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Utilitarismus – Kritik und Neubegründung

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Inhalt:

Die Wurzeln des Utilitarismus
Die Begründung des Hedonismus
Der unzulässige Schluss vom Einzelnen auf das Ganze
Die Ersetzung des hedonistischen Prinzips durch das moderne Nutzenkonzept
Eine diskurstheoretische Begründung des Utilitarismus
Der Wahrheitsbegriff der Diskurstheorie
Das Prinzip der Berücksichtigung von Konsequenzen
Der Regelutilitarismus

Anhang
Zur Verteidigung des Utilitarismus gegen die Kritik von John Rawls 

Textanfang

Die Wurzeln des Utilitarismus


Der Utilitarismus, wie er vor allem durch Jeremy Bentham (1748 – 1832) und John Stuart Mill (1806 - 73) systematisch formuliert wurde, stellt eine breite sozialphilosophische Strömung dar, die in verschiedenen Varianten auftritt.

Den Kern des Utilitarismus kann man in der Forderung zusammenfassen: "Handele immer so, dass das größtmögliche Maß an Nutzen (bzw. Glück) entsteht!" (Maximum-Happiness-Principle).
Dabei ergibt sich der Gesamtnutzen aus der Zusammenfassung aller individuellen Nutzen.
(Zum besseren Verständnis des Utilitarismus sei von vornherein klargestellt, dass das englische Wort "utility" keineswegs dasselbe bedeutet wie das deutsche Wort "Nützlichkeit".  Ein schöner Blumenstrauß kann "utility" besitzen, obwohl er sicherlich nicht "nützlich" ist.)

Der Utilitarismus verstand sich nicht nur als Ethik des individuellen Handelns, sondern auch – und bei Bentham vor allem – als Sozialethik, d. h. als Anleitung zur richtigen Gestaltung der politischen und ökonomischen Institutionen.

Die Wurzeln des modernen Utilitarismus sind vielfältig.

Zum einen ist der Utilitarismus beeinflusst von der Aufklärung, insbesondere von den französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts wie Helvetius (1715 – 1771) oder Holbach (1723 – 1789). Insofern ist der Utilitarismus eine betont säkulare Philosophie, die den Rückgriff auf eine religiöse oder theologische Begründung der moralischen und sozialen Ordnung entschieden ablehnt und eine Begründung allein mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis verlangt.

Eine andere Wurzel ist der englische Empirismus, wie er zuerst durch Bacon (1561 – 1626) formuliert wurde und der in den Erfolgen der Newtonsche Physik seinen Ausdruck fand. Von dorther hat sich der Utilitarismus am Vorbild der Naturwissenschaft orientiert und den Anspruch erhoben, eine "moral science" zu sein, die frei ist von jeder Metaphysik.

Von diesem wissenschaftlichen Anspruch her ist auch das Bemühen um Quantifizierung, um die Messung und Kalkulation des Glücks bzw. Nutzens zu verstehen.

Eine weitere Quelle des Utilitarismus ist die neuzeitliche Anthropologie und Psychologie, die den Menschen als ein vom Selbsterhaltungstrieb bzw. Glücksstreben motiviertes Wesen ansah.

Mit Hilfe der Assoziationspsychologie konnte man außerdem erklären, wie sich – modern gesprochen – aus primären Trieben (z. B. Hunger) sekundäre Triebe (Wunsch nach Geldbesitz) durch Lernen bzw. Konditionierung aufbauen.

Außerdem konnte der Utilitarismus natürlich auch auf die vorchristlichen griechischen Philosophien des Hedonismus bzw. Eudämonismus zurückgreifen, die jedoch eher Lehren des "guten bzw. weisen Lebens" waren als eine Ethik im modernen Sinne.

Die philosophischen Gegenspieler des Utilitarismus waren zum einen Theorien, die die Begründung moralischer und sozialer Normen in einer übernatürlichen Autorität suchten, etwa die Vertreter eines "Königtums von Gottes Gnaden".

Zum andern bestand ein Gegensatz zu Strömungen, die bestimmte natürliche Rechte bzw. unveräußerliche Menschenrechte behaupteten und auf dieser Grundlage die Gesellschaft gestalten wollten. Hier ist vor allem die Theorie des Gesellschaftsvertrages zu nennen. In der Vertragstheorie ist das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der sozialen Institutionen und Normen, ob diese aus einem Vertrag freier und vernünftiger Menschen hätten hervorgehen können.

