absurd.

du schreibst:

" und ich sehe nicht, warum ich nicht ruhigen gewissens sagen können soll, ich sitze auf meinem stuhl vor meinem monitor - also mein monitor befindet sich mir gegenüber. das leuchtet doch schon dadurch ein, dass ich meinen arm nach vorn bewegen kann, um ihn mit einem lappen abzuwischen (eine mögliche konsequenz dessen, dass der monitor vor und nicht irgendwo in mir ist)"

Du darfst das ruhigen Gewissens sagen. Es ist ja nicht falsch, aber nur "half of the story". Der Monitor ist natürlich nicht in deinem Körper. Aber der Monitor, der Stuhl, der Lappen und auch dein Körper erscheinen in dir, dem Bewußtsein.

Heidegger und Wittgenstein sagen, soweit ich es einschätzen kann, nichts anderes, aber offenbar nimmt die hier keiner ernst, oder versteht sie nicht.

Kannst du ungefähr nachvollziehen, wie ich es meine? Auch wenn du es natürlich nicht glaubst.... ;-). Würde mich freuen, wenn du dir nochmal die Mühe machst, darauf einzugehen. Danke.

 

Hallo Eberhard,

freut mich, dass es für dich so einfach erscheint.

du schreibst:

" Wenn ich den Kölner Dom sehe, so impliziert dies einen visuellen Inhalt meines Bewusstseins, ein "Bild". Ohne diesen visuellen Bewusstseinsinhalt wäre es kein "sehen". Aber ich sehe nicht diesen Bewusstseinsinhalt, dies "Bild", sondern den realen Gegenstand Kölner Dom."

Wie könntest du je etwas anderes als einen subjektiven Bewußtseinsinhalt sehen? Du schließt nur auf einen realen Dom außerhalb "deines" Bewußtseins.

Aber dieser subjektive Bewußtseinsinhalt IST bereits der Dom, da es keinen Dom außerhalb des Bewußtseins gibt. Und damit meine ich nicht ein "persönliches" Bewußtsein, da es wie gesagt kein Bewußtsein IM Kopf bzw. Körper gibt.

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von

 am 02. Feb. 2005, 11:06 Uhr

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Hallo Wuwei,

Du fragst : "Wie könntest du je etwas anderes als einen subjektiven Bewußtseinsinhalt sehen?"

Wenn man unter "sehen" versteht: "mit den Augen wahrnehmen" (so mein Sprach-Brockhaus), dann habe ich noch niemals meinen Bewusstseinsinhalt gesehen, denn (zum Glück) kann niemand Bewusstseinsinhalte mit seinen Augen wahrnehmen, auch nicht die eigenen Bewusstseinsinhalte.

Also ist die Antwort auf Deine rhetorische Frage entweder falsch, oder Du gebrauchst das Wort "sehen" anders als üblich,

meint Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 02. Feb. 2005, 14:42 Uhr

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Hallo allerseits,

Wo stehen wir mit unserer Diskussion?

Wir suchen nach richtigen Antworten auf die Fragen:

Wann ist eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wahr?

Was ist das Kriterium für die Wahrheit von derartigen Aussagen?

Die von fast allen akzeptierte Antwort darauf lautete:

Wenn eine Aussage über die Wirklichkeit wahr sein soll, dann müssen die aufgrund der Aussage zu erwartenden Wahrnehmungen mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen vereinbar sein.

Es bestand unter uns jedoch keine Übereinstimmung über die genaue Bedeutung der Wörter "Wirklichkeit" und "Wahrnehmung".

Einigen Diskussionsteilnehmern war die Feststellung wichtig, dass ein ungeordneter Strom von Sinneseindrücken als solcher kein Kriterium für die Wahrheit einer Aussage über die gegenständliche Welt darstellen kann.

Beispielhaft für diese Position ist Verenas letzter Beitrag in dem es heißt:

" Immer sind letztlich einheitsstiftende Vorstellungen von Entitäten vonnöten, um den Zusammenhang unsrer einzelnen sinnlichen Eindrücke zu gewährleisten und damit die im Wechsel unterschiedlicher Eindrücke sich durchhaltende Wahrnehmung _Desselben_ (derselben Entität), wenn unsre Wahrnehmung kein chaotischer Fluss zusammenhangloser sinnlicher Eindrücke bleiben soll.

Die Entität ist .. etwas prinzipiell von sinnlichen Eindrücken Verschiedenes … etwas Vorgestelltes."

Sie forderten deshalb die Bestimmung derjenigen strukturierenden Elemente, die aus diesen Sinneseindrücken ein Kriterium für die Wahrheit von Aussagen erzeugen.

In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Leistungen des menschlichen Verstandes bzw. Gehirns erörtert, die über die reine Aufnahme und Ansammlung einzelner Sinnesreize hinausgehen, wie die Gestalterkennung, die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit, die gezielte Erforschung der Wirklichkeit einschließlich ihrer Veränderung zur Durchführung von geplanten Experimenten u. a. m.

Ob die Verfolgung dieser Fragen hilfreich für die Beantwortung unserer anfänglichen Frage ist, blieb umstritten.

Soweit mein - hoffentlich nicht zu einseitiger - Überblick.

Im Folgenden meine Überlegungen hierzu.

Am Text Verenas wird deutlich, dass es ihr um die elementarsten Dinge der Erkenntnis geht: Verena stellt die Frage: "Wie ist es überhaupt möglich, dass wir Gegenstände erkennen?" offenbar ohne Bezugnahme auf eine bereits verfügbare Sprache.

Wenn man die Existenz einer erlernbaren Sprache voraussetzt, dann bilden die in dieser Sprache enthaltenen Namen und Begriffe die strukturierenden Elemente für unsere Wahrnehmung, und das Problem des ungeordneten Stroms von Sinnesreizen ist damit weitgehend entschärft.

Vor diesem Hintergrund hatte ich auf die Frage, wie es möglich ist, Gegenstände wahrzunehmen, geschrieben:

" Die Bedeutung der Wörter 'Kugelschreiber', 'vor mir' oder 'liegen' habe ich von meinen Eltern gelernt. Dadurch und durch die Fähigkeiten, die ich durch meine Augen und mein Gehirn habe, ist es mir möglich, den Kugelschreiber wahrzunehmen und dies sprachlich auszudrücken."

Genau genommen müsste mit einer Problematisierung elementarster Dinge der Erkenntnis, wie sie Verena vornimmt, bereits die Fragestellung selber zum Problem werden.

Denn indem ich die Frage nach dem Wahrheitskriterium in deutscher Sprache stelle, muss ich ja deren Existenz und Verständlichkeit voraussetzen.

Und wenn man konsequent die elementarsten Grundlagen in Frage stellen will, dann müsste vorab auch die Frage geklärt werden, wie die Entstehung einer verständlichen Sprache möglich ist.

Ich meine, wir sollten diese Grundlagendiskussion hier nicht weiter fortführen, es sei denn, dass sich daraus Konsequenzen für das Wahrheitskriterium ergeben.

Es grüßt Euch Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von hel am 02. Feb. 2005, 14:49 Uhr

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Hallo Wuwei

Du schreibst

Quote:Wie könntest du je etwas anderes als einen subjektiven Bewußtseinsinhalt sehen? Du schließt nur auf einen realen Dom außerhalb "deines" Bewußtseins.

Aber dieser subjektive Bewußtseinsinhalt IST bereits der Dom, da es keinen Dom außerhalb des Bewußtseins gibt.

Mehr noch als an Heidegger (den ich wirklich nicht, nicht einmal in Ansätzen, verstehe) und Wittgenstein denke ich an Bishop Berkeley, wenn ich Deine Postings lese. Er hat, um den Dualismus zwischen Materie und Geist (Bewußtsein) aufzulösen, ein rein geistiges Universum postuliert (Sein "esse est percipi" erinnert mich stark an Dein "...Bewußtseinsinhalt IST bereits der Dom..." ). Ich glaube auch, dass dieser Ansatz grundsätzlich nicht anfechtbar ist.

Meine Frage an Dich ist nur. Wie erklärst Du Dir aus Deinem Weltbild heraus die Phänomene, mit denen wir es zu tun haben? dass man nichts sehen kann, wenn keine Lichtquelle zur Verfügung steht. dass Du, wenn Du den Dom von allen Seiten sehen willst, auch um ihn herumgehen musst. Oder, wenn Du einen Stab in eine Badewanne hältst, der Stab nicht wirklich geknickt ist, sondern nur so erscheint. Und so weiter ad infinitum. Das physikalische Weltbild versucht für diese Phänomene Erklärungen zu finden. Was mich interessieren würde, wären Erklärungen aus Deinem Weltbild heraus.

Beste Grüße,

hel

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 02. Feb. 2005, 16:45 Uhr

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hallo wuwei,

 

Quote:Ich meine, WO entsteht denn erstmals mein Sehen des Doms? Es muss doch (nach deiner Sichtweise) in meinem Gehirn stattfinden, oder nicht? Solange man daran festhält, dass das Bewußtsein sich im Körper befindet, muss das Sehen im Körper stattfinden.

ich denke, eberhard hat schon einen hinweis darauf gegeben, dass wir uns nicht durch die sprachlichen probleme mit der verwendung von präpositionen bei der beschreibung von wahrnehmungsphänomenen irritieren lassen sollten. das bild entsteht weder im kopf, noch woanders. sinnvollerweise sollten wir bei den alltagssprachlichen beschreibungen "ich sehe den kölner dom" bleiben.

 

Quote:Also könnte ich immer nur hier ein subjektives Bild eines Doms sehen, von dem ich darauf schließe, dass es dort tatsächlich einen objektiven Dom gibt. Also frage ich dich nochmal, wie dieses subjektive Bild hier in meinem Kopf dort gesehen werden kann?

 

sofern subjektiv meint, dass derjenige dem sich das bild darbietet, es sieht, kann subjektiv auch weggelassen werden. (cf. wittgenstein "patience spielt man allein" PU 248).

ebenso problematisch wie die präpositionen ist auch in diesem zusammenhang das wort "schließen". am ehesten entspricht das dem philosophischen teminus "wahrnehmungsurteil". der einfachheit halber sagen wir besser: anhand der verarbeiteten information lokalisieren wir den dom an der und der stelle.

 

Quote:Es ist doch nicht so, dass ich den Klang im Kopf höre und dann darauf schließe, wie weit die Quelle des Klangs entfernt ist. Ich höre ihn doch dort, an der vermeintlichen Quelle, oder nicht? Ich will dich nochmal fragen: WO höre ich tatsächlich den Klang? Im Kopf oder an seiner Quelle?

 

doch. genauso verhält es sich. wenn wir auf das beispiel mit Q-sound zurückkommen, so ist es so, dass es sich analog zu einer optischen täuschung um eine akustische täuschung handelt. quelle sind die lautsprecherboxen, allerdings läßt sich klang derart platzieren, dass die quelle anders lokalisiert wird, z.b vor dir, obwohl keine box vor dir steht.

 

Quote:eberhardt:Ich meine, wir sollten diese Grundlagendiskussion hier nicht weiter fortführen, es sei denn, dass sich daraus Konsequenzen für das Wahrheitskriterium ergeben.

daran kann ich mich nur anschließen:

Quote:thomas an verena:allerdings halte ich es für besser, wenn wir uns von solchen "grundsatzdiskussionen" verabschieden, und uns fragen, ob es nicht hilfreich ist, davon auszugehen, dass unabhängig davon welchen ontologischen status nun das "ganze" und seine "teile" besitzen, wir dennoch repräsentative information vom ganzen besitzen können.

und in unserer diskussion können wir dann auf diese repräsentative information zurückgreifen.

- mfg thomas

p.s.: bisher hält uns die disksussion um die wirkliche und die vermeintliche wirklichkeit mehr auf, als dass daraus ein praktischer nutzen zu ziehen ist. selbst der eingefleischteste idealist wird zwischen wahren und falschen aussagen unterscheiden. und wenn er im parkverbot steht, wird ihm der hinweis auf die idealität der wirklichkeit und die relativität räumlicher und zeitlicher aussagen nicht weiterhelfen. er wird sein knöllchen wohl oder übel bezahlen müssen.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von hel am 02. Feb. 2005, 17:12 Uhr

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Hallo Eberhard,

Du schreibst

Quote:Wo stehen wir mit unserer Diskussion?

Wir suchen nach richtigen Antworten auf die Fragen:

Wann ist eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wahr?

Was ist das Kriterium für die Wahrheit von derartigen Aussagen?

Die von fast allen akzeptierte Antwort darauf lautete:

Wenn eine Aussage über die Wirklichkeit wahr sein soll, dann müssen die aufgrund der Aussage zu erwartenden Wahrnehmungen mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen vereinbar sein.

 

Man sollte vielleicht zwischen Wahrheitskriterium und Geltungsbedingungen für Wahrheit unterscheiden.

Der obige Satz "Wenn eine Aussage.....vereinbar sein." muss für jede Aussage erfüllt sein, damit wir sie gelten lassen. Er ist aber NICHT eine hinreichende Bedingung. Es sind nämlich unterschiedliche Theorien vorstellbar, welche die gleichen Voraussageergebnisse aufweisen.

z. B.a) "XY ist wütend, deswegen verlässt er jetzt das Zimmer." B) "XY ist nicht wütend und möchte nur etwas einkaufen gehen, deswegen verlässt er jetzt das Zimmer." Angenommen XY geht jetzt wirklich aus dem Zimmer und angenommen er geht wirklich einkaufen. Sowohl Aussage A oder B stimmen mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen überein. Es bleibt also offen, ob A oder B wahr ist.

Ist unser Wahrheitskriterium eine notwendige Bedingung für die Wahrheit eines Satzes?

Nur dann, wenn man die philosophische Möglichkeit, dass unsere sämtlichen Wahrnehmungen uns täuschen, außer Acht lässt. Nur wenn man nicht annimmt, dass man ein Gehirn im Tank oder ein Gedanke Gottes ist, ist unser Wahrheitskriterium auch notwendig gültig.

Unser bisheriges Wahrheitskriterium erscheint mir deswegen mehr methodische Geltungsbedingung innerhalb eines realistischen Weltbildes zu sein.

Das Wahrheitskriterium, das mich bis jetzt am meisten überzeugt, ist das in diesem Thread schon besprochene von Tarski:

z. B.:

Der Satz "Hier liegt ein Bleistift" ist genau dann wahr, wenn hier ein Bleistift liegt.

Der Vorteil dieses Formalismus ist m.E., dass er zeigt, dass es nicht EIN Wahrheitskriterium gibt. Sondern so viele, wie es Aussagen gibt: Denn der Teil nach dem "wenn" gibt nämlich gerade das Wahrheitskriterium an. d. h. jeder Satz trägt sein eigenes Wahrheitskriterium mit sich.

Die Auflösung findet dann im praktischen Leben oder, bei komplexeren Fragestellungen in den Wissenschaftsdisziplinen statt. Verlässt hier also schon den Bereich der Philosophie.

Beste Grüße,

hel

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 02. Feb. 2005, 18:09 Uhr

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Hallo Eberhard!

Diese Grundlagendiskussion scheint mir sogar unentbehrlich zu sein, und zwar gerade im Hinblick auf die Klärung des Begriffs "Wirklichkeit" (oder "Beschaffenheit der Wirklichkeit" ) und der Wahrheitskriterien von Aussagen.

Die Formulierung in der Fragestellung "Aussagen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit", an der Du konsequent festhältst, hat m.E. viel Unklarheit in die Diskussion gebracht. Die Formulierung setzt nämlich als bekannt voraus, was denn Aussagen "über die Wirklichkeit" sind und wodurch man sie von Aussagen über Nicht-Wirkliches unterscheiden kann. Dabei kann das, wie die Diskussion gezeigt hat, durchaus nicht vorausgesetzt werden.

Ich vermute hinter der Eingrenzung der Fragestellung mithilfe dieser Formulierung eine bestimmte Absicht. Und zwar die Absicht, durch die Fragestellung schon eine Vorentscheidung dahingehend zu treffen, dass Wahrheit gleichbedeutend mit erfahrungswissenschaftlicher Wahrheit sei.

Aber dadurch wird die so vorgezeichnete Wahrheitstheorie zirkulär. Denn in der Diskussion darüber, was denn überhaupt Aussagen "über die Wirklickeit" seien, zeigte sich, dass Du (wie Thomas) unter "Wirklichkeit" im Grunde nichts anderes verstehst als das Gesamt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Damit ist allerdings Wahrnehmbarkeit doppelt in Anspruch genommen - einmal als DEFINIENS von "Wirklichkeit" und dann wieder als Wahrheits-KRITERIUM für Aussagen ÜBER die Wirklichkeit.

Wahr wären dann Aussagen über Wahrnehmbares, die durch Wahrnehmungen belegt werden können.

Ich denke, dass eine solche doppelte Inanspruchnahme des Begriffs der Wahrnehmung unbedingt dessen Klärung erforderlich macht. Was bedeutet "wahrnehmbar" und wer oder was zieht die Grenzen zum Nicht-Wahrnehmbaren? (Das ist gleichbedeutend mit der Frage: Wie sind Wahrnehmungen "konstituiert" ?) Was macht, dass wir Gegenstände - und zwar so und so BESTIMMTE Gegenstände - wahrnehmen, über die wir DANN wahre oder falsche Aussagen machen können?

Im Grunde ist also die Kantsche Frage zu wiederholen: Wie sind Gegenstände der Erfahrung möglich? Wenn wir das dagegen einfach als geklärt voraussetzen, dann wird die Wahrheitstheorie zu einer Trivialität à la Tarski: Der Erfahrungssatz 'p' ist wahr, wenn p erfahren wird.

Damit lässt sich freilich im Blick auf das reichhaltige Angebot an erfahrungswissenschaftlichen Aussagen wenig anfangen. Denn wie bereits festgestellt, gelangen verschiedene wissenschaftliche Ansätze jeweils zu Aussagen über die Wirklichlichkeit, die im Rahmen ihrer jeweiligen Voraussetzungen durchaus als wahr gelten können, aber dennoch "trans-paradigmatisch" nicht miteinander verträglich sein müssen.

 

Wenn "Wirklichkeit" implizit oder explizit gleichbedeutend ist mit dem "Gesamt des (sinnlich) Erfahrbaren", liegt darin eine Subjektivierung des Wirklichkeitsbegriffs. Und damit wird die Frage virulent, von welchen subjektiven oder inter-subjektiven Bedingungen die elementaren Erfahrungsinhalte jeweils abhängig sind, über die dann wahre/falsche Aussagen gemacht werden können.

Allerdings: Wenn man zeigen könnte, dass unsere sinnliche Erfahrung eigentlich ein determiniertes Naturgeschehen ist, dann hätte man das Problem der Subjektivierung von "Wirklichkeit" elegant gelöst. Denn dann wäre ja die "objektive Verankerung" unserer Erfahrungen garantiert.

Nur müsste dann erklärt werden, wieso wir überhaupt irren können und so etwas wie Wahrheitskriterien überhaupt brauchen...

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 02. Feb. 2005, 23:33 Uhr

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hallo liebe talker,

nachdem ich hermeneuticus letzten post gelesen habe sind mir einige sachen durch den kopf gegangen und ich bin auf die idee gekommen, dass wir unser thema von der anderen seite einmal aufgreifen könnten:

wir sollten die frage beiseite stellen, was wahrheit sei, und uns dem gegenteil widmen - also: was ist ein irrtum, bzw. worin besteht ein irrtum?

