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Konsens durch Vertrag
und
Konsens durch Argumentation
- Eine Gegenüberstellung -
Was unterscheidet eine
vertragliche Einigung
von
einer
argumentativen Einigung?
Der eine Mensch kann etwas wollen, das der andere Mensch nicht will. Die
Erfüllung des Willens beider Individuen (oder Gruppen) kann unmöglich sein. Ihre
Interessen sind inkompatibel.
Um einen bestehenden Interessenkonflikt ohne Kampf beizulegen und zu einer Einigung der
Konfliktparteien zu gelangen, gibt es vor allem zwei Möglichkeiten. Die eine
Möglichkeit ist die vertragliche Einigung (der vertragliche Konsens), das andere
ist die argumentative Einigung (der argumentative Konsens).
In beiden Fällen sprechen die Konfliktparteien miteinander. Insofern ist eine von allen Beteiligten verstehbare Sprache Voraussetzung.
Allerdings gibt es zwischen beiden Arten der Einigung wichtige
Unterschiede. Diese Unterschiede sollen im Folgenden aufgezeigt
werden. Wegen der besseren Übersichtlichkeit werden die Merkmale des
argumentativen Konsens rot geschrieben.
***
1.
Beim Vertragsansatz
entsteht die Pflicht eines Individuums, bestimmte Handlungen zu tun oder zu
unterlassen, aus einem bestimmten Verfahren, dem Versprechen, und zwar in Form
des gegenseitigen Versprechens zwischen bestimmten Personen, was man als "Vertrag" bezeichnen kann.
Hauptbedingung für das Zustandekommen eines Vertrages ist die Freiwilligkeit des
Vertragsabschlusses. Das heißt, die Verpflichtung einer Person entsteht durch
Selbstverpflichtung. Eine erzwungene Selbstverpflichtung ist ein Widerspruch in
sich selbst.
Argumentation:
Beim Argumentationsansatz ergibt sich die Pflicht eines Individuums, bestimmte
Handlungen zu tun oder zu unterlassen, aus dem Willen zur Unterordnung unter
das, was alle gemeinsam wollen können, um die gewaltsame Durchsetzung der
individuellen Interessen und den dadurch entstehenden Kampf und Krieg zu
vermeiden.
Was alle gemeinsam (am ehesten) wollen können, muss durch Einigung auf dem Wege
der Argumentation ermittelt werden.
***
Vertrag:
Verträge werden ausgehandelt,
Argumentation:
Übereinstimmende Meinungen werden ausdiskutiert.
***
Vertrag:
Zum vollständigen Inhalt eines Vertrages gehört nicht nur das, was vereinbart
wurde, sondern auch die Unterschrift der Vertragsparteien. Es spielt
nicht nur eine Rolle, welche Normen gesetzt wurden, sondern auch, wer der Autor
dieser Setzungen ist. Dies ist schon deshalb nötig, um zu prüfen, ob die
normsetzenden Individuen ihre Befugnisse überschritten haben, indem sie nicht
nur sich selbst verpflichteten sondern auch Dritte.
Argumentation:
Dagegen kann man bei den Resultaten eines argumentativen Konsens die beteiligten
Diskussionspartner vernachlässigen. Wenn etwas inhaltlich richtig ist, bedarf es
keines besonderen Autors. Inhaltliche Richtigkeit ist unabhängig von dem, der
diese behauptet, sie ergibt sich nicht aus der Autorität dessen, der sie
behauptet.
***
Vertrag:
Zu einer vertraglichen Einigung kommt es nur, wenn das ausgehandelte Ergebnis
von allen beteiligten Parteien für besser gehalten wird ist als die Fortsetzung des Status quo ohne Vertrag.
(Pareto-Prinzip mit Status-quo-Klausel)
Argumentation:
Zu einer argumentativen Einigung kommt es nur, wenn das
Ergebnis allen beteiligten Parteien als einsichtig begründet erscheint, also auf
intersubjektiv
nachvollziehbaren Argumenten beruht.
***
Vertrag:
Bei einer Einigung durch Verhandlung und Vertrag sind mehrere Resultate möglich, die für alle Parteien
vorteilhaft sind. Deshalb spielt das Verhandlungsgeschick der Teilnehmer eine
Rolle.
Argumentation:
Bei der argumentativen Einigung gibt es nur ein Resultat, auf das sich
alle Parteien am ehesten einigen können (das vom Standpunkt des Gesamtinteresses
her das beste ist), es sei denn, zwei Resultate sind gleichwertig. Allerdings
kann es durch unterschiedliches empirisches Wissen und unterschiedliches
Denkvermögen der Beteiligten zu unterschiedlichen Resultaten kommen.
***
Vertrag:
Die Parteien befinden sich in unterschiedlich günstigen
Verhandlungspositionen, je nachdem, wie gut sie auch ohne den Vertragsabschluss
auskommen können. (Möglichkeit unterschiedlicher Verhandlungsmacht mit Ausübung
von Druck).
Argumentation:
Die Parteien dürfen keinen Druck oder Zwang aufeinander
ausüben und dürfen weder drohen noch locken. (Voraussetzung der freien
Argumentation).
***
Vertrag:
Die Parteien, die sich in einer vergleichsweise starken Verhandlungsposition
befinden, können mit dem Abbruch der Verhandlungen, d. h. mit dem Status quo
drohen.
Argumentation:
Die Drohung mit dem Ausstieg aus der Diskussion ist
unvereinbar mit dem Willen zum Konsens.
***
Vertrag:
Das ausgehandelte Ergebnis gilt nur für die vertragschließenden Parteien. Es
hat keinerlei normative Konsequenzen für Dritte oder für spätere Verträge
zwischen den Parteien.