Zum Anfang

Die Begründung des Hedonismus

Die Kritik am Utilitarismus richtet sich in erster Linie gegen das hedonistische (von griechisch "hedone" = "Lust", "Genuss", "Vergnügen") bzw. eudämonistische (von griechisch "eudämonia" = "Wohlbefinden der Seele in uns") Prinzip, wonach die Förderung des allgemeinen Glückes (engl. happiness, utility, felicity, pleasure) der alleinige Maßstab des Handelns ist und damit das entscheidende Kriterium darstellt für die Gültigkeit von Normen bzw. die Rechtfertigung normsetzender Institutionen.

Jeremy Bentham erläutert dies Prinzip im ersten Kapitel seiner "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" (zuerst erschienen 1789, dem Jahr der Französischen Revolution) folgendermaßen: "Mit dem Prinzip des Nutzens ist das Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück der Partei, deren Interessen in Frage kommen, zu erhöhen oder zu vermindern ... Mit 'Nutzen' ist diejenige Eigenschaft einer Sache gemeint, wodurch sie zur Schaffung von Wohlergehen, Vorteil, Freude, Gutem oder Glück tendiert ... " (Bentham, Introduction ... , Oxford 1948, S. 34. Eigene Übersetzung).

Die Begründung des "Prinzips des Nutzens" stützt sich bei den "klassischen" Utilitaristen auf den psychologischen Hedonismus, demgemäß alle Menschen faktisch nach Lust bzw. Glück streben. Bentham beginnt die "Introduction" mit den Sätzen: "Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier oberster Herren (sovereign masters) gestellt, Schmerz und Lust. Ihnen allein kommt es zu aufzuzeigen, was wir tun sollen als auch zu bestimmen, was wir tun werden. Auf der einen Seite ist der Maßstab von Recht und Unrecht, auf der anderen Seite die Kette von Ursachen und Wirkungen an ihrem Thron festgemacht ... Das Prinzip des Nutzens erkennt diese Unterwerfung an und nimmt sie als Grundlage für das System, dessen Ziel es ist, die Schaffung von Glück durch die Liebe zu Vernunft und Recht zu steuern." (Bentham, Introduction S. 33ff.)

Bentham hält das Nutzenprinzip für ein evidentes Prinzip, das man nicht weiter ableiten kann. In der "Theory of Legislation" (englische Ausgabe London: Kegan Paul 1904) schreibt Bentham: "Ein Prinzip ist eine erste Idee, die den Anfang oder die Grundlage für ein System von Argumenten bildet. Um es durch ein anschauliches Bild zu illustrieren: Ein Prinzip ist ein fester Punkt, an den das erste Glied einer Kette befestigt ist. Solch ein Prinzip muss völlig evident sein. Es zu veranschaulichen und zu erklären muss seine Anerkennung bestärken, so wie bei den Axiomen der Mathematik; sie werden nicht direkt bewiesen; es genügt zu zeigen, das man sie nicht verwerfen kann ohne in Absurdität zu verfallen." (Bentham, Theory ... S.2f. eigene Übersetzung).

Darüber hinaus findet sich bei Bentham keine tiefergehende Begründung des hedonistischen Prinzips. Seine Argumentationsstrategie besteht im Wesentlichen darin, nachzuweisen, dass konkurrierende Prinzipien unhaltbar sind bzw. dass auch die Kritiker des hedonistischen Prinzips dieses ungewollt zugrunde legen.