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 03. Feb. 2005, 00:00 Uhr

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Hallo zusammen,

on 02/02/05 um 08:41:23, jacopo_belbo wrote:...

ich denke, du missverstehst meinen standpunkt ein wenig. zutreffend wäre eher die feststellung, dass ich ganzheiten grundsätzlich für analysierbar halte; im prinzip lege ich das abtasttheorem der informatik zugrunde, nach welchem kontinuierliche informationen (unter gewissen bedingungen) beliebig genau (rasterung) digitalisiert werden können. angewandt auf unser problem der wahrnehmung: es ist nicht notwendig, dass unser gehrin die auf uns einströmende information z. B. des bildes vom kölner dom komplett verarbeiten muss (also ein quasi "digitales abbild" bearbeiten muss wie z. B. ein scanner), sondern, dass es ausreicht, nur gewisse merkmale (geone, textone, raumfrequenz etc.) zu verarbeiten."

Auf jeden Fall arbeiten die Informatiker bei der Erkennung/Identifizierung komplexer empirischer Objekte (geologische Oberflächen, Gesichtererkennung) durch KI heutzutage schon lange nicht mehr mit einem scannerartigen Abtastprinzip (aus welchem eine letztlich nicht mehr rationell zu bewältigenden Datenflut resultiert), sondern mit Rechen-Algorithmen, die darauf beruhen, dass aus Pixelverteilungen (" sinnlichen Daten" ) Höhen-Tiefenverhältnisse des Objekts berechnet werden und der Computer aus den daraus gewonnenen Formeln (" Begriffen" des Objekts) mögliche Darstellungen (" Bilder" ) des Objekts erzeugt, die dann mit den gegeben Pixelarrealen verglichen und ggflls. für eine Neuberechnung korrigiert werden. (Die Karlsruher Informatik-Fakultät ist hierin wohl mit an der Spitze der KI-Forschung.) Also vom Prinzip analog derjenigen konstruktiven (und nicht summativen: das Objekt als Flickwerk fragmentarischer sinnlicher Versatzstücke konzipiert) Verfahrensweise des Erkennens, die ich in meinem (auf Kant basierenden) letzten Beitrag als Begriff - Schema - Bild - reales (sinnlich-anschaulich gegebenes) Objekt beschrieben habe. Mir scheint, du hast das leider nicht so ganz begriffen - gut, war auch nur kurz und bündig von mir erläutert.

 

Quote:..." abtasttheorem"

dass ein gegenstand "etwas anderes" ist, ist eine metaphysische behaupung...

Nein, durchaus nicht - diese (beschriebenen) Sachverhalte haben nichts "Metaphysisches", sondern lassen sich sehr wohl phänomenal nachweisen. Natürlich muss man dazu die reflexiv-analytische Verfahrensweise akzeptieren und anwenden, dh sich dem Phänomen des Erkennens reflexiv zuwenden, erst dann können diese erkenntniskonstitutiven Sachverhalte und Zusammenhänge (Begriff-Schema-Bild-reales Objekt) überhaupt ins Blickfeld des Erkenntnisanalytikers geraten. Wenn man natürlich nur die quantifizierende Methoden der Naturwissenschaft zulässt, dann muss man blind für diese Sachverhalte bleiben, die dann auf der Basis dieser methodisch bedingten Blindheit als "metaphysisch" unter den Tisch der positivistisch-naturalistischen Erkenntnistheorie gekehrt werden.

 

Quote:allerdings halte ich es für besser, wenn wir uns von solchen "grundsatzdiskussionen" verabschieden, und uns fragen, ob es nicht hilfreich ist, davon auszugehen, dass unabhängig davon welchen ontologischen status nun das "ganze" und seine "teile" nun besitzen, wir dennoch repräsentative information vom ganzen besitzen können.

denn darum dreht sich im prinzip dein ganzer beitrag.

 

Nicht ganz deiner Meinung:

Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung/der Aussage müssen auch die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung/Aussage sein, nur so ist denkbar, dass und wie Erfahrung/Aussage ihre Gegenstände überhaupt (be-)treffen kann.

Gruß, Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 03. Feb. 2005, 00:48 Uhr

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Hallo Hel!

An Deinem Beitrag verstehe ich manches nicht. z. B. weiß ich nicht, worin für Dich der Unterschied zwischen Geltungsbedingungen und Wahrheitskriterien besteht. Vielleicht kannst Du das noch ein wenig verdeutlichen.

Eingehen möchte ich auf den Schluss Deines Beitrags. (Witzig übrigens, dass wir ungefähr gleichzeitig, aber unabhängig von einander, Tarski erwähnen, wenn auch mit unterschiedlicher Einschätzung.)

Du schreibst:

Quote:Der Vorteil dieses Formalismus ist m.E., dass er zeigt, dass es nicht EIN Wahrheitskriterium gibt. Sondern so viele, wie es Aussagen gibt: Denn der Teil nach dem "wenn" gibt nämlich gerade das Wahrheitskriterium an. d. h. jeder Satz trägt sein eigenes Wahrheitskriterium mit sich.

Die Auflösung findet dann im praktischen Leben oder, bei komplexeren Fragestellungen in den Wissenschaftsdisziplinen statt. Verlässt hier also schon den Bereich der Philosophie.

Mich erinnert diese Folgerung aus Tarskis Formel an den "Radikalhermeneutiker" Donald Davidson. So weit ich ihn verstehe (ich müsste ihn mal wieder lesen...), stellt er Tarski auf den Kopf. Was bei Tarski als Formulierung einer allgemeinen Wahrheitsbedingung von Sätzen (in formalisierten Sprachen) gemeint ist - diese Bedingung ist erfüllt, wenn 'p' und p übereinstimmen -... was also Tarski als eine Bedingung aufstellt, die erfüllt sein muss, DAMIT Sätze "wahr" genannt werden können, das setzt Davidson als immer schon erfüllt voraus, wenn zwei Menschen miteinander sprechen, und sei es auch, sie sprächen in völlig verschiedenen Sprachen. Diese Voraussetzung, meint Davidson, müssen wir (und sei es stillschweigend) machen, damit wir einander überhaupt verstehen. Nur WEIL wir unserem Kommunikationspartner grundsätzlich unterstellen, er sage die Wahrheit, haben wir einen Ansatzpunkt zu verstehen, was er meint - und zwar ganz gleichgültig, wovon er spricht.

Damit ist allerdings einem grenzenlosen "Pluralismus" Tür und Tor geöffnet. Es gibt keine Vorsortierung mehr, die allgemein angibt, welches Aussagen "über die Wirklichkeit" seien und welches nicht. Gleichviel worüber ich mit einem Menschen spreche: Sofern wir einander verstehen, haben wir eine gemeinsame Wirklichkeit, und deren tragender Grund ist, dass wir einander zugestehen, die Wahrheit zu sagen. Unsere gemeinsam verstandene Wirklichkeit beruht auf einem gegenseitig unterstellten und also gemeinsamen Führwahrhalten. - Das ist Pragmatismus in seiner äußersten Konsequenz...

Ich weiß nicht, ob Du etwas Ähnliches im Sinn hast. Zumindest läuft Dein Vorschlag ebenfalls darauf hinaus: Zu jedem Satz lassen sich die Bedingungen angeben, unter denen er wahr ist. Somit machen die jeweiligen Kommunikationspartner die Wahrheit ihrer Sätze untereinander aus...

Ob ich so weit gehen würde, kann ich im Moment nicht sagen. Aber dass es eine Pluralität von Geltungsbedingungen und Wahrheitskriterien für Sätze gibt, die mit dem praktischen Kontext wechseln, halte ich für offenkundig. Nur schließt das nicht die Möglichkeit von Aussagen aus, die allgemein als wahr eingesehen und anerkannt werden können. Aber das würde wohl auch Davidson nicht bestreiten.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 03. Feb. 2005, 08:02 Uhr

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hallo verena,

ich glaube du hast da einen kleinen punkt falsch verstanden:

Quote:Auf jeden Fall arbeiten die Informatiker bei der Erkennung/Identifizierung komplexer empirischer Objekte (geologische Oberflächen, Gesichtererkennung) durch KI heutzutage schon lange nicht mehr mit einem scannerartigen Abtastprinzip

was ich gesagt habe bezieht sich auf die prinzipielle digitalisierbarkeit analoger information.

Quote:sondern mit Rechen-Algorithmen, die darauf beruhen, dass aus Pixelverteilungen (" sinnlichen Daten" ) Höhen-Tiefenverhältnisse des Objekts berechnet werden und der Computer aus den daraus gewonnenen Formeln (" Begriffen" des Objekts) mögliche Darstellungen (" Bilder" ) des Objekts erzeugt, die dann mit den gegeben Pixelarrealen verglichen und ggflls. für eine Neuberechnung korrigiert werden.

und woher stammen die daten, die diesen algorithmen zugrunde liegen?

das ist der eigentliche punkt, auf den ich hinaus wollte: dass kognition zunächsteinmal voraussetzt, dass objekte analysiert werden können. die frage, ob ein objekt in natura aus einzelteilen besteht oder nur als organisches ganzes existiert ist irrelevant; wichtig ist nur, dass wir es analytisch in teile zerlegen können. und deshalb schrieb ich auch anschließend

Quote:es ist nicht notwendig, dass unser gehrin die auf uns einströmende information z. B. des bildes vom kölner dom komplett verarbeiten muss (also ein quasi "digitales abbild" bearbeiten muss wie z. B. ein scanner), sondern, dass es ausreicht, nur gewisse merkmale (geone, textone, raumfrequenz etc.) zu verarbeiten.

expressis verbis: unser gehirn arbeitet nicht wie ein scanner!

an diesem punkt scheinst du mich falsch verstanden zu haben.

des weiteren schreibst du, meinen hinweis darauf, dass die behauptung, ein gegenstand sei mehr als die summe seiner teile (" 'Das Ganze ist MEHR (und anders) als die Summe seiner Teile'(hat WER gesagt?)." eine metaphysische sei:

Quote:Nein, durchaus nicht - diese (beschriebenen) Sachverhalte haben nichts "Metaphysisches", sondern lassen sich sehr wohl phänomenal nachweisen.

dann weise es doch phänomenal nach. ich bin sehr gespannt auf das phänomenale ergebnis.

 

Quote:Zitat(von mir):

" allerdings halte ich es für besser, wenn wir uns von solchen "grundsatzdiskussionen" verabschieden, und uns fragen, ob es nicht hilfreich ist, davon auszugehen, dass unabhängig davon welchen ontologischen status nun das "ganze" und seine "teile" nun besitzen, wir dennoch repräsentative information vom ganzen besitzen können.

denn darum dreht sich im prinzip dein ganzer beitrag."

Nicht ganz deiner Meinung:

Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung/der Aussage müssen auch die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung/Aussage sein, nur so ist denkbar, dass und wie Erfahrung/Aussage ihre Gegenstände überhaupt (be-)treffen kann.

was heißt das in einfachen klaren worten?

ich bitte um eine nähere erläuterung. so wie es formiliert ist, habe ich den eindruck, dass das ganze verdeckt tautologisch zu sein scheint:

wenn wir die bedingungen der möglichkeit der erfahrung haben, ist das zugleich die bedingung der erfahrung von gegenständen, sachverhalten etc. - von was sonst?

die frage ist: haben wir repräsentative informationen von gegenständen oder nicht - wenn nein, was sind die informationen, welche wir haben, und woher stammen sie?

wenn ja, hat sich die diskussion erledigt, und wir können an dem punkt mit den informationen die wir haben weiterdiskutieren.

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 03. Feb. 2005, 12:35 Uhr

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Hallo Thomas!

Deinen Vorschlag, unsere Fragestellung einmal umzukehren und nach den Gründen für die Möglichkeit des Irrtums zu fragen, finde ich interessant. Go ahead! Dir scheint dazu ja schon etwas durch den Kopf gegangen zu sein.

 

 

on 02/03/05 um 08:02:27, jacopo_belbo wrote:ich glaube du hast da einen kleinen punkt falsch verstanden:

was ich gesagt habe bezieht sich auf die prinzipielle digitalisierbarkeit analoger information.

Wenn es sich bereits um "Informationen" handelt, die wir Menschen selbst gewinnen, indem wir die Medien zu ihrer Übertragug und ihre Codes vorgeben, mag eine solche Übersetzung von einem Medium ins andere durchaus möglich sein. Zwar behaupten die Vinyl-Freaks und Verfechter der analogen Musik-Aufzeichnung, dass sie NICHT adäquat durch digitale Verfahren ersetzbar sind, aber das mag ein Glaubenskrieg sein, in den ich mich nicht einmische. Meine (ziemlich musikalischen) Ohren sind nicht fein genug, um das zu bestätigen oder zu bestreiten. Oder ich achte zu sehr auf die jeweilige Musik.

Wichtig ist aber, dass Code und Medium bestimmen, was jeweils überhaupt eine Information ist. Es gibt keine "Information an sich", sondern immer nur "Information für..." So ist es ja auch bei unseren Sinnesorganen. Nicht die wahrgenommenen Dinge erstellen die Daten, sondern unsere Sinne. In wie viele "Pixel" z. B. eine Lichtprojektion auf unsere Netzhaut zerlegt wird, bestimmt die Netzhaut. Und wie diese "Daten" weitergeleitet und "verarbeitet" werden, bestimmt unser Gehirn usw.

Und genau weil das so ist, wird es doch erst zur relevanten Frage, wieso überhaupt unsere Wahrnehmungen eine "objektive Gültigkeit" (Kant) haben können.

Wäre etwa die Umwandlung von Lichtprojektionen in Wahrnehmungen von den wahrgenommenen Dingen vorgegeben, d. h. würde eine externe Instanz über die Richtigkeit unserer "Übersetzung" wachen, hätten WIR kein Wahrheitsproblem, sondern diese externe Instanz. Wir könnten ihr einfach nur vertrauen und hoffen, sie sei kein "deus malignus", der sich einen Schabernack mit uns erlaubt.

 

Quote:das ist der eigentliche punkt, auf den ich hinaus wollte: dass kognition zunächsteinmal voraussetzt, dass objekte analysiert werden können. die frage, ob ein objekt in natura aus einzelteilen besteht oder nur als organisches ganzes existiert ist irrelevant; wichtig ist nur, dass wir es analytisch in teile zerlegen können.

" Objekt in natura" ist ein Widerspruch in sich selbst. Denn es mag zwar "Dinge" und "Entitäten" in natura geben, aber keine Objekte, da es Objekte nur für Subjekte geben kann. Auf diesen feinen Unterschied kommt es uns von der Kant-Fraktion gerade an. Da kannst Du nicht einfach sagen, er sei irrelevant. :-)

Dass OBJEKTE grundsätzlich analysierbar sind, gestehe ich ohne Probleme zu. Denn da es Objekte FÜR UNS sind, sind wir ja auch für die Synthesis zuständig, die sie hervorbringt. Trotzdem... siehe weiter unten...

 

 

Quote:die frage ist: haben wir repräsentative informationen von gegenständen oder nicht - wenn nein, was sind die informationen, welche wir haben, und woher stammen sie?

Wie gesagt: Es hängt vom Medium und dem Code des EMPFÄNGERS ab, was jeweils als Information GILT. Diese Abhängigkeit ist der Ursprung des Wahrheitsproblems.

Übrigens hat niemand (außer den Berkeley-Anhängern und Solipsisten) jemals bestritten, dass unsere Sinnesreize, ja dass unsere Anschauungen sich nach den Gegenständen richten Dieses Sich-richten-nach ist eben DIE ANDERE notwendige "Bedingung der Möglichkeit" von Erfahrung und ihrer objektiven Gültigkeit.

- - - - -

Nun noch ein paar Gedanken zur Frage der "Digitalisierbarkeit" von Ganzen.

Wie der Vergleich z. B. von Digitaluhren und den traditionellen Zifferblatt-Uhren zeigt, hat das Zifferblatt mit der jeweiligen Zeigerstellung eine unmittelbare "Gestalt" -Qualität, die sich von der Anschauungsqualität der Zahlen erheblich unterschiedet. Für den Zweck der Zeitmessung ist es einerlei, welche Darstellungsform wir wählen. Aber nicht für das Ablesen, also den individuellen Gebrauch des Messinstruments.

Und was die "Übersetzung" einer Kurve in eine mathematische Funktion angeht: Ich denke, dass jenes KONTINUUM der Kurve, das durch die Funktion nur "in unendlicher Näherung" dargestellt werden kann, ein Hinweis auf die Irreduzibilität unserer Anschauung ist. Die grundsätzliche Unabhängigkeit der beiden "Quellen" oder "Stämme" unserer Erkenntnis - intuitive Anschauungen und diskursive Begriffe - ist für Kant so wesentlich, dass er genau darauf seine Kritik der Leibnizschen Metaphysik gründete. Leibniz, genialer Mathematiker, der er war, ging - wie Du - davon aus, dass sich Dinge VOLLSTÄNDIG bestimmen (d. h. berechnen) ließen. Cum deus calculat, mundus fit - Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt. Demgegenüber hält Kant energisch an einem Rest von Unverfügbarkeit fest, die unseren Anschauungen eignet. An diesr Unverfügbarkeit und externen Bedingtheit hängt letztlich die Möglichkeit, etwas "außer uns" zu erkennen. Außerdem macht dieser unauflösliche "Rest" von "Gegebenheit" überhaupt das DASEIN (die Existenz) von etwas aus. Leibniz (und die Seinen) träumte gewissermaßen von der kreativen Kraft der Mathematik (nicht der menschlichen, aber der göttlichen), durch präzise Berechnung Dinge "ins Dasein zu rufen"...

Die Irreduzibilität sinnlicher Qualitäten zeigt sich bei jeder Übersetzung von einem Code in einen anderen. Darum ist z. B. Poesie eigentlich unübersetzbar, weil Poesie nicht nur vom Sinn, sondern auch von der Sinnlichkeit der Zeichen lebt. Und aus diesem Grund "hängen" wir mit einer gewissen Senitmentalität an den vertrauten Codes und ihren sinnlichen Gegebenheiten (siehe wieder die Vinyl-Freaks). Diese Anhänglichkeit ist auch die Quelle, aus der sich der "Sammlerwert" von ausrangierten Objekten speist. Dampflokomotiven, alte Uhren und Möbel... Denn dieses Sinnliche stiftet unsere höchsteigene, "somatische" Verbindung zum Sinn und zum Sein.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 03. Feb. 2005, 14:23 Uhr

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hallo alle zusammen,

ich habe einige beiträge zuvor schon vorgeschlagen, die perspektive umzukehren, und danach zu fragen, was ist ein irrtum, bzw. wann sagen wir, dass wir uns geirrt haben.

es gibt viele verschiedene anwendungsfälle, in welchen wir sagen, dass wir uns geirrt haben:

· eine falsche zuordnung von fakten »ich dachte napoleon starb auf korsika« statt »napoleon starb auf st. helena« indem man sich z. B. falsch erinnert, oder eine falsche quelle benutzt hat

· ein missverständnis»... und ich dachte du meintest A statt B« ausgelöt durch eine falsche interpretation von zusammenhängen

· verwechslung von personen »...ach, sie sind nicht X, sie sehen ihm aber sehr ähnlich«

· falsche anwendung von regeln »...jetzt habe ich mich verrechnet«

· antizipation anderer ergebnisse »...ich habe auf herzinfarkt getippt, aber der arzt sagt, mein kreislaufproblem sei durch schlafapnoe verursacht«

· absichtliche täuschung »A verkleidet sich als B um anderen vorzutäuschen B habe eine straftat begangen«

· falsche regeln »versehentlich wurde ein wegweiser in die entgegengesetzte richtung aufgestellt, so dass man sich verfahren muss«

diese wenigen beispiele kann man exemplarisch herausgreifen, um die fülle an arten und weisen wie man sich irren, wie man getäuscht werden kann, aufzuzeigen. was allen diesen beispielen gemeinsam ist, ist, dass der irrtum auf einer interpretationsebene stattfindet. eine bewußte täuschung zum beispiel funktioniert nach dem muster, dass jemand zu einer interpretation A der zusammenhänge verleitet wird, obwohl interpretation B die angebrachtere ist (" sich verkleiden", "etwas fälschen", "jemanden belügen", "jemanden einen falschen weg sagen" etc.). der sender gibt bewußt falsche informationen an den empfänger weiter, um die interpretation des empfängers zu manipulieren. die andere art irrtümer, die ich in den beispielen angeführt habe, sind irrtümer in denen nicht der sender die information manipuliert, sondern derjenige, der die interpretation der information vornimmt stellt falsche Schlussfolgerungen an (" etwas verwechseln", "etwas anderes erwarten" etc.).

so far ... any comments?

