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Selbsterkenntnis


Selbsterkenntnis fängt da an, wo wir
den Mut haben, alles, was in uns steckt – also auch das, was uns erstmal als "schlecht", "unmoralisch", "primitiv" oder "minderwertig" erscheint, bewusst zu registrieren und nicht gleich wieder aus unserem Bewusstsein verdrängen.

Der Jugendliche, der sich aus seiner Kindheit verabschiedet und anfängt, sich selbst zu beobachten und zu beurteilen, merkt, dass er in vielem gar nicht dem entspricht, was ihm in seiner Erziehung als Ideal vermittelt wurde:

Er stellt etwa fest, dass er manchmal neidisch und missgünstig ist, dass er manchmal unehrlich und angeberisch ist, dass "primitive" körperliche Reize und Lustgefühle in ihm oft übermächtig sind, dass sein Gesicht oder sein Körper nicht den vorherrschenden Schönheitsidealen entspricht, dass schier unüberwindliche Hemmungen und Ängste ihn fesseln, dass er auf manchen Gebieten nicht so leistungsfähig und erfolgreich ist, wie er dachte, oder dass Hassgefühle und aggressive Impulse in ihm aufbrechen, vor deren Heftigkeit er selber erschrickt.

In dieser
kritischen Phase der Selbstfindung kommt es darauf an, nicht die Augen vor dem zu verschließen, was sich an Problematischem in uns selbst zeigt, sondern sich bewusst mit diesen Impulsen auseinanderzusetzen: zu verstehen, warum diese Impulse zur Natur des Menschen gehören und zu erkennen, welche Auswirkungen ein Ausleben dieser Impulse für einen selbst und für die anderen hätte.

Wenn dies mit einer
kritischen Prüfung der anerzogenen Ideale, Werte und Normen
einhergeht, dann bestehen gute Bedingungen dafür, dass sich eine Person entwickelt, die sich nicht ständig selber neurotisch im Wege steht und deren Energien sich nicht in inneren Konflikten und Depressionen verbrauchen, sondern die fähig ist zu einer "vernünftigen" Selbststeuerung und zu einer tatkräftigen Gestaltung des eigenen Lebens.

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Es ist "menschlich, allzu menschlich", dass ich "Schwächen" habe, dass ich unbewältigte Erfahrungen mit mir herumtrage, dass ich Bereiche habe, in denen ich mich selber als "Versager" oder als "schlecht" empfinde. Entscheidend ist, wie ich damit umgehe. Die erste Voraussetzung ist nüchterne Selbsterkenntnis: "So bin ich. Das kann ich, das kann ich nicht. Diese akzeptablen und diese problematischen Antriebe und Wünsche stecken in mir drin."  
 
Der erste Schritt zu einer selbstbestimmten integrierten Person ist die Bewusstmachung der eigenen "Schwachstellen". Odysseus wusste, dass er dem lockenden Gesang der Sirenen nicht widerstehen kann. Deshalb hat er sich - in freier Entscheidung - an den Mast fesseln lassen, und er ist den Sirenenklängen nicht erlegen und ist mit seinem Schiff nicht an den Felsen zerschellt.  
 
Wir Menschen haben durch unsere stammesgeschichtliche Herkunft von den Säugetieren eine Erbschaft an elementaren Trieben, unwillkürlichen Reaktionen, Gefühlen, Bedürfnissen in uns, einschließlich der entsprechenden nervlichen und hormonalen Steuerungen, die unser Wollen und Handeln in vielem bestimmen. Das allein macht uns noch nicht unfrei, denn durch diese Anlagen sind wir erst, wer wir sind. Dass ich ein männliches Wesen bin, auf welches der Anblick typisch weiblicher Körperformen eine anziehende Wirkung ausübt, ist mir angeboren und steckt als sexuelle Motivation in mir, ob ich es will oder nicht. Das bin ich selber.  
 
Die Frage ist, wie ich im Einklang mit diesen "animalischen" Bereichen in mir leben kann, wie ich diese Bereiche integrieren kann, ohne meine spezifisch menschliche Fähigkeit zum Nachdenken, zur Vorausschau von Konsequenzen oder zur Kenntnis und Berücksichtigung fremder Wünsche und Interessen deshalb aufzugeben. Anders formuliert: Wie können "vernünftige" Selbststeuerung und angeborene Triebstruktur miteinander vereinbar werden? Denn "Ausleben" der eigenen Impulse ohne zu fragen: "Was folgt daraus für mich und für die andern?" führt zu Handlungen, die ich später bereue oder die andere mir zu Recht vorwerfen - mit allen dazugehörigen sozialen Folgen.

Das wäre dann auch nicht das, was ich will.


 

 

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Letzte Bearbeitung 14.02.2006 / Eberhard Wesche

 

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