John Stuart Mill dagegen unternimmt größere Anstrengungen zur Begründung des hedonistischen Prinzips. Er diskutiert die Frage nach dem Gültigkeitskriterium für Normen des Handelns als Frage nach den "letzten Zwecken" (ultimate ends) menschlichen Handelns (Mill, J.St.: Der Utilitarismus, Stuttgart Reclam 1976, S. 8., zuerst erschienen 1861). "Fragen nach Zwecken (ends) sind (mit anderen Worten) Fragen danach, welche Dinge wünschenswert (desirable) sind. Der Utilitarismus sagt, dass Glück wünschenswert (desirable) ist, dass es das einzige ist, das als Zweck wünschenswert ist, und dass alles andere nur als Mittel zu diesem Zwecke wünschenswert ist." (Mill S. 60)
 
Wie Mill weiter ausführt, "wird der einzige Beweis dafür, dass etwas wünschenswert (desirable) ist, der sein, dass die Menschen es tatsächlich wünschen." (Mill S. 60 ff.) "Wenn die menschliche Natur so beschaffen ist, dass sie nichts begehrt, was nicht entweder Teil des Glücks oder ein Mittel zum Glück ist, dann haben wir keinen anderen und benötigen keinen anderen Beweis dafür, dass dies die einzigen wünschenswerten Dinge sind. In diesem Fall ist Glück der einzige Zweck menschlichen Handelns und die Beförderung des Glücks der Maßstab, in dem alles menschliche Handeln gemessen werden muss." (Mill S. 67)

Dieser Gedankengang ist jedoch keineswegs logisch schlüssig, sondern arbeitet mit der verborgenen positiv-normativen Doppeldeutigkeit des Begriffs "Zweck" ("end"). Die Frage: "Was ist der letzte Zweck menschlichen Handelns?" kann zwei unterschiedliche Bedeutungen haben:

Sie kann einmal normativ verstanden werden: "Was sollen die Menschen in ihrem Handeln letztlich anstreben?" Sie kann jedoch auch positiv verstanden werden: "Was streben die Menschen in ihrem Handeln tatsächlich an?"

Mill versucht nun, die normative Frage zu beantworten, indem er eine Antwort auf die positive Frage gibt. Er kommt zu dem Ergebnis: "Alles, was nicht als Mittel zu einem Zweck und letztlich als Mittel zum Glück begehrt wird, ist selbst ein Teil des Glücks und wird erst dann um seiner selbst willen begehrt, wenn es dazu geworden ist." (Mill S. 66)

Dies ist für Mill eine empirische Frage ("a question of fact and experience", Mill S.62). Um den von Mill behaupteten empirischen Zusammenhang zwischen Begehren (desire) und Glück (pleasure, happiness) überprüfen zu können, müssen Begehren und Glück jedoch unabhängig voneinander definiert und gemessen werden. Erst dann kann man überprüfen, ob alle Individuen tatsächlich immer das begehren, was für sie das größte Glück bedeutet.

Selbst wenn die These des psychologischen Hedonismus richtig wäre, dass die Menschen faktisch nur nach ihrem Glück streben, so würde daraus noch keineswegs logisch die These des ethischen Hedonismus folgen, dass allein menschliches Glück wünschenswert ist. Etwas, was tatsächlich gewünscht (desired) wird, muss deswegen noch nicht wünschenswert (desirable) im normativen Sinne sein. Dies wäre ein logisch unzulässiger Schluss vom Sein auf das Sollen: "Die Behauptung, dass man etwas begehrt, genügt nicht, etwas als wertvoll hinzustellen. In der Tat könnte ein Zyniker sagen, dass einige Leute übel dran sind, weil sie nicht bekommen, was sie möchten, andere dagegen übel dran sind, weil sie faktisch genau das haben möchten, was sie bekommen" (Richard S. Peters: Ethik und Erziehung, Düsseldorf 1972, S. 137. Zuerst erschienen 1965). Heroinsüchtige wären ein Beispiel für das Letztere.

Mills Argumentation ist also nicht schlüssig und er scheint das auch zu ahnen, denn er will seine Begründung nicht als "Beweis" im strengen Sinn verstanden wissen.

Zum Anfang

Der unzulässige Schluss vom Einzelnen auf das Ganze

Noch aus einem anderen Grund eignet sich der psychologische Hedonismus nicht zur Begründung einer utilitaristischen Ethik.

Der psychologische Hedonismus behauptet, dass jeder Mensch nur sein eigenes Glück anstrebt. Der Utilitarismus verlangt aber von den Individuen, dass sie das größte Glück aller Menschen anstreben. Es bleibt also völlig unklar, warum ein Individuum das allgemeine Glück an Stelle seines eigenen Glücks zur Richtschnur seines Handelns machen soll.