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zu hermeneuticus:

 

Quote:Wichtig ist aber, dass Code und Medium bestimmen, was jeweils überhaupt eine Information ist.

der code bestimmt nicht, was eine information ist, sondern wie sie übersetzt wird (z. B. der binäre code sieht vor, information als ketten von 0 und 1 zu übersetzten). das maß für die information selbst läßt sich anhand der länge der ketten von 0 und 1 angeben in Bit, z. B. 00001001010101010101011101011010 ist eine 32-bit (2 double word) information und entspricht der zahl 156587866 oder z. B. den ersten 32 bildpunkten eines schwarzweiß-bildes. 32 bit entsprechen einer kombination von 4294967296 nullen und einsen.

zu bedenken ist, dass information (narchrichtentechnisch) nichts mit dem inhalt einer botschaft zu tun hat.

 

Quote:In wie viele "Pixel" z. B. eine Lichtprojektion auf unsere Netzhaut zerlegt wird, bestimmt die Netzhaut. Und wie diese "Daten" weitergeleitet und "verarbeitet" werden, bestimmt unser Gehirn usw.

das hat aber nichts mit dem von dir gesagten zu tun, dass eine selektion stattfindet, was eine information ist, sondern welche menge an information übertragen, bzw. verarbeitet werden kann.

 

Quote:" Objekt in natura" ist ein Widerspruch in sich selbst. Denn es mag zwar "Dinge" und "Entitäten" in natura geben, aber keine Objekte, da es Objekte nur für Subjekte geben kann. Auf diesen feinen Unterschied kommt es uns von der Kant-Fraktion gerade an. Da kannst Du nicht einfach sagen, er sei irrelevant.

verlieren wir uns nicht in terminologischen spitzfindigkeiten. wenn es beliebt ersetze "objekt" durch "ding".

ich kann sehr wohl sagen, dass es irrelevant ist, ob wir die information von den dingen haben oder nicht, denn relevant ist für unsere fragestellung, dass wir überhaupt information haben - was ja nachwievor unstrittig ist (" Dieses Sich-richten-nach ist eben DIE ANDERE notwendige "Bedingung der Möglichkeit" von Erfahrung und ihrer objektiven Gültigkeit." ).

 

Quote:dass sich Dinge VOLLSTÄNDIG bestimmen (d. h. berechnen) ließen.

das trifft auf leibniz zu, habe ich aber nie behauptet, oder? von "vollständiger" berechnung habe ich nie gesprochen. ich würde bestenfalls von approximtion sprechen.

 

Quote:Die Irreduzibilität sinnlicher Qualitäten zeigt sich bei jeder Übersetzung von einem Code in einen anderen. Darum ist z. B. Poesie eigentlich unübersetzbar, weil Poesie nicht nur vom Sinn, sondern auch von der Sinnlichkeit der Zeichen lebt. Und aus diesem Grund "hängen" wir mit einer gewissen Senitmentalität an den vertrauten Codes und ihren sinnlichen Gegebenheiten (siehe wieder die Vinyl-Freaks). Diese Anhänglichkeit ist auch die Quelle, aus der sich der "Sammlerwert" von ausrangierten Objekten speist. Dampflokomotiven, alte Uhren und Möbel... Denn dieses Sinnliche stiftet unsere höchsteigene, "somatische" Verbindung zum Sinn und zum Sein.

nette philosophische prosa, aber was bringt uns das für unsere diskussion?

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 03. Feb. 2005, 14:55 Uhr

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Hallo Eberhard,

du schreibst:

" Wenn man unter "sehen" versteht: "mit den Augen wahrnehmen" (so mein Sprach-Brockhaus), dann habe ich noch niemals meinen Bewusstseinsinhalt gesehen, denn (zum Glück) kann niemand Bewusstseinsinhalte mit seinen Augen wahrnehmen, auch nicht die eigenen Bewusstseinsinhalte.

Also ist die Antwort auf Deine rhetorische Frage entweder falsch, oder Du gebrauchst das Wort "sehen" anders als üblich."

 

Hm, wenn du noch nie deine Bewusstseinsinhalte gesehen hast, woher weißt du dann von ihnen? Wenn du sie doch gar nicht wahrnehmen kannst. Vor allem, wozu sollte es dann überhaupt Bewusstseinsinhalte geben? Wozu überhaupt Bewusstsein? Vielleicht sind wir ja schon längst tot und merken es nur nicht [cheesy].

Aber im Ernst: gebrauche ich das Wort "sehen" anders als üblich? Ich weiß nicht. Mit was siehst du eigentlich? Mit deinen Augen? Hm, und was machst du mit dem Gehirn solange? Ich sehe z. B. mit meiner Brille. Glaubst du mir nicht? Ich kann aber ohne Brille fast nichts sehen, also sehe ich doch mit der Brille! Allerdings könnte ich ohne Augen auch nichts sehen, da geht es mir wie dir. Aber auch ohne Gehirn nicht. Ohne Licht auch nicht. Also wer oder was sieht letztenendes nun? Und mit was?

Zitat:

" Wann ist eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wahr?

Was ist das Kriterium für die Wahrheit von derartigen Aussagen?

Die von fast allen akzeptierte Antwort darauf lautete:

Wenn eine Aussage über die Wirklichkeit wahr sein soll, dann müssen die aufgrund der Aussage zu erwartenden Wahrnehmungen mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen vereinbar sein.

Es bestand unter uns jedoch keine Übereinstimmung über die genaue Bedeutung der Wörter "Wirklichkeit" und "Wahrnehmung"."

Dazu folgender Dialog:

A: "Hättest du gedacht, dass tatsächlich Heinz das Auto geklaut hat?"

B: "Nein, nie im Leben hätte ich gedacht, dass das wahr sein kann"

A: "Naja, es war ja auch nicht wahr"

B: "Wie meinste das jetzt wieder"

A: "Es kann doch nicht wahr gewesen sein, es war doch nur ein Film!"

B: "Du mit deinen blöden Grundsatzdiskussionen, das gehört überhaupt nicht hierher!"

Ich meine, es ist schon mehr als heikel, zu glauben, man könne das Wesen der Wirklichkeit gedanklich erfassen. Aber wenn wir dann noch Grundsatzdiskussionen ausschließen…..

Ich will dich nicht verarschen, lieber Eberhard. Ich hoffe, du kriegst meine Ironie nicht in den falschen Hals.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 03. Feb. 2005, 15:41 Uhr

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Hallo Thomas!

Ich bekräftige:

 

Quote:Wichtig ist aber, dass Code und Medium bestimmen, was jeweils überhaupt eine Information ist. Es gibt keine "Information an sich", sondern immer nur "Information für..."

Medium und Code geben die FORM vor, durch die INHALTLICHE Informationen erst GEWONNEN werden können. So gewinnen unsere Augen z. B. aus Röntgenstrahlen keine Information, weil es ihre Beschaffenheit nicht erlaubt, darauf zu reagieren bzw. "Reize" von ihnen zu empfangen.

Damit ein "Reiz" ensteht, aus dem dann eine Inforamtion (d. h. ein sinnhaftes Element) werden kann, muss beides gegeben sein: die Rezeptivität dafür und ein jeweiliges Etwas, das da "reizt". Aber "Rezeptivität" ist eben die Form, die Art und Weise, in der etwas überhaupt von etwas anderem "gereizt" werden kann.

Zur Form der Rezeptivität gehört das Bereitstellen verschiedener Möglichkeiten. Eine Sehzelle z. B. muss also die beiden möglichen Zustände der Reizung (I) und der Nicht-Reizung (O) bereithalten, weil es genau die DIFFERENZ zwischen I und O ist, die eine Information ausmacht (ein "bit" ). Diese "Bereitstellung" der Zustände I und O, dieser Spielraum zwischen zwei Möglichkeiten kommt nun eben nicht mit der "Information selbst" in die Sehzelle, sondern ist die VORAUSSETZUNG dafür, dass überhaupt etwas von einem Objekt übermittelt werden kann.

 

Quote:nette philosophische prosa, aber was bringt uns das für unsere diskussion?

Immerhin lässt Du es als PHILOSOPHISCHE Prosa gelten... Ob es Dir oder uns "etwas bringt", magst Du selber sehen. Betrachte es einfach als eine generöse Geste von mir, mit der ich über das ökonomisch Notwendige hinaus etwas zum Besten gebe... :-)

Hat in der Philosophie nur das eine Berechtigung, was "etwas bringt" ? Und was "bringt" Dir dann letztlich unsere Diskussion insgesamt? Kannst Du Dir dafür etwas kaufen?

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 03. Feb. 2005, 16:50 Uhr

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Quote:Hat in der Philosophie nur das eine Berechtigung, was "etwas bringt" ? Und was "bringt" Dir dann letztlich unsere Diskussion insgesamt? Kannst Du Dir dafür etwas kaufen?

ich bin es gewohnt, ergebnisorientiert zu arbeiten ;)

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von gershwin am 03. Feb. 2005, 17:03 Uhr

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Hi Leute

Schätzungsweise werdet Ihr Euch dann niemals einigen können, wenn Ihr weiterhin Euren Wahrheitsbegriff in einen weiter gefaßten Kontext einbettet (mehr reinpackt als nötig) als ich das tue. Denn Eure verschiedenen impliziten Zusatzvoraussetzungen sind reine Willkür. Mit meinen Worten: Hier sind Definitionsmächte am Werk (Definition bezieht sich hier auf die Sprachspiele, also sowohl auf die Bedeutung der benutzten Begriffe als auch die erlaubten Verknüpfungen zu Aussagen, insbesondere Folgerungen, also zwischenmenschliche Logik, die ja nicht mit formaler Logik verwechselt werden darf.), die sich der uralten Wunschvorstellung verpflichtet fühlen, dass wir Menschen etwas ganz Besonderes sind. Sind wir aber nicht, so "abstrus" das manch einem erscheinen mag. :-)

Freundliche Grüße

Thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 03. Feb. 2005, 17:40 Uhr

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Hallo Hermelineuticus,

du schreibst:

" Wenn "Wirklichkeit" implizit oder explizit gleichbedeutend ist mit dem "Gesamt des (sinnlich) Erfahrbaren", liegt darin eine Subjektivierung des Wirklichkeitsbegriffs."

Das ist richtig,, aber wie sollte ein Wirklichkeitsbegriff denn sonst sein? Auch wenn wir uns eine objektive Wirklichkeit zu errechnen glauben, bleibt dies eine subjektive Berechnung.

Schließlich berechnet und interpretiert doch jemand.

Egal, was man sich vorstellt oder glaubt zu wissen, es bleibt immer subjektiv (im Sinne von "wahrnehmend, nicht im Sinne von "persönlich" ).

dass es überhaupt sowas wie Wirklichkeit geben könnte, wissen wir nur aufgrund subjektiver Wahrnehmung.

" Und damit wird die Frage virulent, von welchen subjektiven oder inter-subjektiven Bedingungen die elementaren Erfahrungsinhalte jeweils abhängig sind, über die dann wahre/falsche Aussagen gemacht werden können."

Stimmt.

" Allerdings: Wenn man zeigen könnte, dass unsere sinnliche Erfahrung eigentlich ein determiniertes Naturgeschehen ist, dann hätte man das Problem der Subjektivierung von "Wirklichkeit" elegant gelöst. Denn dann wäre ja die "objektive Verankerung" unserer Erfahrungen garantiert."

Raffinierter Gedanke! Das geht ein wenig in meine Richtung, da ich ja sage, Subjektivität und Objektivität sind ein- und dasselbe. Du weißt schon: Objektivität ist subjektiv, und Subjektivität erscheint objektiv.

Allerdings würde ich nicht unbedingt von Determinierung sprechen. Wieso sollte die Wirklichkeit unbedingt in eine der beiden begrifflichen Kategorien "frei" oder "determiniert" fallen?

" Nur müsste dann erklärt werden, wieso wir überhaupt irren können und so etwas wie Wahrheitskriterien überhaupt brauchen..."

Weil das eben zu dem von dir genannten "Naturgeschehen" gehört. Und jede Antwort auf diese Fragen gehört ebenso dazu. Wir können uns nicht außerhalb des Naturgeschehens (was immer das sein mag) stellen, auch wenn wir es uns noch so fest einbilden. Und auch diese Einbildung gehört zum Naturgeschehen.

Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich habe das Gefühl, dass hier immer versucht wird, auf relative Fragen absolute Antworten zu finden (was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit).

Und das ist meiner Ansicht nach eben unmöglich.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 03. Feb. 2005, 18:10 Uhr

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Hallo hel,

ich habe von Berkeley nichts gelesen, ich kenne nur seine Grundaussagen. Es geht wohl in meine Richtung (esse est percipii), aber mehr kann ich dazu nicht sagen.

Mir geht es auch darum, den Dualismus zwischen Bewußtsein und Materie aufzulösen. Der ist meiner Meinung nach aber nicht aufzulösen, indem ich die Materie leugne und nur von Geist ausgehe. Dann hätte ich sie ja doch wieder getrennt, Dualismus durch die Hintertür. Bewußtsein und Materie sind ein- und dasselbe, wie ich es sehe. Materie ist die (Erscheinungs-)Form der Wirklichkeit, Bewußtsein (Geist, Leere, Nichts) ist ihr Wesen.

du schreibst:

" Meine Frage an Dich ist nur. Wie erklärst Du Dir aus Deinem Weltbild heraus die Phänomene, mit denen wir es zu tun haben? dass man nichts sehen kann, wenn keine Lichtquelle zur Verfügung steht. dass Du, wenn Du den Dom von allen Seiten sehen willst, auch um ihn herumgehen musst. Oder, wenn Du einen Stab in eine Badewanne hältst, der Stab nicht wirklich geknickt ist, sondern nur so erscheint. Und so weiter ad infinitum. Das physikalische Weltbild versucht für diese Phänomene Erklärungen zu finden. Was mich interessieren würde, wären Erklärungen aus Deinem Weltbild heraus."

Ich hatte vor kurzem einen Traum, in dem ich durch lange Gänge rannte. Was sind die geistigen Bilder eines Traumes ontologisch gesehen? Geist. Nichts. Aber in diesem Traum gab es sehr wohl Schwerkraft, wie ich vor allem beim Treppenhinaufrennen spürte. Es gab auch Licht, und alle möglichen "physikalischen" Phänomene. Aber all das gab es nicht wirklich, es war ja "nur" ein Traum. Also waren alle physikalischen Phänomene eine reine Konstruktion des Bewußtseins. Obwohl ich sie konstruiert hatte, konnte ich sie aber während des Traumes nicht beeinflussen. Die Schwerkraft blieb, das Licht auch. Auch schien ich all die Gänge mit meinen (geträumten) Augen wahrzunehmen.

Nimm dieses Beispiel nicht allzu wörtlich, ich habe nicht vor, unsere Wirklichkeit zu einem Traum zu degradieren. Es geht nur um das Prinzip, dass Zeit, Raum und Dinge erscheinen können, ohne dass da tatsächlich Zeit und Raum ist.

Das heißt, ich als Mensch muss mich mit den (geträumten) Dingen dieser Realität genauso auseinandersetzen wie jeder Mensch. Dennoch glaube ich, dass ich gleichzeitig diese ganze Realität bin, in der ich mich als Person bewege, mit all ihren Schwierigkeiten. Hier stößt die Sprache aber an ihre Grenzen.

Wenn ich vom Bewußtsein als "es" spreche, impliziert es, dass ich davon getrennt bin. Sage ich "ich" dazu, kann es missverstanden werden, in dem Sinne: Ich schon, du aber nicht. Ich denke aber, dass jedes Wesen sich als dieses universelle Bewußtsein fühlen darf. Wenn es sich um etwas raum- und zeitloses handelt, kann es auch keine Teile davon geben.

Hier noch ein Zitat eines Freundes von mir:

" Die naturwissenschaftlichen Aussagen sind nicht falsch, sie unterstellen nur eine verkehrte Prämisse und eben deswegen, weil sie geradezu unfähig scheinen sich von diesem materialistischen Paradigma zu lösen, verstricken sie sich immer mehr in ihren eigenen Paradoxien; sorgen für immer mehr Verwirrung als Klarheit!

Wenn die Naturwissenschaften ihr Paradigma verlassen und erkennen, dass nicht der Geist in der Welt, sondern die Welt im Geiste ist, dann passen auch die naturwissenschaftlichen Gesetze -quasi unter umgekehrten Vorzeichen- zusammen."

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 03. Feb. 2005, 20:16 Uhr

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Hallo wuwei,

Du bleibst also bei Deiner Meinung, dass man (visuelle) Bewusstseinsinhalte sehen kann.

Wenn man unter "sehen" versteht "mit den Augen wahrnehmen", dann lautet Deine Behauptung:

" Ich kann mit meinen Augen meine (visuellen) Bewusstseinsinhalte wahrnehmen."

Das willst Du offenbar nicht behaupten. Oder?

Wenn nicht, dann muss das Wort "sehen" in Deinem Satz eine andere Bedeutung haben. Leider erläuterst Du diese andere Bedeutung nicht.

Stattdessen versuchst Du, die Wahrheit des Satzes: "Man kann seine (visuellen) Bewusstseinsinhalte sehen" anderweitig zu begründen. Du fragst: "Wenn du noch nie deine Bewusstseinsinhalte gesehen hast, woher weißt du dann von ihnen?"

Meine Antwort: Mach die Augen zu und stell Dir einen Schäferhund mit 8 Beinen, einem himmelblauen Fell und nur einem Auge vor. Deine Phantasie bzw. Vorstellungskraft erzeugt jetzt einen visuellen Bewusstseinsinhalt in Form dieses Hundes, ohne dass Du einen solchen Hund jemals gesehen hast. Diesen Bewusstseinsinhalt kannst Du Dir merken und wieder erinnern, so wie visuelle Wahrnehmungen und alle anderen Bewussteinsinhalte auch.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 03. Feb. 2005, 22:35 Uhr

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Hallo Hel,

Du weist daraufhin, dass das Kriterium "Vereinbarkeit der theoretisch zu erwartenden Wahrnehmungen mit den tatsächlich gemachten Wahrnehmungen" nicht ausreicht, um die Wahrheit eines Satzes zu bestimmen. Der Grund hierfür liegt darin, dass dieselben wahrnehmbaren Fakten mit unterschiedlichen Theorien erklärt werden können. Es ist dann nicht entscheidbar, welche dieser Theorien wahr ist.