Argumentation:
Das gefundene Ergebnis gilt für alle Konfliktsituationen, die in Bezug auf
die relevanten Merkmale gleich sind. (Prinzip
der Verallgemeinerbarkeit).
***
Vertrag:
Das ausgehandelte Ergebnis ist abhängig von den Besonderheiten der Parteien.
Argumentation:
Das gefundene Ergebnis ist von den intellektuellen
Fähigkeiten der Diskussionsteilnehmer abhängig. Die Teilnehmer
der Argumentation sind jedoch austauschbar.
***
Vertrag:
Das Verhandlungsergebnis ist abhängig von der wechselseitigen
Einschätzung der Stärke der Verhandlungspositionen. Deshalb kann hier Stärke
vorgetäuscht werden (Bluffen). Es gibt von dorther ein Interesse der Parteien,
ihre tatsächliche Situation vor dem Verhandlungspartner zu verbergen oder ihn
sogar darüber zu täuschen.
Argumentation:
Es besteht die Notwendigkeit, zu einer übereinstimmenden
Einschätzung der Lage aller Parteien zu kommen. Die Parteien dürfen ihre eigene
Lage nicht absichtlich falsch darstellen. Sie sind zur Ehrlichkeit verpflichtet.
***
Vertrag:
Ein förmlich besiegeltes Verhandlungsergebnis ist in der Regel
endgültig und kann nicht oder - nur unter besonderen Bedingungen revidiert
werden.
Argumentation:
Auch ein von allen akzeptiertes Ergebnis kann bei
Auftauchen neuer Argumente jederzeit wieder problematisiert werden.
***
Vertrag:
Durch den Abschluss des Vertrages ändert sich die Interessenlage
der Beteiligten.
Argumentation:
Durch die erzielte Übereinstimmung ändert sich die
Interessenlage der Beteiligten nicht.
***
Vertrag:
Wenn der vertragliche Konsens für die Normenbegründung das grundlegende Prinzip
ist, kann es keine Ethik des Vertrages geben (Pflicht zum Hinweis auf Irrtümer,
Verbot von Lügen oder Vortäuschen falscher Tatsachen, Ausnutzung von mangelnder
Übersicht etc.), denn diese können nicht wiederum durch Vertrag begründet werden
(unendlicher Regress).
Argumentation:
Wenn der argumentative Konsens grundlegendes Prinzip ist,
dann kann gegenüber einem nicht konsenswilligen Individuum nicht mehr
argumentiert werden. Dies ist jedoch auch nicht nötig, weil derjenige, der nicht
den Konsens durch Argumentation sucht, keinen Anspruch auf Gültigkeit oder Richtigkeit
der von ihm vertretenen Position mehr
erheben kann.
***
Vertrag:
Bezugspunkt des Vertragsansatzes ist die
tatsächlich erfolgte vertragliche Übereinkunft bestimmter Individuen. Dies wird
als "vertraglicher Konsens" bezeichnet.
Da die tatsächliche Übereinstimmung zählt, ist das Ergebnis damit fixiert.
Zwei Vertragspartner können jedoch ohne weiteres von widersprüchlichen Annahmen
über die Wirklichkeit ausgehen, so dass einer der Vertragspartner sich irren
muss.
Daraus folgt: Irrtümer sind im Vertragsansatz nicht immer korrigierbar.
Argumentation:
Bezugspunkt des Argumentationsansatzes ist die Möglichkeit einer dauerhaften
Übereinstimmung der normativen Behauptungen beliebiger (und damit aller)
Individuen. Dies wird als "argumentativer Konsens" bezeichnet.
Hier müssen festgestellte Irrtümer sogar korrigiert werden, weil die
Übereinstimmung der Überzeugungen beendet und somit nicht dauerhaft ist , wenn
darin Irrtümer festgestellt werden.
***
Vertrag:
Bei Vertragsverhandlungen findet Argumentation also immer nur in einem sehr
eingeschränkten Maße statt, was man daran sieht, dass die
Argumentationsstrategie eines geschickten Autoverkäufers je nach Kundentyp sehr
verschieden ist, obwohl es sich um das gleiche Auto handelt. Normalerweise
ist ein Vertragspartner nicht verpflichtet, den anderen Vertragspartner auf
Irrtümer aufmerksam zu machen .
Argumentation:
Beim argumentativen Konsens dagegen müssen erkannte Irrtümer ausgeschlossen
werden. Die Verpflichtung hierzu ergibt sich aus dem
vorausgesetzten Willen zum allgemeinen (intersubjektiven) und dauerhaften
(intertemporalen) Konsens. Ein Konsens, der auf erkannten Irrtümern beruht,
kann keinen dauerhaften Bestand haben.
***
Vertrag:
Die Zustimmung zum Vertrag ist zwar freiwillig aber u. U. diktiert von der
Notlage, in der sich eine Partei befindet.
Insofern muss ein vertraglicher Konsens nicht frei von Zwang sein – allerdings
ist dies der "stumme Zwang der Verhältnisse".
Argumentation:
Der "argumentative Konsens" ist von diesem Zwang frei, weil er nicht unter der
Drohung steht, dass der Status quo beibehalten wird. Es gibt die Verpflichtung
zum Konsens und es können alle bestehenden Machtpositionen und
Besitzverhältnisse in Frage gestellt werden.
***
Siehe auch
die folgenden thematisch verwandten Texte in der Ethik-Werkstatt:
Vertrag als Verfahren der Normsetzung ** (40 K)
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Konsens durch Argumentation"
Letzte Bearbeitung 29.12.2005 / Eberhard Wesche
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