Mill führt dazu aus: "Kein Grund kann dafür gegeben werden, weshalb das allgemeine Glück begehrenswert ist, außer dem, dass jede Person ihr eigenes Glück anstrebt, so weit sie es für erreichbar hält. Wenn dies jedoch eine Tatsache ist, so haben wir nicht nur alles an Beweis, was dieser Fall zulässt, sondern auch alles, was man fordern kann, damit Glück ein Gut ist: dass das Glück in jeder Person ein Gut für diese Person ist und dass deshalb das allgemeine Glück ein Gut für die Gesamtheit aller Personen ist." (Mill S. 88 ff.)

Aus der Tatsache, dass für jede Person das eigene Glück ein Gut ist, folgt jedoch nicht, wie Mill offenbar meint, dass das allgemeine Glück deshalb ein Gut für die Gesamtheit aller Personen ist. "Denn wenn ein solcher Schluss logisch gültig wäre, dann müsste z. B. aus der Tatsache, dass jeder Staatsbürger an seinen eigenen Staat Steuern zahlt, auch logisch folgen, dass alle Staatsbürger an alle Staaten Steuern zahlen, was natürlich falsch ist." (
Warnock).

Mill scheint die Schwäche dieser Argumentation selber zu spüren, denn an anderer Stelle, wo er sich mit der Frage beschäftigt, welche Motive die Individuen denn zur Befolgung utilitaristische Normen haben könnten, verweist er neben den äußeren Sanktionen durch Erziehung, Rechtssystem und den dadurch geschaffenen Motiven zur Ausrichtung des eigenen Handelns am allgemeinen Glück auf die "Gemeinschaftsgefühle der Menschen - das Verlangen nach Einheit mit unseren Mitgeschöpfen, das bereits jetzt eine mächtige Triebkraft in der menschlichen Natur ist und glücklicherweise zu denen gehört, die, auch ohne dass sie den Menschen eigens eingeschärft werden, unter dem Einfluss fortschreitender Kultur immer stärker werden" (S.54)

Allerdings stellte Mill für die Gegenwart fest: "Dieses Gefühl ist bei den meisten weit weniger stark als die egoistischen Regungen, oftmals fehlt es ganz. Aber für die, die es empfinden, besitzt es alle Eigenschaften eines natürlichen Gefühls. Es stellt sich ihnen nicht als ein anerzogener Aberglauben oder als ein von der Gesellschaft despotisch auferlegtes Gesetz dar, sondern als etwas, das sie auf keinen Fall entbehren möchten. Diese Überzeugung ist die fundamentale Sanktion der Moral des größten Glücks." (S.59).

Mill nimmt damit also Zuflucht zu einer Art moralischem Empfinden der "Sympathie mit anderen" bzw. der "Betrachtung fremder Interessen als seine eigenen", ein Empfinden, von dem er annimmt, dass es mit der Entwicklung der Zivilisation immer stärker werden wird. Ein solches moralisches Empfinden mag zwar Quelle der Motivation für die Befolgung utilitaristischer Normen sein, es kann jedoch nicht zur Begründung des utilitaristischen Prinzips dienen - und Mill versucht dies auch gar nicht.

Denn selbst, wenn man an Stelle des psychologischen Hedonismus in seiner individuellen Form nun stattdessen einen psychologischen Hedonismus in sozialer Form annehmen wollte - nämlich dass aller Menschen nach der Förderung des allgemeinen Glücks streben - so könnte sich aus dieser empirischen Tatsache noch keine moralische Norm ergeben. Eine utilitaristische Norm würde stattdessen völlig überflüssig, denn sie würde fordern, was sowieso schon jeder tut, nämlich das größte allgemeine Glück zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen.

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Die Ersetzung des hedonistischen Prinzips durch das moderne Nutzenkonzept

Allerdings lässt sich das hedonistische Element ohne größere Probleme aus dem Utilitarismus herauslösen und durch einen entscheidungstheoretischen Nutzenbegriff ersetzten. Bereits bei Bentham und Mill deutet sich eine breitere, nicht-hedonistische Interpretation des Nutzenbegriffs an, wenn statt der Begriffe "Glück" ("happiness") oder "Lust" ("pleasure") andere, nicht-hedonistische Begriffe Verwendung finden.