Dem stimme ich zu. Meines Erachtens lassen sich verschiedene Stufen der Geltung von Behauptungen unterscheiden. Eine Aussage kann nicht nur als "wahr" behauptet werden, es gibt auch den abgeschwächten Geltungsanspruch der "(rationalen) Vertretbarkeit" für eine Aussage. Während von zwei sich widersprechenden Aussagen nur eine "wahr" sein kann, können gleichzeitig mehrere einander widersprechende Aussagen "rational vertretbar" sein.

Dies ist z. B. auch dann der Fall, wenn bisher keinerlei geeignete Wahrnehmungen in Bezug auf eine Aussage gemacht wurden.

Für den Wissenschaftler ist ein solcher Zustand jedoch ein ungemütlicher Zustand und er wird versuchen, einen Bereich zu finden oder durch gezielte Versuchsanordnung zu schaffen, wo beide Theorien unterschiedliche Wahrnehmungen erwarten lassen. Ein solches "experimentum crucis" beendet dann die Vertretbarkeit mehrerer konkurrierender Theorien.

Zu Tarskis Formel "Der Satz 'p' ist wahr, wenn p". Die hintere Satzhälfte bildet meiner Meinung nach kein praktikables Prüfkriterium. Wenn jemand behauptet (= mit dem Anspruch auf Wahrheit äußert): "Auf diesem Tisch liegt ein Bleistift", wie kann man entscheiden, ob es so ist, wie behauptet wird? Woher können wir wissen, ob etwas in einer bestimmten behaupteten Weise beschaffen ist?

Dazu einige Beispiele:

Angenommen, jemand behauptet: "Das alte Berlinder Stadtschloß an der Spree wurde abgerissen."

Wie kann ich entscheiden, ob diese Aussage wahr ist?

Ist dafür entscheidend, ob ich es richtig finde, dass dies Schloss abgerissen wurde? Ist dafür entscheidend, dass ich geträumt habe, ich ginge durch die Säle des alten Stadtschlosses? Ist dafür entscheidend, dass man in einem Bildband über Berlin ein Foto vom Stadtschloss sehen kann? Muss ich nach Leuten suchen, die den Abriss mit eigenen Augen gesehen haben? Oder ist entscheidend, ob ich das alte Stadtschloss sehe, wenn ich auf den Schlossplatz gehe?

Angenommen jemand behauptet: "Das Ulmer Münster ist höher als der Kölner Dom".

Wie kann ich prüfen, "ob dem so ist" ? Muss ich dazu Meyers Konversationslexikon befragen? Muss ich die Autorität auf dem Gebiet der deutschen Sakralbauten, Dr. Goticus, befragen? Oder muss ich von beiden Gebäuden die Höhe messen und nachsehen, welches Gebäude den größeren Wert erreicht?

Angenommen, jemand behauptet den Satz: "Die Erde ist vor 6137 Jahren entstanden"

Was ist das Kriterium für die Wahrheit dieses Satzes? Muss ich nachsehen, welches Alter der Erde in der Bibel zugesprochen wird? Muss ich nachsehen, welches Erdalter der Patriarch von Moskau nennt? Oder muss ich das Alter der auf der Erde befindlichen Objekte messen (z. B. aufgrund der bekannten Halbwertzeit von radioaktivem Kohlenstoff) und nachsehen, ob eins davon älter als 6137 Jahre ist?

 

Tarskis Formel : "Ein Satz ist wahr, wenn es so ist, wie der Satz besagt" fasse ich als eine Definition auf, die die Bedeutung des Wortes "wahr" festlegt.

Aus dieser Definition lassen sich folgende weitere Schlussfolgerungen ziehen:

1. Das Wort "wahr" wird ohne Bezug zu irgendeinem Subjekt verwendet.

Es heißt also nicht "wahr für Helmut" oder "wahr für Christen" oder "wahr für mich". Das Prädikat "wahr" gilt also ohne Einschränkung für jedes beliebige Subjekt. Insofern ist der Anspruch auf die Geltung eines Satzes als "wahr" ein Anspruch auf intersubjektive Geltung als wahr.

2. Das Wort "wahr" wird ohne Bezug auf einen bestimmten Zeitpunkt oder Ort verwendet.

Es heißt also nicht: "wahr in Dresden" oder "wahr im Römischen Imperium" oder "wahr im 14. Jahrhundert oder "heute wahr". Das Prädikat "wahr" gilt also ohne irgendeine raum-zeitliche Einschränkung. Insofern ist der Anspruch auf die Geltung eines Satzes als "wahr" ein Anspruch auf intertemporale und interlokale Geltung als "wahr".

3. Das Wort "wahr" wird ohne Bezugnahme auf den Sprecher des betreffenden Satzes verwendet.

Für die Wahrheit eines Satzes spielt es deshalb keine Rolle, wer diesen Satz behauptet.

Der Beitrag ist leider etwas lang geraten. Ich hoffe trotzdem, dass er nicht langweilig war.

Es grüßt Euch Eberhard,

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 04. Feb. 2005, 11:42 Uhr

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Hallo Eberhard,

die Missverständnisse ergeben sich, weil du Bewußtseinsinhalte und Dinge da draußen für unterschiedliche Phänomene hältst. Du glaubst, dass du hauptsächlich Dinge wahrnimmst, die von dir getrennt sind. Daher muss dir natürlich meine Aussage, dass du immer nur Bewußtseinsinhalte wahrnimmst, absurd vorkommen. Natürlich gibt es keinen von dir getrennten Bewußtseinsinhalt, den du aus einer gewissen Entfernung mit deinen Augen siehst.

Aber das, was du "mit den Augen wahrnehmen" nennst, spielt sich nur innerhalb "deines" Bewußtseins ab. Die Summe all deiner Wahrnehmungen befindet sich innerhalb deines Bewußtseins. Du könntest sonst überhaupt nichts wahrnehmen. Wenn sich etwas außerhalb des Bewußtseins befinden würde, würdest du es nicht sehen.

Der Kölner Dom, den ich mir jetzt gedanklich vorstelle, befindet sich genauso in "meinem" Bewußtsein, wie der "reale" Kölner Dom, vor dem ich vielleicht irgendwann mal wieder stehe.

Natürlich besteht da ein "qualitativer" Unterschied. Wie auch ein Unterschied besteht zwischen einem vorgestellten Schäferhund-Wolpertinger und einem Schäferhund, der mich in die Hand beißt. Dennoch erscheinen beide im Bewußtsein, nirgendwo anders.

Wie gesagt: solange man daran festhält, dass man ein persönliches Bewußtsein besitzt und sich dieses lokalisierbar im Kopf befindet, erscheinen meine obigen Aussagen natürlich albern. Man muss halt genügend offen sein, um diese Dogmen zu hinterfragen.

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von hel am 04. Feb. 2005, 14:15 Uhr

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Hallo Hermeneuticus

 

Quote:An Deinem Beitrag verstehe ich manches nicht. z. B. weiß ich nicht, worin für Dich der Unterschied zwischen Geltungsbedingungen und Wahrheitskriterien besteht. Vielleicht kannst Du das noch ein wenig verdeutlichen.

 

Ich habe den Begriff Wahrheitskriterium vielleicht ein bißchen eng gefaßt. Idealer Weise,

wenn ich für irgend etwas ein Kriterium haben möchte, sollte dieses Kriterium hinreichend und notwendig sein. Hinreichend bedeutet: wenn das Kriterium erfüllt ist, ist der Satz sicher wahr. Notwendig bedeutet: das Kriterium muss auch erfüllt sein, damit ein Satz wahr ist.

Betrachten wir das von Eberhard aufgeführte Wahrheitskriterium:

" Wenn eine Aussage über die Wirklichkeit wahr sein soll, dann müssen die aufgrund der Aussage zu erwartenden Wahrnehmungen mit unseren tatsächlichen Wahrnehmungen vereinbar sein."

Ich versuchte dann mit Beispielen zu zeigen, - Eberhard hat mir mittlerweile zugestimmt – dass dieses Kriterium nicht hinreichend ist, um mit Sicherheit zu sagen, dass ein Satz wahr ist, wenn er dieses Kriterium erfüllt. (Zwei unterschiedliche Theorien können die gleichen zu erwartenden Wahrnehmungen voraussagen.)

Zweitens habe ich behauptet, dass es für einen Satz nicht zwingend notwendig ist, dieses Kriterium zu erfüllen, um wahr zu sein. Ich kam zu einem ähnlichen Schluss wie Du:

 

Quote:Ich vermute hinter der Eingrenzung der Fragestellung mithilfe dieser Formulierung eine bestimmte Absicht. Und zwar die Absicht, durch die Fragestellung schon eine Vorentscheidung dahingehend zu treffen, dass Wahrheit gleichbedeutend mit erfahrungswissenschaftlicher Wahrheit sei.

 

Wenn ich nämlich behaupte "In diesem Zimmer ist kein Tisch" (Zum Beispiel in der Annahme, dass materielle Dinge nicht wirklich existieren". Wir sehen und fühlen und können ihn auch "messen", dann kann dieser Satz gemäß unserem Kriterium nicht wahr sein. Diese Einschränkung geht mir aber zu weit, denn die Möglichkeit, dass alle unsere Erfahrungen auf Täuschung beruhen ist nun einmal gegeben.

Als Wahrheitskriterium scheint mir also unser bisheriger Konsens nicht ganz einwandfrei.

Zu dem Wahrheitskriterium (oder vielleicht eher Wahrheitsdefinition?) von Tarski. Dieses hat, wie Eberhard richtig sagt, das große Problem, uns keinerlei Anhalt dafür zu geben, WIE wir jetzt herausfinden sollen ob es erfüllt ist.

Deswegen mein Wort "Geltungsbedingung". Eine Geltungsbedingung sollte einen praktischen Hinweis darauf geben, wann wir eine Aussage oder Theorie als wahr gelten lassen. Und als praktische Geltungsbedingung erscheint mir der Vorschlag von Eberhard schon recht brauchbar. Wenn ich nämlich behaupte, dass wir alle nur "Gehirne im Tank / oder einer Matrix" sind, dann kann das zwar wahr sein, ist aber wissenschaftlich und m.E. auch philosophisch irrelevant, weil es nicht überprüfbar ist. Wir brauchen uns mit dieser Möglichkeit nicht wirklich auseinandersetzen.

Diese Geltungsbedingung sagt: wir lassen nur diese Aussagen als wahr gelten, die wir zumindest theoretisch anhand unserer Wahrnehmungen überprüfen können und die dieser Prüfung standgehalten haben. Denn eine andere Erkenntnismethode steht dem Menschen eben nicht zur Verfügung.

Du schreibst

Quote:Ich weiß nicht, ob Du etwas Ähnliches im Sinn hast. Zumindest läuft Dein Vorschlag ebenfalls darauf hinaus: Zu jedem Satz lassen sich die Bedingungen angeben, unter denen er wahr ist. Somit machen die jeweiligen Kommunikationspartner die Wahrheit ihrer Sätze untereinander aus...

An Davidson habe ich nicht wirklich gedacht, als ich dies schrieb. Es erscheint mir aber recht vernünftig. Nur sehe ich nicht, dass die Kommunikationspartner wirklich frei sind, sich die Wahrheit ihrer Sätze "selbst untereinander auszumachen". Sondern jeder Satz schleppt quasi seine eigene Wahrheitsbedingung mit sich, anhand deren der Diskurs geführt werden muss. Es wäre eben möglich, dass keine allgemeinen Geltungsbedingungen – die für alle Aussagen gelten sollen – aufstellbar sind.

Die Frage ist eben, läßt sich überhaupt ein allgemeines methodisches Kochrezept finden, nach dem ich in allen Wissenschaftsdisziplinen und auch in der Alltagswelt vorgehen kann, um mich der Wahrheit – im Rahmen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit – zu nähern? Unsere bisherige "Geltungsbedingung" für Wahrheit schaut mir zwar recht allgemeingültig aus, ist aber genaugenommen nur eine Banalität: Jeder Satz über die Welt muss eben anhand von Erfahrungen (die zwangsläufig aufgrund von Wahrnehmungen gemacht werden) nachgeprüft werden können, um als wahr zu gelten.

Beste Grüße,

hel

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Frank am 04. Feb. 2005, 15:22 Uhr

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@ Eberhard

Wenn ich das hier richtig sehe, handelt es sich doch wohl eher um Semiotik als um die Suche nach der Wahrheit.

Ich halte es für ein wenig umständlich, die gesamte Sprache daraufhin aubzuklopfen, welche ihrer Aussagen auf die Wahrheit hindeuten und welche nicht.

Vielleicht sind wir ja einer Meinung, dass die Wahrheit sich dadurch auszeichnet immer wahr zu sein. Das unterscheidet sie z. B. von einer Meinung oder Mode.

Demnach kann die Wahrheit nicht der Zeit unterworfen sein. Denn eine Wahrheit, die sich aus temporären Gründen als Falschheit herausstellt, war niemals wahr.

Natürlich kennen wir alle die Wahrheitstabellen aus der Formalen Logik und dafür, eine verständliche Unterhaltung über, sagen wir mal, das Pasteurisieren von Käse zu führen, mögen diese auch richtig und hilfreich sein.

Über die Wahrheit jedoch sagt das garnichts aus. Denn Wahrheit ist ein unumstößlicher, unveränderlicher Zustand, der ganz und gar nicht auf Menschen und das was sie zu sagen haben angewiesen ist.

Gruss

Frank

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 04. Feb. 2005, 18:08 Uhr

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Hallo wuwei,

mir ging es bei unserm Disput um zwei Punkte:

Zum einen will ich auch zukünftig ohne philosophische Bauchschmerzen sagen können: "Ich habe den Kölner Dom gesehen (und nicht nur ein Bild davon).

Deshalb meine Kritik an der These, man könne keine real existierenden Dinge sehen, sondern nur Bilder dieser Gegenstände.

Zum andern will ich auch künftig ohne philosophische Bauschschmerzen sagen können: "Ich habe das Auto ca. 200 Meter entfernt von hier geparkt."

Deshalb meine Kritik an der Behauptung, es gäbe keine von mir räumlich getrennten Dinge.

Deine Argumente haben mich nicht überzeugt. Sie beruhen u.a. darauf, dass Du bestimmte Worte nicht in ihrer üblichen Bedeutung benutzt. (Ich habe das Wort "sehen" als ein Bespiel für diese Art der Argumentation herausgegriffen).

Ich bin wohl nicht offen genug, um mich von bestimmten Dogmen zu lösen. Nur sehe ich nicht das Argument, dessen Überzeugungskraft ich mich verschlossen hätte.

Undogmatische Grüße von Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 04. Feb. 2005, 19:37 Uhr

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Lieber Eberhard,

ich kann dich besser verstehen, als du vielleicht denkst.

du schreibst:

" Deshalb meine Kritik an der These, man könne keine real existierenden Dinge sehen, sondern nur Bilder dieser Gegenstände."

Diese These habe ich nie vertreten! Ich sage, selbst wenn es

real existierende objektive Dinge außerhalb deines Bewußtseins gäbe, dann könntest du sie nie direkt sehen, sondern höchstens nur subjektive Bilder davon. Damit denke ich nur die konventionelle Wahrnehmungstheorie konsequent weiter und merke, dass sie keinen Sinn ergibt.

Ich sage, es gibt nur diese subjektiven Bilder und die sind wiederum real. Sie sind subjektiv UND objektiv. Deswegen darfst du ohne Bauchschmerzen sagen, du siehst den Kölner Dom. Einfach so. Aber die "Quelle" für den Dom, den du siehst, ist nicht da draußen. Die Quelle ist weder drinnen noch draußen, sie ist dein Bewußtsein.

Und genauso ist dein Wagen 200m entfernt und doch gleichzeitig hier. Das ist der ganze Knackpunkt. Für deinen Körper erscheint er natürlich 200m entfernt, aber für das wahrnehmende Bewußtsein ist er hier. Absolut keine Entfernung.

Dasselbe "Prinzip" wie bei der Zeit. Alles, was du wahrnimmst, ist vergangen und doch gleichzeitig jetzt. Alle Vergangenheit existiert nirgendwo anders als in der zeitlosen Gegenwart.

Wo könntest du den gestrigen Tag denn finden, außer jetzt?

Wir können uns auf den Kopf stellen, aber es gibt keine real angehäufte Vergangenheit als solche. Zeit ist kein sich auftürmender Sandhaufen. Zeit ist nicht anderes als die zeitlose Gegenwart, die sich ständig in sich selbst verändert.

Das mag dir wieder wie eine abgefahrene These erscheinen, aber du kannst es überprüfen, hier und jetzt.

Das ist der Witz dabei: jedes dort ist gleichzeitig hier, und hier ist nirgends und überall dort. Jedes früher ist immer nur jetzt, und jetzt ist nie und gleichzeitig immer.

non-dualistische Grüße,

WuWei

P.S.: dass alles immer nur hier und jetzt ist, trage ich im Alltag auch nicht ständig auf der Zunge. Da sind für mich die Dinge auch da und dort, und früher oder später. Es ist eher eine stille gewissheit, dass sie gleichzeitig nur hier und jetzt sind.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 04. Feb. 2005, 20:48 Uhr

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Hallo WuWei!

 

Quote:Aber die "Quelle" für den Dom, den du siehst, ist nicht da draußen. Die Quelle ist weder drinnen noch draußen, sie ist dein Bewußtsein.

Die "Quelle" meines Bewusstseins (ja, ich hab auch eins! :-) ) lässt nun aber jeweils ganz verschiedene, wohl unterscheidbare Inhalte entspringen. Mal ist es der Kölner Dom, dann wieder ein Auto, das ich 200 m entfernt geparkt habe, dann wieder der Beitrag von jemand, der sich WuWei nennt, und vieles mehr...

Mein Bewusstsein ist da sehr erfinderisch.

Nun aber kommt's!

Zwar kann ich mir jederzeit, wenn ich will, den Kölner Dom vorstellen - ihn der Quelle meines Bewusstseins entspringen lassen, um es in Deinem Sinne zu sagen. Zwar kann ich diese Vorstellung nach Belieben manipulieren - ich kann sie stauchen, verzerren, umfärben... wie ich lustig bin. Nur MANCHMAL entspringt der Dom meinem Bewusstsein auf eine Weise, über die ich nicht verfüge. Ich kann mich dann auf den Kopf stellen, drumherumgehen, die Augen zukneifen, "Hokuspokus verschwindibus!" rufen... der Dom entspringt immer unverändert und unmanipulierbar auf DIESELBE Weise.

Solche Momente hat der Dom immer dann, wenn ich mitten in Köln, gleich am Rhein, neben Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig bin. Seltsam, nicht wahr?

Und ist es nicht auch seltsam, dass mein Bewusstsein die Stadt Köln irgendwie gar nicht als IN meinem Bewusstsein "enthalten" entspringen lässt, sondern als komplettes "Environment" - so zwar, dass ich mich MIT meinem Bewusstsein MITTEN DRIN erfahre. Wie macht mein Bewusstsein das bloß?

...

 

Worauf ich hinauswill: Es gibt Inhalte meines Bewusstseins und Unterschiede zwischen ihnen, die nicht von mir manipulierbar sind. Auch, wenn es stets Unterschiede zwischen Inhalten MEINES Bewusstseins sind - manche von ihnen lassen darauf schließen, dass sie ein von meinem Bewusstsein unabhängiges Eigenleben führen müssen.

Wenn Du nun aber auf einer nächsten Reflexionstufe auch dieses Eigenleben wieder ins Bewusstsein zurückverlegen willst - na, dann wird es irgendwann gleichgültig, WOHER die Inhalte und Unterschiede nun "de facto" kommen. Wenn sich an ihnen nichts dadurch ändert, dass ich sie aus dem Bewusstsein oder aus einer Außenwelt herleite, dann kann man diese Frage doch getrost auf sich beruhen lassen.

Und das ist auch die Konsquenz, die ich ziehe: Hab Du ruhig Dein ALL-ICH als Quelle unserer gemeinsamen Welt, ich behalte meine subjektiv-objektiv gemischte Version. Denn offenbar bleiben ihre wesentlichen Züge dieselben. Wir kommen einander nicht ins Gehege mit unseren verschiedenen Weltbildern. Lassen wir es doch einfach dabei!

 

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 04. Feb. 2005, 22:01 Uhr

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Hallo allerseits,

wenn ich recht sehe, finden wir keinen Satz, der einerseits etwas darüber aussagt, wie die Welt beschaffen ist, und der andererseits unabhängig von irgendwelchen Wahrnehmungen für wahr gehalten werden muss. Wer anderer Meinung ist, sollte einen solchen Satz hier zur Diskussion stellen. Sonst könnten wir diesen Punkt (vorläufig) abhaken,

meint Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 05. Feb. 2005, 00:16 Uhr

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Hallo Eberhard!

Ob wir nun einen Beispielsatz finden, der von jeder Wahrnehmung unabhängig gilt, ist für das Problem von untergeordneter Bedeutung. Vielleicht könnte man sich mit Kants "Grundsätzen des reinen Verstandes" aushelfen, von dener einer lautet: "Alle Anschauungen sind extensive Größen." Aber was wäre damit gewonnen? Können wir denn sicher sein, dass dem Problem auf die spezifisch Kantsche Weise beizukommen ist - nämlich durch das Auffinden von "synthetischen Urteilen a priori" ?

Worin besteht denn das Problem? Warum ist es für die Wahrheitsfrage relevant?

Wir stoßen auf das Problem dort, wo wir heterogene Erfahrungen machen, und zwar nicht vereinzelt und zufällig, weil verschiedene Individuen immer verschiedene Standpunkte haben usw., sondern systematisch und mit transsubjektiven Konsequenzen. Also zum Beispiel dort, wo eine Wissenschaft behauptet, der Raum sei "in Wahrheit" nicht euklidisch, während diese Behauptung von Wahnehmungen abhängt, die mit euklidischen Messgeräten gewonnen werden. Oder zum Beispiel dort, wo wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur einfach unserem lebensweltlichen Augenschein widersprechen, sondern ihm geradezu den Boden entziehen. Wie, wenn es wahr ist, dass unsere Gehirne alle unsere scheinbar spontanen oder "freien" Entscheidungen bereits eine halbe Sekunde vor unserer bewussten Entscheidung getroffen haben? Könnten wir auf eine solche erfahrungswissenschaftliche Wahrheit eine radikale Reform unserer Lebenswelt gründen? Du sagst ja gern, dass wir unserem (gemeinsamen) Handeln verlässliche Aussagen zugrundelegen müssen. Wäre das eine solche verlässliche Aussage?

 

Also, es ist doch nicht zu bestreiten, dass Wahrnehmungen und erst recht deren Interpretationen mitbedingt sind durch kategoriale Vorentscheidungen. Und da es sich dabei um Vor-ENTSCHEIDUNGEN handelt, haben wir es auch mit einer Pluralität von "Paradigmen" der Wirklichkeitskonstruktion zu tun, deren Ergebnisse nicht miteinander verträglich sein müssen. Zugleich muss es aber mit der Möglichkeit, derartige Vorentscheidungen überhaupt zu treffen, auch einen möglichen Weg geben, die verschiedenen Weltbilder oder Weltentwürfe miteinander zu vermitteln.

Den Sinn des konstitutionstheoretischen (" transzendentalen" ) Ansatzes sehe ich genau darin, eine solche Vermittlung zu ermöglichen, indem man nach den jeweiligen Voraussetzungen von Sätzen mit Geltungsansprüchen fragt. Es besteht durchaus ein echtes Bedürfnis nach einer solchen Vermittlung. Denn an den Schnittstellen der verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen kommt es immer wieder zu Verwirrungen, zumal wenn wissenschaftliches Wissen in popularisierter Form in der Öffentlichkeit kursiert. Wie es scheint, erfüllen eben erfahrungwissenschaftliche Wahrheiten durchaus nicht immer die Funktion einer verlässlichen Grundlage für unser Handeln - was gar nicht an den Erkenntnissen selbst liegen muss, sondern vielleicht mehr an ihrem Gebrauch.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 05. Feb. 2005, 06:55 Uhr

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Hallo Thomas J,

Du hast vorgeschlagen, dass wir einmal umgekehrt fragen, was meinen wir mit dem Wort "Irrtum" ? Wie kann man feststellen, ob man sich geirrt hat?

Zur Begriffsbestimmung:

Es irrt sich immer ein bestimmtes Subjekt in Bezug auf einen bestimmten Satz, den es für wahr hält, obwohl er falsch ist: "irren" bedeutet, "einen falschen Satz für wahr halten".

Aus dieser Definition folgt:

Der Begriff des Irrtums setzt den Begriff der Wahrheit voraus.

Insofern als man sich der Wahrheit eines Satzes nicht sicher sein kann, kann man sich auch des Irrtums nicht sicher sein. Man kann also auch fälschlicherweise davon überzeugt sein, dass man sich irrt.

Wenn man einen falschen Satz behauptet, den man selber nicht für wahr hält, so ist das kein Irrtum (sondern eine Lüge).

Schwierig wird es, wenn man annimmt, dass ein Mensch sich selbst belügen kann. Dann hält er etwas für wahr, von dem er "eigentlich weiß", dass es falsch ist.

Ich würde auch nicht von einem Irrtum sprechen, wenn jemand weiß, dass ein bestimmter Satz ungewiss ist, und ihn mangels besseren Wissens trotzdem probehalber seinem Handeln zugrunde legt. Angenommen ich weiß, das in dem Korb A 10% der Feigen wurmstichig sind, während im Korb B 50% wurmstichig sind. Wenn ich dann eine Feige aus Korb A nehme, und diese ist wurmstichig, dann habe ich mich nicht geirrt, denn ich würde beim zweiten Mal wiederum eine Feige aus dem Korb A nehmen.

Soweit erstmal meine Vorschläge zur Begriffsbestimmung.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 05. Feb. 2005, 11:13 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

Du fragst, warum die Feststellung wichtig ist, dass man Aussagen über die Beschaffenheit unserer Welt nicht ohne Rückgriff auf unsere Wahrnehmungen beantworten kann. Meines Erachtens ist dies wichtig, wenn man methodisch richtig an Fragen oder Behauptungen herangehen will.

Ich will kurz skizzieren, was ich unter "richtiger Methode" verstehe.

Angenommen ich habe vor mir einen Text, in dem offenbar etwas behauptet wird, und ich frage mich, ob diese Behauptung richtig ist.

Um festzustellen, ob überhaupt etwas behauptet wird und wenn ja, was, muss ich zuerst die Bedeutung des Textes klären.

Häufig wird aus dem Text nicht deutlich, ob darin Behauptungen aufgestellt werden, oder ob es sich stattdessen um Festlegungen des Wortgebrauchs handelt. Ich nenne als Beispiel den Satz: "Wissen besteht in der richtigen Beantwortung von Fragen".

Oft ist es auch schwer zu erkennen, ob in dem Text ein theoretisches Modell entworfen wird oder ob es sich dabei um Beschreibungen von etwas Wirklichem handelt.

Als Beispiel nenne ich die in der Psychologie und Soziologie vorkommenden Typologien. Wenn jemand den Persönlichkeitstyp des "Cholerikers" oder den sozialen Typ der "matriarchalen Gesellschaft" beschreibt, kann er u. U. ganze Bücher damit füllen, ohne einen einzigen Satz über die wirkliche Welt gesagt zu haben.

Wenn sich nicht klären lässt, was behauptet wird, dann kann ich mir die Überprüfung auf Wahrheit sparen. Erst wenn mir klar ist, was mit der Behauptung gemeint ist, kann ich mich an die Überprüfung der Behauptung machen.

Dazu muss ich wissn, um was für eine Art von Behauptung es sich handelt.

Zum Beispiel muss ich klären, ob behauptet wird, dass etwas in einer bestimmten Weise beschaffen IST, oder ob behauptet wird, dass etwas in einer bestimmten Weise beschaffen sein SOLL. Dies ist weder an der grammatischen Form der Sätze noch an dem Vorkommen bestimmter Worte zu erkennen.

Ein Satz wie: "Der Deutsche ist tapfer, ordnungsliebend und fleißig" kann als Aussage über die Wirklichkeit (die Eigenschaften von Menschen, die deutsche Staatsbürger sind) aufgefasst werden. Er kann jedoch auch als Aufforderung verstanden werden, sich an bestimmten Werten zu orientieren und sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Wenn diese Mehrdeutigkeit nicht beseitigt werden kann, kann ich mir ebenfalls die Mühe der Überprüfung sparen.

Es macht methodisch einen großen Unterschied, ob ich eine Aussage über das, was ist, überprüfe oder über das, was sein soll. Während es bei Aussagen über das, was ist, darauf ankommt, was wir wahrnehmen, kann ich Fragen nach dem, was sein soll, nicht allein durch den Verweis auf Wahrnehmungen und logische Schlussfolgerungen beantworten.

Um diese Überlegung auf uns selber anzuwenden: Es macht methodisch einen großen Unterschied, ob man fragt: "Was geschieht, wenn Menschen etwas wahrnehmen und Überzeugungen herausbilden in Bezug auf die Beschaffenheit unserer Welt?", oder ob man fragt: "Wie muss man seine Wahrnehmungen strukturieren und interpretieren, um zu wahren Aussagen über die Beschaffenheit unserer Welt zu gelangen?"

Die erste Art von Fragen fällt in den Bereich der erfahrungswissenschaftlichen Psychologie und Physiologie. Die zweite Art von Fragen fällt in den Bereich der (normativen) Erkenntnistheorie bzw. der "Methodologie der Erfahrungswissenschaften", wie ich es nennen würde. (Gebräuchlich sind dafür auch die Begriffe "Epistemologie" bzw. "Wissenschaftslogik".)

Empirische und methodologische Fragen darf man nicht unkontrolliert vermischen, wenn man zu richtigen Antworten gelangen will. Gerade Du hast immer wieder betont, dass die letzteren Fragen nicht durch die erstere Art von Fragen ersetzt und beantwortet werden können, dass man die Frage, wie man zu wahren Aussagen kommt, nicht durch empirische Untersuchungen dessen beantworten kann, wie Menschen wahrnehmen und denken.

Wenn Du die unkontrollierte Vermischung von Aussagen unterschiedlicher Ebenen nicht willst, dann solltest Du auch nicht darauf bestehen, dass Deine Reflexionen über die Leistungen von allgemeinen Begriffe und Eigennamen oder über die Notwendigkeit raum-zeitlicher Bezüge in der gleichen Weise etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aussagen, wie die Beschreibung von hier und jetzt wahrnehmbaren Dingen.

Ich hoffe, dass ich die Mauer zwischen den "Paradigmen" hiermit etwas abgetragen habe.

Es grüßt Dich und alle, die den philosophischen Spagat nicht fürchten, Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 05. Feb. 2005, 13:16 Uhr

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hallo eberhard,

wenn du schreibst,

Quote:Der Begriff des Irrtums setzt den Begriff der Wahrheit voraus.

so ist dies nicht nur die beschreibung eines gleichgeordneten verhältnisses, so, dass quasi das eine das andere bedingt und umgekehrt. meine vorläufige hypothese in bezug auf die "wahrheit unserer wahrnehmungen" lautet:

der irrtum ist die ausnahme in unserer wahrnehmung; wir haben schon viel wahres erfahren müssen, bis wir einem irrtum erliegen.

ich denke dieser ansatz ist insofern interessant, als dass dadurch die transzendentale kritik unserer wahrnehmung entschärft wird.

Quote:Insofern als man sich der Wahrheit eines Satzes nicht sicher sein kann, kann man sich auch des Irrtums nicht sicher sein. Man kann also auch fälschlicherweise davon überzeugt sein, dass man sich irrt.

zugegeben.

allerdings sehe ich keinen direkten bezug zu unserem thema wahrnehmung; denn um die wahrnehmung resp. die wahrgenommene wirklichkeit und die kritik an unseren wahrnehmungen geht es unterschwellig in dem thread "wahrheit V".

hermeneuticus spricht mehrfach davon, dass es sich bei der wahrnehmung um keinen passiven vorgang bloßer rezeptivität handelt, sondern dass wahrnehmung einen konstruktiven prozeß miteinschließt - anders könne man nicht erklären wie irrtümer möglich seien.

deshalb wäre es für mich interessant, zu verstehen, wie (nach hermeneuticus) ein solcher "wahrnehmungsirrtum" aussähe. wenn ich zum beispiel aus dem fenster sehe, und dort unten sehe ich eine bestimmte person. so kann ich annehmen, es handele sich um meinen freund thilo. ich kann dieser person zum beispiel zuwinken, zu mir zu kommen. und wenn diese person mich bemerkt, stelle ich fest, dass es sich doch nicht, wie ich dachte um meinen freund thilo handelt, sondern nur um eine person, die ihm ähnlich sieht.

worin bestand der irrtum, dass ich die person, die ich unten gesehen habe, für meinen freund gehalten habe?

kann ich andererseits mich irren, einen blumentopf zu sehen, wo mein drucker steht?

kann ich mich irren, und an der stelle wo der kölner dom steht, nichts sehen, vielleicht wie die wolken an dieser stelle am himmel vorbei ziehen und wie die menschen quasi durch das gebäude gehen?

welchen sinn hat es von transzendental zu sprechen, wenn es den verstand aller menschen betrifft - außer vielleicht die philosophische mahnung zur bescheidenheit?

in welchem sinne ist es ein irrtum, aussagen über objekte (im sinne hermeneuticus) zu machen, und diese aussagen auf ein ding an sich zu übertragen? ist es überhaupt ein irrtum, und wenn ja, wie kann ich feststellen, dass ich mich geirrt habe?

... mehr fragen als antworten

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 05. Feb. 2005, 16:18 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

ich verstehe deinen Beitrag so, dass du nicht viel Lust hast, mit mir weiter zu diskutieren. Das sei dir unbenommen, schließlich tust es ja auf freundliche Weise ;-).

Allerdings kann ich mir einige Bemerkungen einfach nicht verkneifen, sorry!

Du schreibst:

" Nur MANCHMAL entspringt der Dom meinem Bewusstsein auf eine Weise, über die ich nicht verfüge. Ich kann mich dann auf den Kopf stellen, drumherumgehen, die Augen zukneifen, "Hokuspokus verschwindibus!" rufen... der Dom entspringt immer unverändert und unmanipulierbar auf DIESELBE Weise. Solche Momente hat der Dom immer dann, wenn ich mitten in Köln, gleich am Rhein, neben Wallraf-Richartz-Museum/Museum Ludwig bin. Seltsam, nicht wahr?

Und ist es nicht auch seltsam, dass mein Bewusstsein die Stadt Köln irgendwie gar nicht als IN meinem Bewusstsein "enthalten" entspringen lässt, sondern als komplettes "Environment" - so zwar, dass ich mich MIT meinem Bewusstsein MITTEN DRIN erfahre. Wie macht mein Bewusstsein das bloß?"

Ja, sehr witzig beschrieben! Aber glaubst du allen Ernstes, dass ich derart naiv bin, dass ich mir nicht mal solch simple Fragen gestellt habe? Jetzt bin ich fast ein wenig beleidigt [sad].

Wie das Bewußtsein das bloß macht? Das, mein Lieber, wird in Indien die Macht von Maya genannt. Sie ist so gewaltig, dass sie uns vorgaukelt, da wären objektive Dinge, die unabhängig von ihrer Wahrnehmung existieren. Ich frage dich, woher willst du wissen, dass du tatsächlich MIT "deinem" Bewußtsein IN der Umgebung bist? Hast du dein Bewußtsein schonmal gesehen, gespürt, oder sonstwie wahrgenommen? Dann wärst du der Erste, das hat nämlich noch kein Hirnforscher geschafft. Komm mir aber bitte nicht mit "Körperbewußtsein", ich nehme meinen Körper auch wahr. Aber das, was den Körper wahrnimmt, können weder du noch ich wahrnehmen.

Weil das Auge sich nicht selbst sehen kann.

Im übrigen habe ich nie behauptet, dass wenn ich als Bewußtsein alles bin, ich irgendeine Kontrolle darüber hätte. Das implizierst du nur, weil "man" normalerweise in diesen Kategorien denkt. Wenn das Bewußtsein alles ist, über was sollte es dann Kontrolle haben? Auf relativer Ebene gibt es natürlich Kontrolle, aber sie ist nur scheinbar. Dazu folgendes:

Du schreibst:

"...kann ich mir jederzeit, wenn ich will, den Kölner Dom vorstellen - ihn der Quelle meines Bewusstseins entspringen lassen, um es in Deinem Sinne zu sagen. Zwar kann ich diese Vorstellung nach Belieben manipulieren - ich kann sie stauchen, verzerren, umfärben... wie ich lustig bin."

Ja, auch das ist Maya, dass du denkst, du würdest tatsächlich diese Gedanken manipulieren.

Ein kleiner Vorschlag, Hermeneuticus: setze dich mal in Ruhe hin und schließe die Augen. Dann beobachte aufmerksam "deine" Gedanken. Wenn du ehrlich bist, wirst du merken, dass du nicht einen einzigen Gedanken willentlich erzeugen kannst. Du wüßtest gar nicht, wie du das tun solltest. Von wegen Manipulation. Jeder Gedanke ist im wahrsten Sinne des Wortes ein "Einfall". Auf einmal erscheint ein Bild, ein Wort, ein Klang vor deinem "geistigen Auge" und einen Bruchteil einer Sekunde später entsteht die Illusion, dass "du" den Gedanken gedacht hast. Da ist kein Denker der Gedanken. Da sind Gedanken, die die Illusion eines Denkers erzeugen. Wie gesagt: Maya. Auch wenn scheinbar "du" eine ganze Gedankenkette verfolgst, weil du scheinbar intensiv über ein Problem nachdenkst, dann ist dies ein selbst ablaufender Prozess, den du lediglich beobachtest. Du als Person kannst unmöglich den ersten Impuls für einen Gedanken erzeugen.

Also woher kommen dann die Gedanken? Auch immer mehr Hirnforscher sagen, dass es kein Ich gibt, das Gedanken denkt. Sie sagen, dass es die Chemie des Gehirns ist, die das tut, weil sie auf Reize von außen reagiert. Aber auch das ist noch zu kurz gesprungen. Diese Kausalitätskette müßte ja bis ins Unendliche zurückverfolgt werden. Was war die Ursache für den Reiz, und was wiederum dessen Ursache? Letztlich kommen die Gedanken wie aus dem Nichts. Nicht "Ich denke", sondern "Es denkt". Aber der Witz ist, dass ich dieses Es, dieses Nichts, was gleichzeitig das All-Eine ist, BIN. Und das gleiche gilt für dich. Das ist weder Freiheit des Denkens, noch Determinierung. Das ist, wie es ist.