Bentham schreibt zum Beispiel: "Unter 'Nutzen' ('utility') wird jene Eigenschaft in einem Gegenstand verstanden, die Gewinn (benefit), Vorteil (advantage), Lust (pleasure), Gutes (good) oder Glück (happiness) für das jeweils betrachtete Subjekt hervorbringt.. (All dies läuft in diesem Fall auf dasselbe hinaus) ..." (Nach Warnock, M. (Hrsg.): Utilitarianism, London 1962, S. 34).

In ähnlicher Weise scheint auch Mill bereits einen Nutzenbegriffs zu verwenden, der nicht auf Lustempfindungen allein bezogen ist. Mill meinte z. B., "dass etwas zu begehren und es lustvoll zu finden ... zwei Seiten desselben Phänomens sind – genau genommen: zwei verschiedene Formulierungen für die eine psychologische Tatsache, dass etwas (abgesehen von seinen Folgen) für wünschenswert zu halten und es für lustvoll zu halten, ein und dasselbe ist  ... " (Mill, S.67).

Die hedonistischen Empfindungsbegriffe der Lust und Unlust gehen also auch bei Mill in Begriffe des Begehrens bzw. des Vorziehens über.

In seiner nicht-hedonistischen Verwendung stellt dieser Nutzenbegriff nichts anderes dar als ein geeignetes begriffliches Mittel zur quantitativen Charakterisierung von Präferenzen, also Willensinhalten bzw. Interessen. Der Satz: "Die Alternative x hat für Individuum A einen größeren Nutzen als die Alternative y" bedeutet dann nichts anderes, als dass die Realisierung von x mehr im Interesse von A liegt als die Realisierung von y.

Dabei ist nicht notwendig impliziert, dass die Alternative x für A mit einem größeren Quantum an Lustempfindungen verbunden ist, obwohl es faktisch so sein mag, dass Menschen vor allem Dinge wollen, die für sie mit Lustempfindungen verbunden sind. Interpretiert man den Nutzenbegriff in diesem Sinne als einen rein formalen Begriff zur Gewichtung und Beschreibung von Interessenstrukturen bzw. Willensinhalten (und nicht als Empfindungsbegriff), so bedeutet das utilitaristische Prinzip der Maximierung des gesamten Nutzens nichts anderes, als dass jeweils diejenige Handlungsalternative gewählt werden sollte, die dem überwiegenden Interesse aller Menschen entspricht.

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Eine diskurstheoretische Begründung des Utilitarismus

Für die Position, dass alleinige Grundlage für das, was sein soll, die Interessen aller Menschen sein müssen, gibt es nun meiner Ansicht nach eine bessere Grundlage als den Hedonismus.

Ausgangspunkt hierfür ist die Analyse der Bedeutung von Soll-Sätzen. Ein Soll-Satz ist nichts anderes als der Ausdruck eines Interesses bzw. Willensinhaltes. Den Willensinhalt des Satzes: "Ich will, dass du die Tür schließt " kann man durch den Soll-Satz ausdrücken: "Du sollst die Tür schließen!"

Soll-Sätze sind insofern nichts anderes als Ausdruck von Willensinhalten, allerdings ohne Bezug auf den Träger des Willens.

Zugespitzt gesprochen kommt nach dieser Analyse "Sollen" also von "Wollen ": Um zu bestimmen, was sein soll, muss man wissen, was gewollt wird. Die Frage: "Was soll sein?" löst sich auf in die Frage: "Was wollen wir dauerhaft alle gemeinsam?"
 

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Der Wahrheitsbegriff der Diskurstheorie

Mit Hilfe des in der Diskurstheorie entwickelten Wahrheitsbegriffs lässt sich nun noch Genaueres darüber aussagen, wie aufgrund der vorhandenen Interessen eine Handlungsnorm gebildet werden muss.

Nach der Diskurstheorie, wie sie in unterschiedlichen Varianten von K.-O. Apel und J. Habermas sowie P. Lorenzen und seinen Schülern vertreten wird, muss der Anspruch auf Wahrheit für eine Behauptung für jedermann nachvollziehbar begründet werden können. Oder wie die Diskurstheoretiker dies ausdrücken: Über diese Behauptung muss ein gewaltfreier, rein argumentativer Konsens möglich sein.