Du brauchst mir darauf nicht zu antworten, probier es einfach mal aus. Und wenn du dann immer noch glaubst, dass du als Person irgendetwas willentlich denken könntest, dann erkläre mir bitte genau, wie du das anstellst. Ich kann es jedenfalls nicht.

Du hattest auch geschrieben:

" Wenn Du nun aber auf einer nächsten Reflexionstufe auch dieses Eigenleben wieder ins Bewusstsein zurückverlegen willst - na, dann wird es irgendwann gleichgültig, WOHER die Inhalte und Unterschiede nun "de facto" kommen. Wenn sich an ihnen nichts dadurch ändert, dass ich sie aus dem Bewusstsein oder aus einer Außenwelt herleite, dann kann man diese Frage doch getrost auf sich beruhen lassen."

In gewisser Weise hast du recht, "de facto" ändert sich tatsächlich nichts. Aber in deinem Verhältnis zur Welt sehr wohl. Schuld, Stolz, Angst und Haß werden erheblich relativiert. Obwohl spontan alle Gefühle weiterhin stattfinden. Die Einheit zu erkennen, heißt nicht, dass die Vielfalt zu einem formlosen Brei verschwimmt. (Da bräuchte ich ja nicht verheiratet zu sein [cheesy], und auch keine Freunde haben).

Da ist weiterhin Trennung da, und gleichzeitig die gewissheit, dass sie nur scheinbar ist.

Nerv ich dich? Weiß auch nicht, warum ich das alles schreibe. Vielleicht will ich mich wichtigtun. Oder dich ärgern. Keine Ahnung.

viele Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 05. Feb. 2005, 17:38 Uhr

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hallo wuwei,

ich sehe keine probleme, in unserer diskussion, deine weltsicht betreffend - zumindest keine direkten. das was du sagst, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was andere sagen; außer, dass du, statt zu sagen, dass eine welt vorhanden ist, die du so und so wahrnimmst, behauptest, es gebe

Quote:die Macht von Maya. Sie ist so gewaltig, dass sie uns vorgaukelt, da wären objektive Dinge, die unabhängig von ihrer Wahrnehmung existieren.

. ob wir nun sagen, die welt ist vor uns dagewesen, und sie ist von unserem willen teilweise unabhängig, vorallem was die wahrnehmung anbelangt, oder, ob wir sagen, maya sei eine von uns unabhängige kraft, die uns "vorgaukelt" es gebe eine unabhängige welt. beide male gründen die antworten in dem mysterium des "woher?" bzw. "warum?". schwierigkeiten haben wir nur, wenn wir versuchen, beide erklärungsansäze überein zu bringen. wenn wir stattdessen berücksichtigen, dass derjenige, der von maya spricht, eine andere "sprache" spricht, als derjenige, der sich mit den naturwissenschaften oder generell dem abendländischen philosophischen jargon auseinandergesetzt hat, stellen sich die unterschiede im wesentlichen als "sprachliche unterschiede" heraus.

dementsprechend verwirrend ist es, wenn du, wuwei scheinbar in unserer sprache sprichst, und die wörter in dieser sprache gegen ihren üblichen gebauch benutzt. dazu gibt es viele beispiele:

 

Quote:Dann beobachte aufmerksam "deine" Gedanken.

unsere sprache bringt es mit sich, dass, wenn wir von "beobachten" sprechen, damit auch visuelle eindrücke verbinden. wenn wir allerdings versuchen, gedanken zu beobachten, so ist das eine aufforderung etwas zu tun, womit wir so recht nichts anzufangen wissen. man kann denken, gedanken aussprechen, allerdings sich selbst beim denken beobachten ist nicht möglich - wie sollte es auch.

 

Quote:Wenn du ehrlich bist, wirst du merken, dass du nicht einen einzigen Gedanken willentlich erzeugen kannst.

auch hier ist nicht zu verstehen, was du uns sagen möchtest. denken besteht im grunde nicht darin, es willentlich zu tun; es sei denn, man ist philosophie-student, und macht sich gerade gedanken über einen text von schelling. auf die frage, was er denn macht, wird er wohl antworten, er denke über einen schelling-text nach. und auf die frage warum, wird er wohl sagen, er wollte jetzt darüber nachdenken, weil er z. B. gerade gut zeit hätte. das "wollen" dient in diesem fall zur kennzeichnung für andere, dass man zwar prinzipiell etwas anderes machen könnte, sich aber für die lektüre und das nachdenken entschieden habe: »ich wollte das so.«

 

Quote:Da ist kein Denker der Gedanken. Da sind Gedanken, die die Illusion eines Denkers erzeugen.

das wort ich, dient auch lediglich zur kennzeichnung von autoreflexiven botschaften des sprechers, z. B. »ich habe gesagt, dass XY das und das tun sollte« - der sprecher erzählt von sich selbst. das hat selbstverständlich nichts mit einer psychischen instanz "ich" zu tun.

 

Quote:Auch immer mehr Hirnforscher sagen, dass es kein Ich gibt, das Gedanken denkt.

soweit ich informiert bin, gibt es die erklärung des "ichs" aus dem körpergefühl im zusammenhang mit motorischen prozessen. dasjenige, was wir als "ich" auffassen wäre also nichts anderes als eine art "handlungseinheit", die zur bewegungskoordination dient.

 

Quote:Sie sagen, dass es die Chemie des Gehirns ist, die das tut, weil sie auf Reize von außen reagiert.

das ist wenn, dann nur die eine seite der medaille. unterschlagen wird die spontanaktivität von neuronen und das zusammenspiel im bewußtsein von inneren und [/i]äußeren[/i] zuständen.

 

Quote:Und wenn du dann immer noch glaubst, dass du als Person irgendetwas willentlich denken könntest, dann erkläre mir bitte genau, wie du das anstellst. Ich kann es jedenfalls nicht.

und das kannst du deshalb nicht, weil die aufforderung eine sinnleere aufforderung ist.

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 05. Feb. 2005, 20:08 Uhr

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Hallo Thomas,

ich frage mich, WIE ich überhaupt mit dir kommunizieren kann? Du versuchst gar nicht zu verstehen, sondern sezierst genüßlich einzelne Begriffe. dass du dich auf "Maya" stürzt, war im Grunde klar. Aber auch du verwendest Begriffe, auch du verwendest Sprache, die missverständlich sein kann.

Ich weiß auch, dass ich im wörtlichen Sinne keine Gedanken beobachten kann. Aber du kannst sehr wohl registrieren (auch wieder nur ein Begriff) oder dir gewahr werden, wie Gedanken entstehen. Und da kannst du erkennen, dass jeder Gedanke ein "Einfall" ist. Die angeblich willentliche Entscheidung des Philosophen ist nichts anderes als ein weiterer Einfall.

Wenn du von einer willentlichen Entscheidung ausgehst, dann tust du das eben gerade, weil du eine psychische Instanz eines Ichs voraussetzt. Wer sonst sollte denn die Entscheidung treffen? Ob du es psychische Instanz nennst oder Handlungseinheit, wo ist der Unterschied? Wo befindet sich die Handlungseinheit? Im Gehirn, wo da genau? Oder endet sie an der Hautoberfläche? Du versuchst meist, den Eindruck zu erwecken, als wären sämtliche Fragen des Bewußtseins und der Wahrnehmung schon lange von der Wissenschaft geklärt. Das sind sie aber beileibe nicht. Sie werden kontroverser denn je diskutiert.

du schreibst:

" unterschlagen wird die spontanaktivität von neuronen und das zusammenspiel im bewußtsein von inneren und [/i]äußeren[/i] zuständen."

Was soll Spontanaktivität von Neuronen sein? Werden sie also völlig ohne Ursache aktiv? Das wäre mir neu. Du redest von Bewußtsein. Wo ist das, was ist das? Wurde es lokalisiert und vermessen?

Es ist nicht so, dass ihr hier alle eine gemeinsame Sprache sprecht und nur ich die Fremdsprache. Vielleicht kannst du nicht nachvollziehen, was ich sage - es gibt andere, die können es. Aber das soll nicht unfreundlich gemeint sein.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 05. Feb. 2005, 23:19 Uhr

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Hallo wuwei,

Du schreibst:

" Hast du dein Bewußtsein schonmal gesehen, gespürt, oder sonstwie wahrgenommen? Dann wärst du der Erste,… … weil das Auge sich nicht selbst sehen kann."

Hier irrst Du: Das Auge kann sich in einem Spiegel sehr wohl selber sehen. Und ich kann bei vollem Bewusstsein auch über mich selbst und die Inhalte meines Bewusstseins nachdenken bzw. "reflektieren", was wörtlich soviel wie "zurück biegen" oder "spiegeln" bedeutet.

Du schreibst weiterhin:

" Wenn du ehrlich bist, wirst du merken, dass du nicht einen einzigen Gedanken willentlich erzeugen kannst."

Es ist nicht ganz klar, was Du mit den Worten "willentlich erzeugen" meinst. Wenn Du bestreiten willst, dass ich den Gang meiner Gedanken steuern kann, dann ist auch dies nicht richtig. Wenn ich mir z. B. vornehme, die logischen Implikationen einer bestimmten Aussage explizit zu formulieren, dann gebe ich meinen Gedanken eine bestimmte Richtung, "erzeuge" die gesuchten Gedanken.

Es grüßt Dich Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 05. Feb. 2005, 23:52 Uhr

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Hallo Eberhard,

ja, du hast recht. Ich kann meine Augen im Spiegel sehen, wie konnte ich das nur übersehen [undecided].

ich wünsche allen einen schönen Sonntag,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 06. Feb. 2005, 00:49 Uhr

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Hallo WuWei!

 

Quote:In gewisser Weise hast du recht, "de facto" ändert sich tatsächlich nichts. Aber in deinem Verhältnis zur Welt sehr wohl. Schuld, Stolz, Angst und Haß werden erheblich relativiert. Obwohl spontan alle Gefühle weiterhin stattfinden. Die Einheit zu erkennen, heißt nicht, dass die Vielfalt zu einem formlosen Brei verschwimmt. (Da bräuchte ich ja nicht verheiratet zu sein , und auch keine Freunde haben).

Da ist weiterhin Trennung da, und gleichzeitig die gewissheit, dass sie nur scheinbar ist.

Nerv ich dich?

Manchmal schon, ehrlich gesagt. Und das liegt daran, dass ich etwas in Deinen Gedanken sehe, das ich für richtig halte. Nur was Du daraus machst, überzeugt mich nicht. Aus meiner Sicht schüttest Du das Kind mit dem Bade aus. Du versenkst es in der "Nacht, in der alle Kühe schwarz sind".

Ich kann mit Deiner Position als PHILOSOPHISCHER Position nichts anfangen. Philosophie, wie ich sie verstehe, hat es mit Rationalität, mit Begründung, mit intersubjektiver Nachvollziehbarkeit zu tun, und zwar auch dann, wenn man über die Grenzen der Rationalität und der Begründbarkeit nachdenkt. (Und für mich gehört es zur Rationalität, auch deren Grenzen zu akzeptieren.) Wenn man aber Rationalität als Vollzugsform der Darstellung und der Auseinandersetzung nicht respektieren kann, sitzt man bei der Philosophie m.E. im falschen Film - ganz unabhängig von dem, WAS man jeweils zu sagen hat. Philosophie ist nun einmal eine "Arbeit des Begriffs" (Hegel).

Der Schluss meines letzten an Dich gerichteten Beitrags klang vielleicht etwas barsch, war aber eigentlich als Argument gemeint. Durch die Art und Weise, wie Du Deine Position darstellst, indem Du immer auf etwas verweist, das jenseits nur der Begriffe und Kategorien erfahrbar ist, machst Du diese Position zu einer Angelegenheit der privaten Erfahrung. Sie bekommt darum - aber offenbar unwillkürlich - einen religiösen, esoterischen "Touch". Dazu gehört auch, dass Deine Position für die Allgemeinheit folgenlos bleibt. Man kann die Dinge so sehen wie Du, man kann sie aber auch anders sehen, ohne dass daraus etwas folgte.

Mit Deiner Antwort - oben zitiert - bestätigst Du diese Einschätzung. Die Folgen Deiner Weltsicht sorgen allenfalls für subjektives Wohlbefinden - oder nennen wir es "Seelenheil" : Schuld, Stolz, Angst und Hass werden erheblich relativiert. Durchaus legitim. Aber das eigene Seelenheil ist eher ein seelsorgerisches oder psychotherapeutisches Thema. Philosophie hat es mit dem Allgemeinen zu tun.

Und so könnte man aus philosophischer Sicht sagen: Deine Position kann gerade dem Moment des Allgemeinen am ALL-Ich nicht zur Geltung verhelfen. Dieses "All" bleibt bei Dir eine Sache des Gefühls und - da Gefühle immer individuell sind - des privaten, abgeschiedenen Erlebens.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 06. Feb. 2005, 01:32 Uhr

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on 02/04/05 um 20:48:57, Hermeneuticus wrote:...

Worauf ich hinauswill: Es gibt Inhalte meines Bewusstseins und Unterschiede zwischen ihnen, die nicht von mir manipulierbar sind. Auch, wenn es stets Unterschiede zwischen Inhalten MEINES Bewusstseins sind - manche von ihnen lassen darauf schließen, dass sie ein von meinem Bewusstsein unabhängiges Eigenleben führen müssen.

 

Nicht-Willkürlichkeit und Subjektivität: sind das für dich unvereinbare Gegensätze? (Für Kant jedenfalls nicht ;-))

Das ist mE jedenfalls nicht die grundsätzliche Alternative, sondern ob unsrer objektiven Wirklichkeit den Charakter des An-sich-Seins oder der Vorgestelltheit hat - wobei in letzterem Fall wie gesagt durchaus nicht Willkür mitgesetzt ist!

Gruß

Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 06. Feb. 2005, 08:27 Uhr

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Hallo Hermeneuticus,

nun, wenn Philosophie "Arbeit des Begriffs" ist, dann bin ich vielleicht kein Philosoph. Mit Begriffen, die ich ebenfalls verwenden muss, ist immer nur auf die Wirklichkeit, die Wahrheit hinzuweisen. Was für eine Wirklichkeit kannst du mit Worten erfassen außer einer begrifflichen Wirklichkeit?

Deshalb sind auch alle meine Worte immer angreifbar.

Was haben alle wunderbaren gedanklich-begrifflichen Konstrukte mit der Wirklichkeit zu tun?

Wenn du alles, was über die Begriffe hinausgeht, in den Bereich des esoterisch-religiösen verlegst, dann beschränkst du dich, auch Philosoph, unnötig. Das Allgemeine ist doch vom Privaten nicht zu trennen. Oder hast du die Welt jemals anders erlebt denn als private Erfahrung? Selbst wenn alle deiner Meinung sind, bleibt das deine private Erfahrung.

Ich denke, wir verstehen uns besser als es vielleicht den Anschein hat. Du weist mich ja auch zurecht auf die Beschränktheit der sprachlichen Vermittlung hin.

Und ich will dich nur darauf hinweisen, dass die ganze Wirklichkeit niemals in Formeln oder begrifflichen Definitionen

darstellbar ist, mögen sie noch so schlau sein, weil dabei immer das betrachtende Subjekt außer acht gelassen wird.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Snom von Znieh am 06. Feb. 2005, 12:00 Uhr

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Hallo WuWei,

eines verstehe ich nicht: wenn das, was wir von der Welt wahrzunehmen meinen nur das ist, was Maya dem Bewusstsein vorgaukelt, dann muss der Maya aber irgendwann mal ein Schnitzer unterlaufen sein, denn sonst wärst du ja nie dahintergekommen???

Grüße

Snom

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 06. Feb. 2005, 14:18 Uhr

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hallo wuwei,

zum thema spontanaktivität von neuronen:

 

Quote:Spontanaktivität w [von latein. spontaneus = freiwillig, activus = tätig], Spontanentladung, E spontaneous activity, Aktivität von Nervenzellen, die zeitweilig, ständig oder rhythmisch ohne erkennbare äußere Einwirkungen Aktionspotentiale generieren. Automatismen, Automatiezentrum, Rauschen.

(lexikon der neurowissenschaften - spektrum 2001)

Quote:Rauschen s, E noise, allgemein das Auftreten statistischer Schwankungen von elektronischen Meßgrößen und damit ein störender Einfluß auf ein Signal; in der Elektrophysiologie das spontan auftretende Öffnen und Schließen von Ionenkanälen (flickering) und die damit verbundenen statistischen Veränderungen von Ionenkanalströmen bzw. -potentialen (Endplattenrauschen). In nichtlinearen Systemen kann Rauschen die Signalübertragung auch verbessern (stochastische Resonanz). Signal-Rausch-Verhältnis, Spontanaktivität.

(ibid.)

http://www.uni-oldenburg.de/sport/bww2/Lehre/Sinne/sinne.html

(unter dem punkt "eigenschaften von nervenimpulsen" )

http://www.bio2.rwth-aachen.de/teaching/ws02/TPVws02_24.htm

(tierphysiologie)

zu dem, was du in deinem letzten beitrag geschrieben hast:

Quote:Aber auch du verwendest Begriffe, auch du verwendest Sprache, die missverständlich sein kann.

sicher, verwende ich auch sprache. warum sollte ich das auch nicht tun? ich bin als mensch dazu befähigt, sprache(n) zu sprechen. dass meine sprache missverständlich sein kann, ist nicht auszuschließen. allerdings versuche ich missverständnisse durch erklärungen auszuräumen.dass meine mitteilung verstanden worden ist, merke ich an der resonanz der empfänger.

 

Quote:Aber du kannst sehr wohl registrieren (auch wieder nur ein Begriff) oder dir gewahr werden, wie Gedanken entstehen

tut mir leid, aber ich kann nicht gewahr werden wie meine gedanken entstehen. wir müssen darauf achten, nicht in einen pseudophänomenologischen jargon zu verfallen, wo wir gleichsam unser bewußtsein analysieren, und z. B. die entstehungsgeschichte eines gedankens ab ovo beobachten können. ich verstehe die metaphern die du verwendest - ebenso wie ich verstehe, wenn jemand von "schmetterlingen im bauch" berichtet.

 

Quote:Wenn du von einer willentlichen Entscheidung ausgehst, dann tust du das eben gerade, weil du eine psychische Instanz eines Ichs voraussetzt.

ich folge lediglich den konventionen des sprachspiels.

wenn mir jemand erzählt, er will diesen sommer nach namibia in urlaub fahren, so verstehe ich, was er mir damit mitteilen möchte, ohne, dass ich annehme, er habe einen physischen/psychischen "willen", bzw. einen "willentlichen beSchluss gefaßt".

 

Quote:Wer sonst sollte denn die Entscheidung treffen? Ob du es psychische Instanz nennst oder Handlungseinheit, wo ist der Unterschied? Wo befindet sich die Handlungseinheit? Im Gehirn, wo da genau?

diese frage ist innerhalb des sprachspiels nicht zu klären. unser sprachspiel funktioniert nach den regeln, dass "jemand sich entschließt (wille) so und so zu handeln".

was ich jedoch herausgegriffen habe ist quasi das nicht-sprachliche pendant zum "ich-begriff" ; eine funktionseinheit (keine physikalisch begrenzbare -also auch nicht lokalisierbare einheit, sondern ein komplexes zusammenspiel von funktionen des gesamtsystems) die ihre anwendung bei der steuerung unserer motorik besitzt. und ein aspekt ist eben die wahrnehmung des eigenen körpers, und die projektion möglicher bewegungen innerhalb unserer umwelt.

wieweit diese phänomene erforscht sind, kann ich leider (noch) nicht sagen - ich bin selbst kein neurowissenschaftler; ich bediene mich lediglich der hypothesen aus fachliteratur und ziehe meine schlüsse, die ich ebenfalls nur als hypothesen vertrete.

 

Quote:Du versuchst meist, den Eindruck zu erwecken, als wären sämtliche Fragen des Bewußtseins und der Wahrnehmung schon lange von der Wissenschaft geklärt.

ich versuche die vorläufigen ergebnisse seitens der naturwissenschaften miteinzubringen; das heißt ja nicht, dass diese ergebnisse nicht diskussionswürdig sind. ich ziehe aber beileibe eine wissenschaftliche, durch lange jahre arbeit zustandegekommene hypothese einer anderen vor, die quasi aus dem fernsehsessel heraus entstanden ist.

 

Quote:Du redest von Bewußtsein. Wo ist das, was ist das? Wurde es lokalisiert und vermessen?

deine fragen zeugen von einem fehlenden verständnis für naturwissenschaftliche arbeit und unterstellen einen plumpen materialismus, der vielleicht im 19. Jh angebracht gewesen wäre. beim bewußtsein handelt es sich um ein funktionales phänomen; i.e. bewußtsein ist kein zahnradgetriebe und ist als solches bei der arbeit zu beobachten, sondern, entsteht durch das komplexe zusammenspiel der einzelnen neuronen des menschen. gerade hier ist die theorie der neuronalen netzwerke hilfreich - um zum beispiel zu verstehen, wie wissen in einem solchen netzwerk "gespeichert" wird.

- mfg thomas

p.s.:

Quote:Hallo WuWei,

eines verstehe ich nicht: wenn das, was wir von der Welt wahrzunehmen meinen nur das ist, was Maya dem Bewusstsein vorgaukelt, dann muss der Maya aber irgendwann mal ein Schnitzer unterlaufen sein, denn sonst wärst du ja nie dahintergekommen???

Grüße

Snom

 

:D

vis comica

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 06. Feb. 2005, 16:20 Uhr

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Hallo allerseits,

zu der Frage, ob es sinnvoll ist zu sagen: Eine Aussage ist manchmal wahr und manchmal falsch. (Ich schließe hier an eine Diskussion zwischen gershwin und michel9672 aus Wahrheit I vom August 2004 an.)

Nehmen wir den Beispielsatz: "Diese Metallstange ist 2 m lang".

Die Metallstange ist Teil eines Teleskopes, bei dessen Bau äußerste Präzision erforderlich ist.

Nun misst jemand nach und kommt zu dem Ergebnis: "Diese Metallstange ist 199,9 cm lang".

Ist der Beispielsatz also falsch?

Bei der Fertigung von Teleskopen wäre der Beispielsatz wohl falsch. Der verantwortliche Ingenieur wird die Stange nicht akzeptieren mit der Bemerkung: "Diese Stange ist kürzer als 2 Meter".

Nun kommt genau diese Stange auf den Schrottplatz, wo jemand eine 2 m lange Metallstange sucht. Der Schrotthändler sagt: "Diese Stange ist 2 m lang". Der Kunde misst nach und stellt eine Länge von 199,9 cm fest. Für die Zwecke des Kunden kommt es auf einen Millimeter mehr oder weniger nicht an und er sagt: "Ich nehme die 2-Meter-Stange. Was soll die kosten?"

Folgt daraus, dass eine Aussage je nach Kontext wahr oder falsch sein kann? Ist ein solcher Gebrauch des Wortes "wahr" sinnvoll und notwendig?

Ich bin nicht der Meinung, dass ein solcher Gebrauch des Wortes "wahr" sinnvoll ist, weil dadurch die deduktive Logik nicht mehr angewendet werden kann. Diese setzt ja voraus, dass eine Aussage entweder "wahr" oder "falsch" ist.

Kontextabhängig ist nicht das Wahr-oder-falsch-sein eines Satzes sondern kontextabhängig ist die Bedeutung des Satzes. Weil der Ausdruck "2 m" einmal bedeutet "zwischen 1,995 m und 2,005 m" und das andere mal "zwischen 1,9999995 und 2,0000005 m" handelt es sich bei dem Beispielsatz "Diese Metallstange ist 2 m lang" trotz gleichen Wortlauts um zwei verschiedene Aussagen, je nachdem, wo der Satz geäußert wurde.(So auxh michel9672.)

Insofern kann es dabei bleiben, dass ein Satz (mit einer festen Bedeutung) entweder wahr oder falsch ist, unabhängig vom jeweiligen Verwendungszusammenhang.

Es grüßt Euch Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 06. Feb. 2005, 17:29 Uhr

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Hallo Eberhard!

Aha, DAHER weht der Wind! :-)

 

Quote:Ich bin nicht der Meinung, dass ein solcher Gebrauch des Wortes "wahr" sinnvoll ist, weil dadurch die deduktive Logik nicht mehr angewendet werden kann. Diese setzt ja voraus, dass eine Aussage entweder "wahr" oder "falsch" ist.

Die zeit-, orts- und personenunabhängige Geltung des Prädikats "wahr", die Du postulierst, ist also zum Wohle der deduktiven Logik gedacht!

Können wir denn die deduktive Logik ihrerseits "einfach so", als jenseits jeder Diskussion gegeben hinnehmen? Welchen Ort hat die Logik in der Wirklichkeit? Oder schwebt sie darüber in jenem Reich der ewigen Ideen, wohin auch die ewige (zeitunabhängige) Geltung gehört?

Ich denke, hier stellst Du das Fundierungsverhältnis von menschlichem Dasein und den Geltungsbedingungen menschlicher Aussagen auf den Kopf. Brauchen Menschen "ewige Wahrheit" ? Haben sie dafür überhaupt eine Verwendung?

Wie schon mehrmals gesagt: Es ist m.E. unsinnig, einen Begriff von zeitenthobener Geltung anzunehmen, wenn doch alle empirischen Aussagen, die wir machen können, nur bis zu ihrer Falsifiikation, d. h. bis auf weiteres, gelten. Das Wissen um diese Fallibilität können wir nicht einfach auslöschen, nur damit ein Satz "ewig wahr" gelten darf. Für so eine ewige Wahrheitsgeltung können wir uns nix kaufen. Anders wäre es, wenn ein Satz nicht nur als "ewig wahr" GÖLTE, sondern des de facto WÄRE. Aber kannst Du mir Beispiele für solche Sätze (notabene über die Beschaffenheit der Wirklichkeit!) nennen?

In meiner Welt stoßen Logik und Geltung an die Grenze der Faktizität. Wenn es keine Menschen gibt, die etwas GELTEN LASSEN, gibt es auch keine Geltung.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von jacopo_belbo am 06. Feb. 2005, 18:16 Uhr

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hallo leutz,

 

Quote:Aha, DAHER weht der Wind!

Die zeit-, orts- und personenunabhängige Geltung des Prädikats "wahr", die Du postulierst, ist also zum Wohle der deduktiven Logik gedacht!

Können wir denn die deduktive Logik ihrerseits "einfach so", als jenseits jeder Diskussion gegeben hinnehmen? Welchen Ort hat die Logik in der Wirklichkeit? Oder schwebt sie darüber in jenem Reich der ewigen Ideen, wohin auch die ewige (zeitunabhängige) Geltung gehört?

 

eine interessante frage, welchen platz die logik in der wirklichkeit hat; wenn man logik, als kommunikationsform betrachtet, hat sie keinen platz in der wirklichkeit, genausowenig, wie sprache an sich einen platz in der wirklichkeit hat. wir sprechen zwar, und als solches, als auditives, oder phonetisches ereignis hat sprache sehr wohl einen platz in der wirklichkeit - ebenso die logik. allerdings ist die welt weder sprachlich noch logisch; aber dennoch sprachlich und logisch beschreibbar.

ich kaue ja ungern olle kamellen wider, aber:

welche nachteile haben sätze, die je nach kontext wahr oder falsch sind, bzw. weshalb die artifizielle aufsplittung von einem -dem wortlaut nach- satz in zwei sätze, weil der dem wortlaut nach gleiche satz in zwei kontexten zwei bedeutungen hat?

- mfg thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 06. Feb. 2005, 18:41 Uhr

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Hallo miteinander!

Ich möchte noch einmal auf die Rolle zurückkommen, die die Wahrnehmung für die Wahrheitsgeltung von Sätzen spielt. Es wurde vorgeschlagen, die Wahrnehmung als (universelles) Wahrheitskriterium für Sätze "über die Wirklichkeit" gelten zu lassen. Und hier frage ich mich eben, ob "die Wahrnehmung" geeignet ist, Wahrheitsfragen auf universelle Weise zu entscheiden. Das könnte sie nur, wenn wir annehmen dürften, dass Wahrnehmungsinhalte immer dieselben sind, dass also jedermann unter denselben Umständen immer dasselbe wahrnimmt.

Dass man Sätze - Behauptungen von Sachverhalten - losgelöst vom Sprecher gelten lassen kann, dürfte verhältnismäßig leicht einleuchten. Aber Wahrnehmungen sind eben immer "je eigene", und es ist gerade diese Unmittelbarkeit des Sehens "mit eignen Augen", die den "Wirklichkeitsgehalt" von Wahrnehmungen ausmacht. Umso bestürzender ist es, wenn man seinen Augen nicht trauen kann. Und umso größeres Gewicht bekommt die Frage, ob und wie wir sicherstellen können, dass wir jeweils DASSELBE wahrnehmen, wenn es sich darum handelt, den Wirklichkeitsgehalt von Behauptungen zu überprüfen.

Worüber wir in diesem Thread hauptsächlich gestritten haben, war die Frage, ob Wahrnehmungsinhalte gewissermaßen "von Natur aus" immer dieselben sind oder ob wir diese "Selbigkeit" der Wahrnehmungsinhalte durch geeignete Mittel herstellen müssen. Dass Wahrnehmungen personen- und kontextabhängig sind - ohne deswegen schon als gestört gelten zu müssen - lässt sich wohl nicht bestreiten. Und deshalb bedarf es bestimmter Voraussetzungen, um Wahrnehmungen zu gewinnen, die sich in ähnlicher Weise von der einzelnen Person "ablösen" lassen, wie das für Sätze mit personenunabhängiger Geltung erforderlich ist.

Können wir uns darauf einigen? Und wenn ja: Welche Voraussetzungen brauchen wir zur Gewinnung personenunhängiger Wahrnehmungsinhalte?

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 06. Feb. 2005, 22:20 Uhr

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Hallo Hermeneuticus, hallo allerseits,

Du schreibst kritisch in Bezug auf meinen Beitrag: "Die zeit-, orts- und personenunabhängige Geltung des Prädikats "wahr", die Du postulierst, ist also zum Wohle der deduktiven Logik gedacht!"

Wenn Du diesen Schluss aus meinen Äußerungen ziehst, so scheint das natürlich entlarvend.

Nur handelt es sich bei diesem Schluss trotz des Wörtchens "also" nicht um einen logischen Schluss.

Worum es geht, ist die Frage, wie wir den Begriff "wahr" verwenden wollen. Es geht um die Zweckmäßigkeit verschiedener möglicher Terminologien.

Was ist das terminologische Problem?

1. Wir sind uns einig, dass wortgleiche Sätze in unterschiedlichen Kontexten mehrere verschiedene Bedeutungen haben können. (Wer nicht zustimmt, möge widersprechen).

2. Wir sind uns einig, dass derart wortgleiche aber mehrdeutige Sätze je nach der Bedeutung, auf die man sich bezieht, das eine mal wahr und das andere mal falsch sein können.

3. Wir sind uns einig, dass die Mehrdeutigkeit von wortgleichen Sätzen nicht ohne weiteres kenntlich ist, und dass die jeweiligen Bedeutungen häufig nicht offen gelegt und explizit ausformuliert werden.

In Bezug auf das Beispiel "Diese Metallstange ist 2 m lang" heißt das, dass die stillschweigend vorausgesetzten unterschiedlichen Fehlertoleranzen (auf dem Schrottplatz vielleicht plus-minus 5 mm, und bei der Teleskop-Fertigung vielleicht nur 1 Zehntausendstel davon) nicht als bekannt vorausgesetzt werden können.

4. Wenn man nun die impliziten Bedeutungsunterschiede nicht ausformuliert, sondern direkt den wortgleichen Sätzen kontextabhängig die Wahrheitswerte zuschreibt, dann kann es passieren, dass derselbe Satz das eine mal wahr und das andere mal falsch ist, so dass es zu scheinbaren Widersprüchen kommt, die jede Argumentation zusammenbrechen lassen.

Das möchte ich vermeiden. Es geht nicht um das "Wohl" der Logik (was kann das denn sein?) sondern um die Bedingungen rationaler logischer Argumentation, die ich erhalten wissen möchte.

Wenn man die Wahrheitswerte kontextabhängig benutzt, dann muss man auch die Wahrheitsbedingung folgendermaßen umformulieren.

" Der Satz 'p' ist in einem bestimmten Kontext wahr, wenn es so ist, wie der entsprechend diesem Kontext gedeutete Satz 'p' besagt."

Wollen wir uns diese Komplikationen aufbürden?

fragt Euch Eberhard.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Verena am 06. Feb. 2005, 23:42 Uhr

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on 02/06/05 um 18:41:24, Hermeneuticus wrote:... Welche Voraussetzungen brauchen wir zur Gewinnung personenunabhängiger Wahrnehmungsinhalte?

 

Vorläufige negativ-ausschließende Betrachtung:

Bevor man die "Voraussetzungen" solcher "personenunabhängiger Wahrnehmungsinhalte" analysiert, muss mE zunächst einmal geklärt werden, was denn "personenunabhängige Wahrnehmungsinhalte" sind (und ob es diese überhaupt gibt).

Die Frage ist also zunächst einmal, was du unter "personenunabhängigen Wahrnehmungsinhalten" verstehst. Welche Anteile, Momente an einer Wahrnehmung können denn überhaupt "personenunabhängig" sein?

Zunächst einmal würde ich hier vor allem die sinnlichen Anteile als "personenabhängig" streichen - denn welche akustischen, Farb-, Geschmacks- oder Geruchseindrücke wir haben ist sicher von der individuellen Verfassung unsrer "Sinnlichkeit" abhängig. In Beziehung auf das sinnliche Material in unsren Wahrnehmungen kann also nicht von "personenunabhängig" die Rede sein.

Da es aber das Faktum der Verständigung mit anderen Menschen über "Wahrnehmungen" gibt, muss dieser Verständigung etwas anderes zu Grunde liegen als das interindividuell mitunter stark abweichende aber zumindest immer verschiedene sinnliche Material der Wahrnehmung. Es muss (im Unterschied zum sinnlichen Material) also etwas "Überindividuelles" in der Wahrnehmung sein, welches uns (versch. Personen) in gleicher Weise gegeben ist und worüber wir einen interindividuellen (intersubjektiven) Konsens erreichen können. Über das interindividuell immer unterschiedliche sinnliche Material, das immer nur relativ auf das wahrnehmende Subjekt besteht (so ist wie es ist), kann der Konsens jedenfalls nicht laufen. Aber was in der "Wahrnehmung" gibt dann die Basis zu einer intersubjektiven Verständigung?

Verena

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 06. Feb. 2005, 23:56 Uhr

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Hallo Eberhard!

 

Quote:" Der Satz 'p' ist in einem bestimmten Kontext wahr, wenn es so ist, wie der entsprechend diesem Kontext gedeutete Satz 'p' besagt."

Wollen wir uns diese Komplikationen aufbürden?

 

Ja, dürfen wir sie uns denn (in einer Grundsatzdebatte über Wahrheit) ersparen? Und welchen Preis zahlen wir, wenn wir die regionalen Geltungsbedingungen für Behauptungen unter den Tisch fallen lassen?

Die Angst vor dem Gespenst des "Relativismus", das angeblich in den Kontexten umgeht, ist unbegründet. Sooo wahllos divers und unübersichtlich sind die Kontexte, in denen Behauptungen aufgestellt werden, doch gar nicht. Nur wenn man davon ausgeht, das erkennende, sprechende Subjekt sei ein unbeschriebenes Blatt, das sich in jedem Moment seines Lebens einem Chaos von Sinnesreizen gegenübersieht, kann man auf die Idee kommen, es brauche einen festen Halt an zeitenthobenen Wahrheiten.

Aber lassen wir doch einmal die Sprachspiele, an denen wir faktisch und erfolgreich teilnehmen, Revue passieren! Wie verschiedenartig sind sie? Und in wie vielen dieser Sprachspiele kommen Behauptungen vor, die wirklich den Anspruch auf zeit- und ortsunabhängige Geltung erheben? In den Wissenschaften, auch hier im Philosophieforum kommen sie natürlich gehäuft vor. Aber sonst? Wenn ich zu jemandem sage "Ich hab das Auto 200 m von hier geparkt" - tritt jemals jemand auf, der das bezweifelt, auf genauer Ausmessung und genauer Zeit- und Ortsangabe besteht, ehe er das gelten lassen kann? Vor Gericht, könnte man denken, sehe anders aus. Aber erstens steht man nicht so sehr oft und unversehens vor Gericht, und wenn man - zweitens - einmal einen Tag als Zuschauer im Amtsgericht zugebracht und in mehreren Prozessen die Beweisaufnahme verfolgt hat, nimmt von idealisierenden Vorstellungen rasch Abschied.

Wer nicht nur über den Rand erkenntnistheoretischer Bücher in die Welt schaut, sieht doch klar, dass wir fast überall nach dem Prinzip von "Treu und Glauben" durchkommen - ja, gar nicht anders durchkommen würden, weil die Umstände gar nicht mehr zulassen. Die Lebenswelt hat keine Verwendung für zeit- und ortsenthobene Geltungsansprüche. Und das liegt daran, dass sie kein natürliches Chaos ist, sondern, als menschlich eingerichtete Lebenswelt, "immer schon" nach erlernten Regeln organisiert und vorstrukturiert ist. (Dass diese Ordnung ihre Grenzen und Krisen hat, will ich nicht bestreiten; ich rede hier vom Durchschnitt.)

Zur "Relativität" der Kontexte, die scheinbar so irrational und unüberschaubar ist, gehört auch ein wichtiger Umstand: Nicht jede Art von Sätzen kommt in jedem denkbaren Kontext vor, sondern wir wissen schon im voraus - oder stellen uns rasch darauf ein, wenn wir es einmal nicht wissen -, welche Art von Sätzen und welcher Stil von Rede jeweils gebräuchlich ist. So etwas erlernen wir unmittelbar mit unserer Sprachkompetenz, freilich schrittweise, indem wir uns nach und nach in mehr mehr verschiedene Kontexte einleben. Und das dämmt ein mögliches Chaos von vornherein ein.