Die Orientierung am Ziel eines zwangfreien allgemeinen Konsens zwingt das eigeninteressierte Individuum zur Berücksichtigung der Interessen auch aller anderen. Damit ist der Fehlschluss vom Einzelnen auf das Ganze nicht mehr nötig. Um zu einem Konsens über normative Behauptungen zu kommen, muss angesichts möglicherweise unvereinbarer Willensinhalte der verschiedenen Individuen ein dauerhafte allgemeiner Wille gebildet werden.

Ohne dies hier näher begründen zu wollen, scheint ein gewaltfreier, rein argumentativer Konsens nur dann erreichbar, wenn jeder die Interessen jedes anderen solidarisch so berücksichtigt, als wenn es zugleich seine eigenen wären.

Ziel eines normativen Diskurses wäre demnach die Formulierung eines solidarisch bestimmten Gesamtinteresses bzw. die Bestimmung derjenigen Normen, die eine Maximierung des solidarisch bestimmten Gesamtnutzens bedeuten.

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Das Prinzip der Berücksichtigung von Konsequenzen

Das Prinzip der Berücksichtigung von Konsequenzen ergibt sich im Utilitarismus aus der Bezugnahme auf den Nutzen der Individuen, was eine Berücksichtigung auch des zukünftigen Glücks erfordert.

Gegen das "Prinzip der Folgenberücksichtigung" werden zahlreiche Einwände erhoben. Sie beziehen sich meist auf Situationen, in denen bereits normsetzende Institutionen etabliert sind, wie z. B. Eigentumsrechte, Vertragssysteme, Wahlsysteme, Hierarchien oder gesetzgebenden Körperschaften.

Die Utilitaristen haben keine besonderen Schwierigkeiten damit, die generelle Nützlichkeit der normsetzenden Verfahren bzw. Institutionen zu begründen. Allerdings ergibt sich damit das Problem, dass mit der Existenz legitimierter Verfahren der Normsetzung nun zwei Geltungsquellen für eine Norm nebeneinander existieren.

Zum einen gibt es die formale Legitimation einer Norm (durch Normsetzung einer dazu berechtigten Institution).

Zum andern gibt es die inhaltliche Legitimation einer Norm (durch Berücksichtigung und Bewertung aller Konsequenzen des Handelns).

Nun ist es aber ohne weiteres möglich, dass ein Verfahren der Normsetzung, das generell gegenüber anderen Verfahren gerechtfertigt werden kann, im Einzelfall zu inhaltlich falschen Entscheidungen führt. So entsteht das Dilemma, dass eine Norm verfahrensmäßig richtig gesetzt wurde, jedoch inhaltlich falsch ist.

Der Widerstand gegen das utilitaristische Prinzip der Berücksichtigung der Konsequenzen entsteht nun dadurch, dass es als problematisch empfunden wird, wenn jedes Individuum unter Berufung auf die Folgen einer Entscheidung für das Gesamtinteresse denjenigen Normen die Verbindlichkeit bestreiten kann, die durch ein ansonsten anerkanntes Verfahren gesetzt wurden. Denn bei den sehr komplizierten Sachverhalten, die der Bestimmung des Gesamtinteresses zugrunde liegen, werden die Überzeugungen der Individuen vom Gesamtinteresse notwendigerweise häufig nicht übereinstimmen. Damit wird das Ziel einer sozialen Koordination und Kooperation jedoch gefährdet.

Dies Problem wird in der Rechtsphilosophie gewöhnlich als das Problem der Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit diskutiert und taucht z. B. dann auf, wenn es um ein "Widerstandsrecht" gegen Gesetze oder um einen "zu rechtfertigenden Notstand" geht.

Zum Anfang

Der Regelutilitarismus

In der ethischen Diskussion wurde von verschiedenen Theoretikern versucht, diesem Problem durch die Formulierung eines "Regelutilitarismus" gerecht zu werden.

Ohne auf diese relativ komplizierte Diskussion näher einzugehen, kann man diesen Ansatz dadurch charakterisieren, dass nur die generellen Normen oder Regeln (wozu gewöhnlich auch die normsetzenden Verfahren bzw. Institutionen gerechnet werden) am utilitaristischen Kriterium des Gesamtnutzens gemessen werden, während die einzelnen Handlungen nur an ihrer Vereinbarkeit mit diesen Regeln - und nicht unmittelbar am Kriterium des Gesamtnutzens - gemessen werden sollen.

Durch ein derartiges zweistufiges Kriterium kann man mögliche Konflikte zwischen generellen Normen und einzelnen Handlungen zu Gunsten der generellen Normen auflösen.

Allerdings ist die von den Regelutilitaristen damit angebotene Lösung nicht immer befriedigend. Ein solches Vorgehen kann z. B. bedeuten, dass Widerstand gegen die Entscheidungen eines legitimierten Verfahrens in jedem Fall unzulässig wäre.

Meine eigenen Überlegungen gehen dahin, eine Abwägung zwischen "Rechtssicherheit" und "inhaltlicher Richtigkeit" vom Standpunkt des Gesamtinteresses her vorzunehmen und ansonsten die Konflikte zwischen Normsetzungsverfahren und diskursiver Wahrheitssuche dadurch zu vermindern, dass in das Normsetzungsverfahren selber inhaltliche Korrekturmöglichkeiten eingebaut werden.

 

Literatur:

Bentham, Jeremy:
Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Oxford 1948 (zuerst erschienen 1789)
Bentham, Jeremy: Theory of Legislation. London: Kegan Paul 1904 (zuerst erschienen 1802 auf Französisch)
Mill, John Stuart: Der Utilitarismus. Stuttgart Reclam 1976 (zuerst erschienen 1861)
Warnock, Mary (Hrsg.): Utilitarianism. London 1962



Anhang

Zur Verteidigung des Utilitarismus gegen die Kritik von John Rawls

1.) Gegen das Prinzip der Maximierung des allgemeinen Nutzens bzw. Interesses wird eingewandt, dass es nicht durchführbar sei, weil kein Mensch alle Konsequenzen seines Handelns bis in die fernste Zukunft erkennen und noch dazu bewerten könne.

Es ist zwar richtig, dass unser Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns beschränkt ist, doch hindert uns dies keineswegs daran, das vorhandene Wissen - und sei es auch nur die Kenntnis von Wahrscheinlichkeiten - unserem Handeln zugrunde zu legen. Wir tun dies ständig bei unseren Alltagsentscheidungen, etwa bei der Einteilung des Geldes, das uns zur Verfügung steht. Wir handeln dabei nach bestem Wissen, nicht nach vollkommenem Wissen.

Eine derart grundsätzliche Ablehnung des Prinzips der Folgenberücksichtigung, wie sie Rawls in dem Wikipedia-Artikel zugeschrieben wird (leider ohne Textbeleg), würde das gesamte Gebäude seiner Theorie zum Einsturz bringen, denn für die Entscheidung in der Ausgangsposition ("Urzustand") nimmt Rawls rationale Individuen an, also solche, die ihre Zwecke mit geeigneten Mitteln verfolgen. Ob ein Mittel für einen bestimmten Zweck geeignet ist, ist aber eine Frage nach den Folgen seiner Anwendung. Insofern ist diese Kritik ein Eigentor.

2.) Entsprechendes trifft auf Kritikpunkt 2 zu. Wenn es keinen Grund dafür gibt, dass die bisherigen empirischen Regelmäßigkeiten weiterbestehen werden, dann dürfte ich noch nicht einmal ein Messer nehmen, um mir eine Scheibe Brot abzuschneiden. Von rationaler Entscheidung kann dann keine Rede mehr sein.

3.) Wieso können die Bewertungen im Utilitarismus nur nach den Interessen der heute Lebenden vorgenommen werden? Die Bedürfnisse kommender Generationen (z. B. in Bezug auf die Rodung der Wälder, die Erosion der Böden, die Erwärmung der Atmosphäre, die Erzeugung hochgiftiger Abfälle oder die Zerstörung der Ozonschicht) sind uns doch mit hinreichender Sicherheit bekannt. Deshalb können (und sollten) diese Bedürfnisse bei der Bestimmung dessen, was im allgemeinen Interesse liegt, auch berücksichtigt werden.

4.) Diesen Kritikpunkt (Unmöglichkeit einer Bestimmung von Nutzeneinheiten) fasse ich zusammen mit Kritikpunkt 6.) (Unmöglichkeit einer Abwägung von Interessen verschiedener Personen).