Diese Vielfalt mag aus philosophischer Sicht, wo es ums Prinzipielle geht, mühsam und kompliziert erscheinen, wenn man es mit der Übersichtlichkeit künstlicher Wissenschaftssprachen vergleicht. Aber das ist eher das Problem des Philosophen ALS Philosophen; sobald der Philosoph wieder Vater, Ehemann, Vereinsmitglied, Nachbar... usw. ist, hat er mit dieser Unübersichtlichkeit keine Probleme.

...

Ich kürze ab: Der "Relativismus" ist ein künstliches Problem der Erkenntnistheoretiker. Und nur sie brauchen dagegen das Mittel der zeitenthobenen Geltung.

Gruß

H.

 

 

 

 

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Dyade am 07. Feb. 2005, 02:44 Uhr

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Hi zusammen,

ihr seid zu schnell, ich komm nicht mehr mit... [skater]

aber egal, ich bin immer für praktische Beispiele. Da kommt die Teleskopstange in Eberhards Beispiel genau richtig. Interessanter wäre allerdings gewesen Eberhard, nur als Vorschlag, wenn der Kunde auf dem Schrottplatz und der Techniker jeweils 2,00 m auf ihrem Messinstrument abgelesen hätten und ein Dritter misst und stellt 1,999m fest. Tatsache ist doch, wir bauen weder absolut exakte Teleskopstangen noch absolut exakte Messinstrumente. Wer entscheidet nun welcher Satz wahr ist. Ist Wahrheit eine Frage der Mehrheit oder des Konsenses oder gibt es gar einen Tolleranzraum der von den Zwecken her definiert wird?

N8

DY

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von gershwin am 07. Feb. 2005, 06:34 Uhr

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Hi Eberhard

Quote:Ich bin nicht der Meinung, dass ein solcher Gebrauch des Wortes "wahr" sinnvoll ist,

 

Es wird aber doch exakt so gehandhabt! Frägt der Meister seinen Schüler in einem Teleskopbau-Betrieb: "Wie lang ist diese Stange?" Und der Schüler antwortet: "Diese Stange ist 2m." Dann wird hoffentlich ein aufmerksamer Geselle einwerfen: "Das ist nicht wahr, die Stange ist 199,99 cm lang!" Und er wird damit genau der Signalfunktion des Wortes unwahr gerecht: Meister, verlasse dich ja nicht drauf, dass die Stange 2m lang ist! Mehr ist da erstmal nicht. Ob die Stange jetzt "wirklich" 2 oder 1,99 m lang ist, tut überhaupt nichts zur Sache. Der Geselle kann lügen oder sich täuschen. Das gleiche gilt für den "Wahrheitssuchenden", der die Stange nochmal nachmisst und das Ergebnis verkündet.

Frage:

Kann hier irgend jemand eine Aussage oder eine Situation präsentieren, welche das Substantiv "Wahrheit" erfordert? dass es eine solche Situation nicht gibt, sollte doch zu denken geben. Man kommt mit den Adjektiven "wahr" und "unwahr" sehr gut aus. (Eine Scherzantwort könnte lauten: Man kommt ohne das Wort Wahrheit unmöglich zu einem Philosophie-Diplom.) Vor Gericht etwa könnte man statt: "die Wahrheit, nichts als die Wahrheit" schlicht schwören, dass alle getätigten Aussagen als wahr angesehen werden (und zwar, Eberhardt, nicht nur solche vom Typ: "die 2m Stange, die er mir verkauft hat, war nur 1,99 m", sondern auch: "Er hat mich beleidigt. Er schrie ziemlich laut" usw. Wenn jemand schwört: "Er hat mich beleidigt, und das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit", ist das wirklich eine sinnvolle Rede?)

 

Quote:Insofern kann es dabei bleiben, dass ein Satz (mit einer festen Bedeutung) entweder wahr oder falsch ist, unabhängig vom jeweiligen Verwendungszusammenhang

 

Und wer legt das fest, ob ein Satz wahr "ist" oder nicht? Du kannst einen Satz höchstens "für wahr halten" (und ihn sowie die erlaubten Folgerungen in Deine Planung zielorientierten Handelns einbeziehen). Überdies läßt Du mit dieser Äußerung mal wieder 90 % aller gesprochenen Sätze außen vor. Was sollte es denn beispielsweise der obige Gerichtsschwur bedeuten? Oder was sollte es bedeuten, von dem Satz "Eberhard ist schlau" zu behaupten, er sei "entweder wahr oder falsch" ?

Mit der Schlauheit ist es wie mit der Wahrheit: eine bequeme (und eine größere Vielfalt von Sprachspielen ermöglichende) aber an sich unnötige Abkürzung.

Es sollte doch weiterhin zu bedenken geben: Wenn man gefragt wird, in welchen Fällen man das Wort "wahr" verwendet, fällt die Antwort recht einfach: "Ich verwende es in Bezug auf Aussagen, auf die sowie auf deren erlaubten Folgerungen ich mein zielorientiertes Handeln basieren kann." Wenn das fertige Teleskop mit einer 1,99 m langen Stange exakt gleichgut funktionieren würde, würde man die Aussage des Schülers: "Diese Stange ist 2m lang" als wahr bezeichnen. Verlangt das Teleskop allerdings Nanometergenauigkeit, wäre die gleiche Aussage als wahnwitzig falsch zu bezeichnen. (Im Einstein-Jahr könnte man noch hinzufügen: Wenn sich der Schüler mit der Stange in der Hand mit 0,9 c um den Meister rumbewegen würde, wäre die Aussage ebenfalls wahnwitzig falsch :-))

 

Wird man gefragt, in welchen Fällen man das Wort "Wahrheit" verwendet, ist die Antwort ungleich schwieriger, wie diese Debatte ja zur Genüge zeigt. Das kommt daher, dass Sprache keine Abbildfunktion hat, sondern sich im Rahmen der Evolution aus einfacheren Kommunikationssystemen entwickelt hat, die nur eine Funktion hatten (von einem Selektionsdruck geprägt wurden): das Überleben. Und zwar das Überleben der Art in der Umwelt sowie dem Überleben des Individuums unter seinen Artgenossen. Wenn man Einzelpersonen eine 1,99 Stange messen läßt, so gibt es diverse Tricks (bei Gruppen funktioniert das noch besser), um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass diese Person voll innerer Überzeugung 2,0 m misst.

Oder anders ausgedrückt: Die "logische" Folgerung: Die Aussage, dass die Aussage "Diese Stange ist 2 m lang" falsch sei, voraussetzt, dass sie eine wirkliche Länge hat, ist meiner Meinung nach falsch (von mir selbst mir nicht erlaubt :-)).

Ich erlaube mir allerdings

Freundliche Grüße

Thomas

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 07. Feb. 2005, 08:29 Uhr

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Hallo snom,

guter Joke, das mit der Maya [cheesy]!

Aber Maya ist natürlich keine objektive Kraft oder Phänomen, die absichtlich jemandem etwas vorgaukelt. Das ist einfach eine bildliche Beschreibung für eine "Konditionierung" der Wahrnehmung. Das ist ein natürlicher Prozess, der dich glauben lässt, du befändest dich in einem Körper bzw. du seist ein Körper, der von vermeintlich "da draußen" sich befindlichen Dingen getrennt ist. Daher glaubst du auch, dass du "Dinge an sich" wahrnimmst, die eigenständig und unabhängig von deiner Wahrnehmung existieren.

Diese Konditionierung sitzt bei den meisten Menschen so tief, dass sie es als absurd bezeichnen, wenn sie davon hören.

Kein Mensch kann diese Konditionierung absichtlich durchschauen. Je mehr du es versuchst, desto mehr wird die eingebildete Trennung verstärkt. Es ist unmöglich zu sagen, wievielen Menschen sich eine "direkte" Wahrnehmung offenbart hat. Einige sprechen darüber, viele nicht. Manchen hat sie auch Angst gemacht, weil der Verstand es nicht einordnen konnte.

Die Konditionierung ist nichts falsches, sie muss in gewisser Weise sein, sonst gäbe es keine Kommunikation und kein Miteinander. Daher besteht sie auch fort, selbst wenn sie durchschaut worden ist.

 

Hallo Thomas,

du hast recht: ich kann nicht registrieren, WIE Gedanken entstehen. Da habe ich mich falsch ausgedrückt. Aber ich kann registrieren, dass Gedanken lediglich erscheinen, ohne dass ich sie absichtlich erzeugen könnte. Die Idee eines vermeintlichen Willens entsteht immer erst eine Winzigkeit NACH dem Gedanken bzw. der Handlung.

Aber es macht eigentlich keinen Sinn, wenn wir weiterdiskutieren. Du gehst von anderen Grundannahmen aus als ich. Die erscheinen dir unerschütterlich, da sie ja wissenschaftlich "bewiesen" sind. Von deinen Grundannahmen aus argumentierst du absolut logisch und richtig. Aber ich stelle sie eben in Frage, was du wiederum nicht nachvollziehen kannst.

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 07. Feb. 2005, 12:39 Uhr

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Hallo Eberhard!

 

Quote:Es geht nicht um das "Wohl" der Logik (was kann das denn sein?) sondern um die Bedingungen rationaler logischer Argumentation, die ich erhalten wissen möchte.

Regeln - und dazu zählen auch die logischen Regeln der Argumentation - haben eo ipso eine Geltung, die über Einzelfälle hinausreicht. Das klingt trivial, ist aber ein Sachverhalt mit ungeheuer weitreichenden Implikationen, die man nicht so leicht überschaut. Regeln "transzendieren" das zeitlich-örtlich besondere, faktische Hier und Jetzt, ihre Geltung ist also eine "kontra-faktische". Ihre fundierende Bedeutung geht so weit, dass die Rede von einem "zeitlich-örtlich besonderen, faktischen Hier und Jetzt" ohne sie gar nicht möglich wäre. Denn nur im Horizont einer möglichen Vergleichbarkeit von Einzelnem ist es möglich, DIESES "Hier und Jetzt" zu bestimmen (d. h. alle anderen "Hier und Jetzt" auszuschließen). Man kann nur ausschließen, was man überlickt. Nur blicken unsere Augen nicht sehr weit und sie sehen niemals MÖGLICHE andere Fälle. Durch Regeln - und auch Begriffe sind Regeln - schaffen wir uns überhaupt erst jenen gedachten "Horizont" einer MÖGLICHEN Mannigfaltigkeit (z. B. von Orten und Zeitpunkten), innerhalb dessen sich ein besonderer Punkt als DIESER (= kein anderer) ansprechen und bestimmen lässt.

Insofern gebe ich die große Bedeutung von Regeln, auch der des logischen Argumentierens zu. Aber meine Überlegung macht vielleicht auch absehbar, dass jener von den Regeln "erzeugte" Horizont einer möglichen Mannigfaltigkeit von Vergleichsfällen doch immer bezogen bleibt auf die konkrete Situation, in der Regeln ANGEWENDET werden. Versucht man den möglichen Anwendungsspielraum einer Regel isoliert zu denken, praktiziert man, was Kant das "Schweifen in intelligiblen Welten" nannte. Intelligible Welten - gedachte, mögliche Mannigfaltigkeiten - unterliegen, für sich "betrachtet", nicht den faktischen Beschränkungen, sie sind zeit- und ortlos. Und genau in dieser "Transzendenz" des Faktischen liegt ihr Sinn, ihre ungeheure potentielle Nützlichkeit für uns. (Wesen, die keiner Regel folgen können, bleiben immer ins Hier und Jetzt gebannt; wir dagegen können uns dank unserer Regelkompetenz vom "Hier-jetzt-dies-da" loslösen.) Aber ihr wirklicher Nutzen liegt jeweils in der faktischen Anwendung.

Da logische Regeln oder die Regeln für den Begriff der Wahrheit ebenfalls ihren Sinn verlieren, wenn sie von den faktischen Anwendungen losgelöst werden, kann man berechtigtermaßen fragen, wie weit jener zeitenthobene Horizont ihrer "Geltung" gefasst werden sollte, um seinem Zweck zu genügen. Regeln fürs Argumentieren braucht man, wo argumentiert wird. Regeln für den Begriff der Wahrheit braucht man, wo an Behauptungen gezweifelt wird und ein gemeinsames Interesse an der Behebung dieses Zweifels besteht.

Nebenbei: Unsere lange Diskussion lässt darauf schließen, dass unser Interesse an der Behebung des Zweifels hinsichtlich des Wahrheitsbegriffs nicht sehr ausgeprägt sein kann... Müssten wir über die Diskussion hinaus gemeinsam handeln, womöglich zum Zweck der Selbsterhaltung, hätten wir uns längst auf eine praktikable Formel geeinigt, mit der jeder leben könnte.. Aber wir können uns den fortgesetzten Zweifel HIER leisten... :-)

Kurz: Es ist für eine realistische Wahrheitstheorie durchaus sinnvoll, eine Mannigfaltigkeit von Anwendungsfällen zuzulassen und jeweils von ihnen her danach zu fragen, wie weit jener Geltungshorizont der Regeln gefasst werden muss, um seinen Zweck zu erfüllen. Es ist dagegen nicht nötig, FÜR ALLE FÄLLE auf einer zeit-, orts- und personenunabhängigen, d. h. einer rein "intelligiblen", "idealen" Geltung zu bestehen, die jeweils mit dem Gebrauch des Prädikats "wahr" - gewissermaßen automatisch - erhoben werde.

Gruß

H.

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 07. Feb. 2005, 18:54 Uhr

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Hallo allerseits,

das Problem ist, dass angesichts seiner kontextabhängigen (und deswegen unterschiedlichen) Bedeutung ein und derselbe wortgleiche Satz (je nach dem Kontext, in dem er geäußert wird,) einmal wahr und einmal falsch ist.

Eine Metallstange, die auf dem Schrottplatz 2 m lang ist, ist u. U. bei der Teleskop-Fertigung nicht 2 m lang.

Wenn man die kontextabhängigen Bedeutungen ausformuliert, so dass die Mehrdeutigkeit verschwindet, dann verschwindet dieser Widerspruch und die entstehenden Sätze sind wieder entweder wahr oder falsch.

Wenn auf dem Schrottplatz "2 m " bedeutet: "zwischen 1,995 m und 2,005 m" und wenn bei der Teleskop-Herstellung "2 m" bedeutet: "zwischen 1,9999995 m und 2,0000005 m" dann kann man ohne Widerspruch von einer Stange, die 1,99600000 m lang ist, sagen:

" Diese Stange ist 2 m lang bezogen auf Schrottplatz-Genauigkeit, aber sie ist nicht 2 m lang bezogen auf Präzisionsinstrumenten-Genauigkeit"

Wenn sprachliche Ausdrücke kontextabhängig mehrdeutig sind, dann kommt es solange zu keinen Missverständnissen oder Fehlschlüssen, wie allen Beteiligten bewusst ist, welcher Kontext besteht und was die jeweilige Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks ist.

Aber dies ist nicht immer der Fall. Wer kennt nicht den Diskussionsteilnehmer, der Kritik an seinen Aussagen gern mit dem Ruf niedermacht: "Du hast meine Aussage ja völlig aus dem Zusammenhang gerissen" und der sich vorbehält, die Bedeutung seiner Aussagen von Fall zu Fall zu interpretieren. Das ist wie ein Ringkampf mit einem glitschigen Gegner: Man kriegt ihn nie zu fassen.

Wenn nicht mehr gilt "a gleich a" sondern je nach Kontext gilt: "a gleich b", "a gleich c" oder "a gleich d", dann werden an die Sprechenden und an die Hörenden große Anforderungen gestellt.

Wenn man Missverständnisse und Fehlschlüsse bei der Beantwortung gestellter Fragen nicht will, sollte man mehrdeutige sprachliche Ausdrücke vermeiden, indem man unterschiedlichen Bedeutungen auch unterschiedliche sprachliche Ausdrücke zuordnet.

Dies halte ich für eine sinnvolle methodische Regel, wenn man auf die gestellten Fragen wahre Antworten bekommen will.

Das schließt nicht aus, dass man im Alltag das jeweils Selbstverständliche stillschweigend voraussetzt und statt: "Komm zu mir, Peter!" nur sagt "Komm!"

Es grüßt Euch Eberhard.

 

 

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 07. Feb. 2005, 20:06 Uhr

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Hallo thomas,

eine Frage habe ich noch. du hattest geschrieben:

" deine fragen zeugen von einem fehlenden verständnis für naturwissenschaftliche arbeit und unterstellen einen plumpen materialismus, der vielleicht im 19. Jh angebracht gewesen wäre. beim bewußtsein handelt es sich um ein funktionales phänomen; i.e. bewußtsein ist kein zahnradgetriebe und ist als solches bei der arbeit zu beobachten, sondern, entsteht durch das komplexe zusammenspiel der einzelnen neuronen des menschen. gerade hier ist die theorie der neuronalen netzwerke hilfreich - um zum beispiel zu verstehen, wie wissen in einem solchen netzwerk "gespeichert" wird."

Was ist für dich ein funktionales Phänomen, wie meinst du das? Du sagst auf der einen Seite, Bewußtsein sei kein Zahnradgetriebe, das man bei der Arbeit beobachten könne. Dann unterstellst du aber genau das, indem du das Zusammenspiel der Neuronen dem Bewußtsein zuordnest.

Du kannst als Forscher zwar die Neuronen beobachten, aber du siehst doch nie die "Innenperspektive" des anderen. Wenn jemand träumt oder nachdenkt, kannst du zwar Neuronen- und andere Tätigkeiten objektiv messen, aber das entspricht doch noch lange nicht dem subjektiven Erleben, das der andere hat, oder? Du siehst niemals die "inneren Bilder" des anderen. Da sind chemische Vorgänge, die du messen und damit zeitlich und räumlich zuordnen kannst. Aber wie willst du das, was der andere sieht bzw. erlebt, zeitlich und räumlich zuordnen? Sind die chemischen Vorgänge Ursache für die "inneren Bilder", oder nur Begleiterscheinung? Könnten sie auch theoretisch Wirkung der inneren Bilder sein? Auf jeden Fall entsprechen sie ihnen aber nicht, würde ich sagen.

Warum also will man wissen, dass sich das Bewußtsein genau dort befindet oder stattfindet, wo man die chemischen Vorgänge beobachtet?

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von WuWei am 07. Feb. 2005, 20:12 Uhr

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Hallo Eberhard,

wenn ich sage, Australien hat denselben längenmäßigen Umfang wie Helgoland, ist diese Aussage dann für dich wahr oder falsch?

Grüße,

WuWei

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Eberhard am 07. Feb. 2005, 21:24 Uhr

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Hallo Thomas G,

Meine Frage an Dich: Was machst Du, wenn Geselle A sagt: "Die Stange ist exakt zwei Meter lang." und Geselle B bestreitet das: "Nein, das ist nicht wahr. Sie ist kürzer als zwei Meter."

Ist es für Dich ein Problem, wie man wahre von falschen Aussagen unterscheiden kann? Wenn ja, wie sollte man diese Frage angehen?

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Hallo wuwei,

was meinst Du mit "längenmäßigem Umfang" ?

Es grüßt Euch Eberhard.

 

p.s.: Demnächst geht es unter "Wahrheit VII" weiter!

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Titel: Re: Wahrheit VI

Beitrag von Hermeneuticus am 08. Feb. 2005, 23:33 Uhr

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Hallo miteinander!

Die Diskussion ist doch etwas ausgefranst in letzter Zeit. Was mich angeht - vor Ende nächster Woche komme ich auf keinen Fall dazu, eins oder gar mehrere der losen Enden wieder aufzunehmen...

Bis dann! Gruß  H.

 

 

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