Diese Problematik, die meist unter der Überschrift "Möglichkeit einer interpersonal vergleichbaren Nutzenmessung" abgehandelt wird, ist in der Tat noch nicht befriedigend gelöst. Für die Möglichkeit eines interpersonalen Nutzenvergleichs kann man jedoch gute Argumente anführen.

Festzustellen ist vorweg, dass Rawls' Theorie bei der Bestimmung der vergleichsweise am schlechtesten gestellten sozialen Gruppe das Nutzenniveau einer sozialen Gruppe g1 in der Gesellschaftsordnung x mit dem Nutzenniveau einer sozialen Gruppe g2 in der Gesellschaftsordnung y vergleichen muss. Damit setzt Rawls selber einen ordinalen (rangmäßigen) interpersonalen Nutzenvergleich voraus.

Wenn es uns nicht möglich wäre, das Wohlergehen verschiedener Individuen oder Gruppen zu vergleichen, und wir die Frage nicht beantworten könnten, wem es besser geht, dann hätten Sätze wie die folgenden keinen Sinn: "Man soll Menschen in unverschuldeter Not helfen!" oder "Von dem Erdbeben wurden die Einwohner der Stadt A am stärksten getroffen" oder "Die Hauptlast bei der Sanierung der Staatsfinanzen tragen die ärmeren sozialen Schichten".

Man kann m. E. darüber hinaus die Vorteile, die eine bestimmte Entscheidung für einen selbst mit sich bringt, auch größenmäßig mit den Nachteilen vergleichen, die eine andere Person durch diese Entscheidung erleidet. Dazu muss man sich in den andern hineinversetzen und den Größenvergleich der Vor- und Nachteile auch aus seiner Sicht machen. Leider gibt es dazu kaum empirische Untersuchungen der Sozialpsychologie, doch ich bin relativ optimistisch, dass dabei keine völlig verschiedenen Größenbestimmungen herauskommen werden.

Außerdem ist bei den Nutzenmessungen keinerlei Perfektionismus erforderlich. Die quantitativen Nutzenbestimmungen müssen nur genau genug sein, um die anstehende Entscheidung fällen zu können.

5.) Am Utilitarismus wird bemängelt, dass er keine Gerechtigkeit kenne. In der Tat spielt dieser Begriff im Utilitarismus keine herausragende Rolle. Allerdings ist der Begriff hochgradig unbestimmt und oft scheint mit der Bezeichnung einer Entscheidung als "gerecht" nicht mehr gemeint zu sein, als dass der Sprecher sie für "gerechtfertigt" hält.

Für den Utilitarismus ist Gerechtigkeit im Sinne von "Gleichbehandlung der Individuen" und "Gleichberücksichtigung der Interessen der Individuen" spätestens seit Sidgwick ein fest verankertes Prinzip. Nicht zufällig war es ein Utilitarist (R.M. Hare), der die Universalisierbarkeit ethischer Sätze als erster analysierte. Und bereits Bentham betonte, dass bei der Bestimmung des allgemeinen Interesses jedes Individuum als eines zählte, nicht weniger und nicht mehr. Deshalb waren Utilitaristen wie William Godwin und seine Frau Mary Wollstonecraft Vorkämpfer des allgemeinen gleichen Wahlrechts, als von deutschen Philosophen noch kaum etwas in dieser Richtung zu hören war.

7.) Bemängelt wird, dass der Utilitarismus alle Wünsche bzw. Interessen ohne Unterschied berücksichtigt. Das Beispiel (Tierquäler und Sozialarbeiter) wird den Utilitaristen allerdings nicht gerecht, denn für sie ist Schmerz - auch der von Tieren - das in allererster Linie zu Vermeidende. Tierquälerei ist damit unbedingt schlecht. Im Kampf gegen die Tierversuche standen wiederum Utilitaristen an vorderster Front.


Siehe auch die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
   
Das Werk von J. Bentham ** (40 K)
    Utilitarismus als Begründung der Demokratie ** (31 K)
 

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Ethik-Werkstatt: Ende der Seite "Utilitarismus - Kritik und Neubegründung" / Letzte Bearbeitung 11.06.2011 / Eberhard Wesche

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